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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864.

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Berichte der Missionare und der Holländer.
der japanischen Geschichte, da sich in ihm das neue politische System
aus anarchischen Zuständen und fast gänzlicher Auflösung der alten
Staatsordnung entwickelte, besitzen wir eine ausgedehnte Litteratur
in den Briefen und Berichten, welche die katholischen Missionare
von Jahr zu Jahr an ihre Ordenshäuser in Europa sandten 15). Diese
Nachrichten sind um so wichtiger, weil zu jener Zeit die Fremden
ohne Einschränkung mit allen Classen der Bevölkerung verkehrten;
die Missionare besonders kamen vielfach in intime Berührung mit den
Grossen des Reiches und konnten eine Anschauung von den Zuständen
gewinnen, die unter den jetzigen Verhältnissen unmöglich zu erlangen
ist; ihre Angaben stimmen meistens mit den Nachrichten der Kaiser-
annalen überein 16). Nach dem Jahre 1652 durfte kein Geschichtswerk
mehr veröffentlicht werden, so dass wir für die letzverflossenen
zweihundert Jahre auf die Nachrichten beschränkt sind, welche die
Holländer bei ihren Hofreisen und auf Desima sammelten. Im Ge-
heimen cursiren bei den Japanern Manuscripte, welche die Geschichte
der Neuzeit behandeln; davon sind einige den holländischen Factorei-
beamten in Nangasaki zugänglich geworden. Aber sie erzählen fast
nur Hofgeschichten und Anekdoten, und geben wenig Aufschluss
über die innere Entwickelung des Staates, das einzige Wissenswerthe
aus einer Zeit, in der sich das Reich nach aussen hermetisch

15) Man hat vielfach den Fehler begangen, über diese Periode nicht die Original-
berichte, die eine bändereiche Sammlung bilden, zum Theil selten und schwer zugänglich
sind, sondern die Compilationen späterer Jesuiten zu befragen. Während nun die
Originalberichte grössten Theils Wahrheit athmen, und die Beobachtungen und Er-
lebnisse der Missionare, in fromme Betrachtungen gehüllt, einfach mittheilen, waren die
späteren Jesuiten, welche japanische Kirchengeschichte verfassten, meist tendenziöse
Schriftsteller, denen es viel weniger auf Wahrheit als auf die Verherrlichung der
Kirche und ihres Ordens, theils auch nur auf Glanz und Effect der Darstellung ankam.
Sie haben nicht nur Thatsachen entstellt, sondern auch Wundergeschichten und
dergleichen erfunden, von denen wenigstens in den gedruckten Originalen nichts
steht. -- Die Berichte der Missionare selbst sind von verschiedenem Werth, doch
ist die Kritik hier leichter, als bei den Compilationen. -- Grosse Schätze handschrift-
licher Berichte mögen noch in den Klöstern und Collegien der Jesuiten und anderer
Orden in Italien, Spanien und Portugal vergraben liegen.
16) Dass die Kaiserannalen nicht etwa von den Missionaren benutzt worden sind,
geht aus dem Umstande hervor, dass jenes Werk erst um 1652 erschien, als kein
Geistlicher mehr in Japan lebte, während die meisten Briefe der Missionare gegen
Ende des sechszehnten und in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gedruckt
worden sind. In Europa wurden die Kaiserannalen erst zu Ende des achtzehnten
Jahrhunderts durch Titsingh bekannt.
I. 2

Berichte der Missionare und der Holländer.
der japanischen Geschichte, da sich in ihm das neue politische System
aus anarchischen Zuständen und fast gänzlicher Auflösung der alten
Staatsordnung entwickelte, besitzen wir eine ausgedehnte Litteratur
in den Briefen und Berichten, welche die katholischen Missionare
von Jahr zu Jahr an ihre Ordenshäuser in Europa sandten 15). Diese
Nachrichten sind um so wichtiger, weil zu jener Zeit die Fremden
ohne Einschränkung mit allen Classen der Bevölkerung verkehrten;
die Missionare besonders kamen vielfach in intime Berührung mit den
Grossen des Reiches und konnten eine Anschauung von den Zuständen
gewinnen, die unter den jetzigen Verhältnissen unmöglich zu erlangen
ist; ihre Angaben stimmen meistens mit den Nachrichten der Kaiser-
annalen überein 16). Nach dem Jahre 1652 durfte kein Geschichtswerk
mehr veröffentlicht werden, so dass wir für die letzverflossenen
zweihundert Jahre auf die Nachrichten beschränkt sind, welche die
Holländer bei ihren Hofreisen und auf Desima sammelten. Im Ge-
heimen cursiren bei den Japanern Manuscripte, welche die Geschichte
der Neuzeit behandeln; davon sind einige den holländischen Factorei-
beamten in Naṅgasaki zugänglich geworden. Aber sie erzählen fast
nur Hofgeschichten und Anekdoten, und geben wenig Aufschluss
über die innere Entwickelung des Staates, das einzige Wissenswerthe
aus einer Zeit, in der sich das Reich nach aussen hermetisch

