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[Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864.

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Mythologie.
der Stammvater der fünf irdischen Göttergeschlechter. Seine nach-
geborenen Brüder sind der Mond, dann ein Genius des Meeres,
und Sosan, ein Geist der Unruhe und Bewegung, des Ungewitters,
der Stürme. Dieser giebt zuerst Anlass zu Unfrieden und Streit,
muss sich aber schliesslich vor der Sonnengottheit beugen und
steigt zur Erde, d. h. nach Japan hinab. Er tritt dort in Verkehr
mit den Menschen -- sie scheinen mit den Pflanzen und Thieren
für selbstverständliche Erzeugnisse des Bodens zu gelten -- befreit
eine Jungfrau von einem Drachen und zeugt mit ihr einen Sohn.
Seine Nachkommen, die irdischen Kami's, Halbgötter und Heroen
wollen den von Ten-zio-dai-sin entsprossenen Gottheiten wieder-
holt die Herrschaft über die Erde streitig machen, werden aber
besiegt. Jene treten in den folgenden Generationen noch wieder-
holt mit den Heroengeschlechtern in Verbindung und freien deren
Töchter. Die sehr phantastische Sagengeschichte dieser Phase spielt
im Himmel, im Meere, auf den japanischen Inseln; zum Theil sind
Naturphänomene darin symbolisirt 11), zum Theil die Entstehung
bestimmter Oertlichkeiten mit Ereignissen der Götterwelt in Ver-
bindung gebracht, die allmäliche Urbarmachung des Landes unter
dem Bilde der Ausrottung von Ungeheuern und bösen Dämonen
versinnlicht. Alle diese Mythen stehen in der speciellsten Beziehung
zu den physischen Eigenthümlichkeiten der japanischen Inseln und
Meere
; sie gründen sich gewiss zum Theil auf wirkliche Ereig-
nisse und verherrlichen im Gewande der Sage die grossen Thaten
und Eigenschaften der frühesten Gründer japanischer Cultur. Die
Gewohnheit jeden bedeutenden Mann, der sich um das Land Ver-
dienste erwarb, unter die Götter zu versetzen, ist dem Volke eigen-
thümlich und hat sich bis in späte Zeiten erhalten. Die Mikado's
treten von selbst durch Geburtsrecht in die Reihe der Kami's, aber
auch andere Sterbliche, die sich durch Grossthaten irgend einer
Art berühmt gemacht, werden nach ihrem Tode feierlich kanoni-
sirt und erhalten besondere Ehrentitel und Tempel, wo man sie
verehrt.

Unmittelbar an das Heroenalter schliesst sich nach der Auf-
fassung der Japaner ihre Geschichte. Dsin-Mu, der Stammvater
des Mikado-Geschlechtes, wird ein Sohn des vierten Nachkommen
von Ten-zio-dai-sin genannt, stammt also in grader Linie von

11) Z. B. Ebbe und Fluth.

Mythologie.
der Stammvater der fünf irdischen Göttergeschlechter. Seine nach-
geborenen Brüder sind der Mond, dann ein Genius des Meeres,
und Sosan, ein Geist der Unruhe und Bewegung, des Ungewitters,
der Stürme. Dieser giebt zuerst Anlass zu Unfrieden und Streit,
muss sich aber schliesslich vor der Sonnengottheit beugen und
steigt zur Erde, d. h. nach Japan hinab. Er tritt dort in Verkehr
mit den Menschen — sie scheinen mit den Pflanzen und Thieren
für selbstverständliche Erzeugnisse des Bodens zu gelten — befreit
eine Jungfrau von einem Drachen und zeugt mit ihr einen Sohn.
Seine Nachkommen, die irdischen Kami’s, Halbgötter und Heroen
wollen den von Ten-zio-daï-sin entsprossenen Gottheiten wieder-
holt die Herrschaft über die Erde streitig machen, werden aber
besiegt. Jene treten in den folgenden Generationen noch wieder-
holt mit den Heroengeschlechtern in Verbindung und freien deren
Töchter. Die sehr phantastische Sagengeschichte dieser Phase spielt
im Himmel, im Meere, auf den japanischen Inseln; zum Theil sind
Naturphänomene darin symbolisirt 11), zum Theil die Entstehung
bestimmter Oertlichkeiten mit Ereignissen der Götterwelt in Ver-
bindung gebracht, die allmäliche Urbarmachung des Landes unter
dem Bilde der Ausrottung von Ungeheuern und bösen Dämonen
versinnlicht. Alle diese Mythen stehen in der speciellsten Beziehung
zu den physischen Eigenthümlichkeiten der japanischen Inseln und
Meere
; sie gründen sich gewiss zum Theil auf wirkliche Ereig-
nisse und verherrlichen im Gewande der Sage die grossen Thaten
und Eigenschaften der frühesten Gründer japanischer Cultur. Die
Gewohnheit jeden bedeutenden Mann, der sich um das Land Ver-
dienste erwarb, unter die Götter zu versetzen, ist dem Volke eigen-
thümlich und hat sich bis in späte Zeiten erhalten. Die Mikado’s
treten von selbst durch Geburtsrecht in die Reihe der Kami’s, aber
auch andere Sterbliche, die sich durch Grossthaten irgend einer
Art berühmt gemacht, werden nach ihrem Tode feierlich kanoni-
sirt und erhalten besondere Ehrentitel und Tempel, wo man sie
verehrt.

