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Becher, Johann Joachim: Psychosophia Oder Seelen-Weißheit. 2. Aufl. Frankfurt (Main), [1683].

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Psychosophia.
sed quam feliciter vivat, nec tantum cum necesse est-
e vita decedit, sed cum primum ille coeperit esse su-
specta fortuna, emittit se, cum morbus nervos con-
vellit, membra concutit, tunc exiliamus ex hoc aedi-
ficio putrido & ruenti, & molesti nobis esse desina-
mus.
Das ist/ Epictete, wir seyn ermüdet mit
Tranck und Speise zu reichen unserm Leibe und nicht
mit schlaffen. Es seynd einige die an demselbigen eine
Tyranney verüben/ laß es zu/ daß wir ihnen zeigen
wie sie gantz kein Macht über uns haben. Uns be-
liebet/ uns beliebet auß der Welt zu geben. Wo du
wirst hie sehen/ da ist des Ubels ein Ende. Du siehest
jenen Baum/ an dem hänget die Freyheit/ du siehest
den Fluß/ du siehest den Brunn/ in dessen Grunde
sitzet die Freyheit/ du schauest deine Kähle/ dein Hertz/
eine jedwedere Ader/ das seynd Außflüchte der
Dienstbarkeit/ wer gelernet hat zu sterben/ der hat
auch gelernet zu dienen. Was hilfft hierzu das
Gefängnuß und die Bewahrung/ du hast eine offene
Thür. Das ist ein Narr/ der wegen der Schmertzen
lebet. Es ist einem Weisen nicht daran gelegen/ wie
lang er lebe/ sondern wie glücklich er lebe. Er gehet
nicht allein auß dem Leben/ wann es nöthig ist/ son-
dern wann ihm erst das Glück beginnet verdächtig
zu werden/ so läßt er sich hinauß/ wann die Kranck-
heit die Sähnen zusammen ziehet und die Glieder
zerstösset. Alsdann laßt uns auß diesem unsaubern
und baufälligen Hause herauß springen/ und
auffhören uns beschwehrlich
zu seyn.

Psych. Wann es unumbgänglich und unver-
meidlich ist/ daß durch eines oder etlicher Tod/

vieler

Pſychoſophia.
ſed quam feliciter vivat, nec tantum cum neceſſe eſt-
è vita decedit, ſed cum primum ille cœperit eſſe ſu-
ſpecta fortuna, emittit ſe, cum morbus nervos con-
vellit, membra concutit, tunc exiliamus ex hoc ædi-
ficio putrido & ruenti, & moleſti nobis eſſe deſina-
mus.
Das iſt/ Epictete, wir ſeyn ermuͤdet mit
Tranck und Speiſe zu reichen unſerm Leibe und nicht
mit ſchlaffen. Es ſeynd einige die an demſelbigen eine
Tyranney veruͤben/ laß es zu/ daß wir ihnen zeigen
wie ſie gantz kein Macht uͤber uns haben. Uns be-
liebet/ uns beliebet auß der Welt zu geben. Wo du
wirſt hie ſehen/ da iſt des Ubels ein Ende. Du ſieheſt
jenen Baum/ an dem haͤnget die Freyheit/ du ſieheſt
den Fluß/ du ſieheſt den Brunn/ in deſſen Grunde
ſitzet die Freyheit/ du ſchaueſt deine Kaͤhle/ dein Hertz/
eine jedwedere Ader/ das ſeynd Außfluͤchte der
Dienſtbarkeit/ wer gelernet hat zu ſterben/ der hat
auch gelernet zu dienen. Was hilfft hierzu das
Gefaͤngnuß und die Bewahrung/ du haſt eine offene
Thuͤr. Das iſt ein Narꝛ/ der wegen der Schmertzen
lebet. Es iſt einem Weiſen nicht daran gelegen/ wie
lang er lebe/ ſondern wie gluͤcklich er lebe. Er gehet
nicht allein auß dem Leben/ wann es noͤthig iſt/ ſon-
dern wann ihm erſt das Gluͤck beginnet verdaͤchtig
zu werden/ ſo laͤßt er ſich hinauß/ wann die Kranck-
heit die Saͤhnen zuſammen ziehet und die Glieder
zerſtoͤſſet. Alsdann laßt uns auß dieſem unſaubern
und baufaͤlligen Hauſe herauß ſpringen/ und
auffhoͤren uns beſchwehrlich
zu ſeyn.

Pſych. Wann es unumbgaͤnglich und unver-
meidlich iſt/ daß durch eines oder etlicher Tod/

vieler
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[272/0330] Pſychoſophia. ſed quam feliciter vivat, nec tantum cum neceſſe eſt- è vita decedit, ſed cum primum ille cœperit eſſe ſu- ſpecta fortuna, emittit ſe, cum morbus nervos con- vellit, membra concutit, tunc exiliamus ex hoc ædi- ficio putrido & ruenti, & moleſti nobis eſſe deſina- mus. Das iſt/ Epictete, wir ſeyn ermuͤdet mit Tranck und Speiſe zu reichen unſerm Leibe und nicht mit ſchlaffen. Es ſeynd einige die an demſelbigen eine Tyranney veruͤben/ laß es zu/ daß wir ihnen zeigen wie ſie gantz kein Macht uͤber uns haben. Uns be- liebet/ uns beliebet auß der Welt zu geben. Wo du wirſt hie ſehen/ da iſt des Ubels ein Ende. Du ſieheſt jenen Baum/ an dem haͤnget die Freyheit/ du ſieheſt den Fluß/ du ſieheſt den Brunn/ in deſſen Grunde ſitzet die Freyheit/ du ſchaueſt deine Kaͤhle/ dein Hertz/ eine jedwedere Ader/ das ſeynd Außfluͤchte der Dienſtbarkeit/ wer gelernet hat zu ſterben/ der hat auch gelernet zu dienen. Was hilfft hierzu das Gefaͤngnuß und die Bewahrung/ du haſt eine offene Thuͤr. Das iſt ein Narꝛ/ der wegen der Schmertzen lebet. Es iſt einem Weiſen nicht daran gelegen/ wie lang er lebe/ ſondern wie gluͤcklich er lebe. Er gehet nicht allein auß dem Leben/ wann es noͤthig iſt/ ſon- dern wann ihm erſt das Gluͤck beginnet verdaͤchtig zu werden/ ſo laͤßt er ſich hinauß/ wann die Kranck- heit die Saͤhnen zuſammen ziehet und die Glieder zerſtoͤſſet. Alsdann laßt uns auß dieſem unſaubern und baufaͤlligen Hauſe herauß ſpringen/ und auffhoͤren uns beſchwehrlich zu ſeyn. Pſych. Wann es unumbgaͤnglich und unver- meidlich iſt/ daß durch eines oder etlicher Tod/ vieler

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Zitationshilfe: Becher, Johann Joachim: Psychosophia Oder Seelen-Weißheit. 2. Aufl. Frankfurt (Main), [1683], S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/becher_psychosophia_1683/330>, abgerufen am 08.05.2024.