15) Man hat vielfach den Fehler begangen, über diese Periode nicht die Original-
berichte, die eine bändereiche Sammlung bilden, zum Theil selten und schwer zugänglich
sind, sondern die Compilationen späterer Jesuiten zu befragen. Während nun die
Originalberichte grössten Theils Wahrheit athmen, und die Beobachtungen und Er-
lebnisse der Missionare, in fromme Betrachtungen gehüllt, einfach mittheilen, waren die
späteren Jesuiten, welche japanische Kirchengeschichte verfassten, meist tendenziöse
Schriftsteller, denen es viel weniger auf Wahrheit als auf die Verherrlichung der
Kirche und ihres Ordens, theils auch nur auf Glanz und Effect der Darstellung ankam.
Sie haben nicht nur Thatsachen entstellt, sondern auch Wundergeschichten und
dergleichen erfunden, von denen wenigstens in den gedruckten Originalen nichts
steht. — Die Berichte der Missionare selbst sind von verschiedenem Werth, doch
ist die Kritik hier leichter, als bei den Compilationen. — Grosse Schätze handschrift-
licher Berichte mögen noch in den Klöstern und Collegien der Jesuiten und anderer
Orden in Italien, Spanien und Portugal vergraben liegen.
16) Dass die Kaiserannalen nicht etwa von den Missionaren benutzt worden sind,
geht aus dem Umstande hervor, dass jenes Werk erst um 1652 erschien, als kein
Geistlicher mehr in Japan lebte, während die meisten Briefe der Missionare gegen
Ende des sechszehnten und in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gedruckt
worden sind. In Europa wurden die Kaiserannalen erst zu Ende des achtzehnten
Jahrhunderts durch Titsingh bekannt.
I. 2
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[17/0047] Berichte der Missionare und der Holländer. der japanischen Geschichte, da sich in ihm das neue politische System aus anarchischen Zuständen und fast gänzlicher Auflösung der alten Staatsordnung entwickelte, besitzen wir eine ausgedehnte Litteratur in den Briefen und Berichten, welche die katholischen Missionare von Jahr zu Jahr an ihre Ordenshäuser in Europa sandten 15). Diese Nachrichten sind um so wichtiger, weil zu jener Zeit die Fremden ohne Einschränkung mit allen Classen der Bevölkerung verkehrten; die Missionare besonders kamen vielfach in intime Berührung mit den Grossen des Reiches und konnten eine Anschauung von den Zuständen gewinnen, die unter den jetzigen Verhältnissen unmöglich zu erlangen ist; ihre Angaben stimmen meistens mit den Nachrichten der Kaiser- annalen überein 16). Nach dem Jahre 1652 durfte kein Geschichtswerk mehr veröffentlicht werden, so dass wir für die letzverflossenen zweihundert Jahre auf die Nachrichten beschränkt sind, welche die Holländer bei ihren Hofreisen und auf Desima sammelten. Im Ge- heimen cursiren bei den Japanern Manuscripte, welche die Geschichte der Neuzeit behandeln; davon sind einige den holländischen Factorei- beamten in Naṅgasaki zugänglich geworden. Aber sie erzählen fast nur Hofgeschichten und Anekdoten, und geben wenig Aufschluss über die innere Entwickelung des Staates, das einzige Wissenswerthe aus einer Zeit, in der sich das Reich nach aussen hermetisch 15) Man hat vielfach den Fehler begangen, über diese Periode nicht die Original- berichte, die eine bändereiche Sammlung bilden, zum Theil selten und schwer zugänglich sind, sondern die Compilationen späterer Jesuiten zu befragen. Während nun die Originalberichte grössten Theils Wahrheit athmen, und die Beobachtungen und Er- lebnisse der Missionare, in fromme Betrachtungen gehüllt, einfach mittheilen, waren die späteren Jesuiten, welche japanische Kirchengeschichte verfassten, meist tendenziöse Schriftsteller, denen es viel weniger auf Wahrheit als auf die Verherrlichung der Kirche und ihres Ordens, theils auch nur auf Glanz und Effect der Darstellung ankam. Sie haben nicht nur Thatsachen entstellt, sondern auch Wundergeschichten und dergleichen erfunden, von denen wenigstens in den gedruckten Originalen nichts steht. — Die Berichte der Missionare selbst sind von verschiedenem Werth, doch ist die Kritik hier leichter, als bei den Compilationen. — Grosse Schätze handschrift- licher Berichte mögen noch in den Klöstern und Collegien der Jesuiten und anderer Orden in Italien, Spanien und Portugal vergraben liegen. 16) Dass die Kaiserannalen nicht etwa von den Missionaren benutzt worden sind, geht aus dem Umstande hervor, dass jenes Werk erst um 1652 erschien, als kein Geistlicher mehr in Japan lebte, während die meisten Briefe der Missionare gegen Ende des sechszehnten und in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts gedruckt worden sind. In Europa wurden die Kaiserannalen erst zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts durch Titsingh bekannt. I. 2

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien01_1864/47>, abgerufen am 27.04.2024.