Unmittelbar an das Heroenalter schliesst sich nach der Auf-
fassung der Japaner ihre Geschichte. Dsin-Mu, der Stammvater
des Mikado-Geschlechtes, wird ein Sohn des vierten Nachkommen
von Ten-zio-daï-sin genannt, stammt also in grader Linie von

11) Z. B. Ebbe und Fluth.
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[14/0044] Mythologie. der Stammvater der fünf irdischen Göttergeschlechter. Seine nach- geborenen Brüder sind der Mond, dann ein Genius des Meeres, und Sosan, ein Geist der Unruhe und Bewegung, des Ungewitters, der Stürme. Dieser giebt zuerst Anlass zu Unfrieden und Streit, muss sich aber schliesslich vor der Sonnengottheit beugen und steigt zur Erde, d. h. nach Japan hinab. Er tritt dort in Verkehr mit den Menschen — sie scheinen mit den Pflanzen und Thieren für selbstverständliche Erzeugnisse des Bodens zu gelten — befreit eine Jungfrau von einem Drachen und zeugt mit ihr einen Sohn. Seine Nachkommen, die irdischen Kami’s, Halbgötter und Heroen wollen den von Ten-zio-daï-sin entsprossenen Gottheiten wieder- holt die Herrschaft über die Erde streitig machen, werden aber besiegt. Jene treten in den folgenden Generationen noch wieder- holt mit den Heroengeschlechtern in Verbindung und freien deren Töchter. Die sehr phantastische Sagengeschichte dieser Phase spielt im Himmel, im Meere, auf den japanischen Inseln; zum Theil sind Naturphänomene darin symbolisirt 11), zum Theil die Entstehung bestimmter Oertlichkeiten mit Ereignissen der Götterwelt in Ver- bindung gebracht, die allmäliche Urbarmachung des Landes unter dem Bilde der Ausrottung von Ungeheuern und bösen Dämonen versinnlicht. Alle diese Mythen stehen in der speciellsten Beziehung zu den physischen Eigenthümlichkeiten der japanischen Inseln und Meere; sie gründen sich gewiss zum Theil auf wirkliche Ereig- nisse und verherrlichen im Gewande der Sage die grossen Thaten und Eigenschaften der frühesten Gründer japanischer Cultur. Die Gewohnheit jeden bedeutenden Mann, der sich um das Land Ver- dienste erwarb, unter die Götter zu versetzen, ist dem Volke eigen- thümlich und hat sich bis in späte Zeiten erhalten. Die Mikado’s treten von selbst durch Geburtsrecht in die Reihe der Kami’s, aber auch andere Sterbliche, die sich durch Grossthaten irgend einer Art berühmt gemacht, werden nach ihrem Tode feierlich kanoni- sirt und erhalten besondere Ehrentitel und Tempel, wo man sie verehrt. Unmittelbar an das Heroenalter schliesst sich nach der Auf- fassung der Japaner ihre Geschichte. Dsin-Mu, der Stammvater des Mikado-Geschlechtes, wird ein Sohn des vierten Nachkommen von Ten-zio-daï-sin genannt, stammt also in grader Linie von 11) Z. B. Ebbe und Fluth.

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Zitationshilfe: [Berg, Albert]: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Bd. 1. Berlin, 1864, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien01_1864/44>, abgerufen am 26.04.2024.