Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_691.001 pba_691.010 1 pba_691.030
Auch hiervon hat die Poetik des Aristoteles gehandelt, wie uns ein von dem pba_691.031 Excerptor aus jener Erörterung herausgegriffenes Wörtchen verrät. Es ist von der pba_691.032 Wirkung der Musik die Rede gewesen, deren Erörterung der musikalischen Theorie pba_691.033 zugewiesen wird (Melos tes mousikes estin idion; othen ap' ekeines tas autoteleis pba_691.034 aphormas deese lambanein); sodann heißt es von der opsis, der Scenerie, der pba_691.035 Aristoteles für die Tragödie mindere Bedeutung beilegt -- die Tragödie müsse ihre pba_691.036 Wirkung auch gelesen thun --, daß sie für diese dramatischen Nachahmungen, also pba_691.037 für die Komödie, "einen großen Vorteil zu Gunsten der Uebereinstimmung, des pba_691.038 ,Zusammenklanges' des Ganzen gewähre". E opsis megalen khreian tois dramasi pba_691.039 ten sumphonian parekhei. Für den metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks sumphonia pba_691.040 in solchem Sinn bei Aristoteles vgl. u. a. Pol. 1334b 10. pba_691.001 pba_691.010 1 pba_691.030
Auch hiervon hat die Poetik des Aristoteles gehandelt, wie uns ein von dem pba_691.031 Excerptor aus jener Erörterung herausgegriffenes Wörtchen verrät. Es ist von der pba_691.032 Wirkung der Musik die Rede gewesen, deren Erörterung der musikalischen Theorie pba_691.033 zugewiesen wird (Μέλος τῆς μουσικῆς ἔστιν ἴδιον· ὄθεν ἀπ' ἐκείνης τὰς αὐτοτελεῖς pba_691.034 ἀφορμὰς δεήσῃ λαμβάνειν); sodann heißt es von der οψις, der Scenerie, der pba_691.035 Aristoteles für die Tragödie mindere Bedeutung beilegt — die Tragödie müsse ihre pba_691.036 Wirkung auch gelesen thun —, daß sie für diese dramatischen Nachahmungen, also pba_691.037 für die Komödie, „einen großen Vorteil zu Gunsten der Uebereinstimmung, des pba_691.038 ‚Zusammenklanges‘ des Ganzen gewähre“. Ἡ ὄψις μεγάλην χρείαν τοῖς δράμασι pba_691.039 τὴν συμφωνίαν παρέχει. Für den metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks συμφωνία pba_691.040 in solchem Sinn bei Aristoteles vgl. u. a. 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An diesem Grundfehler krankt <lb n="pba_691.005"/> die phantastische Komödie <hi rendition="#g">Tiecks</hi> und <hi rendition="#g">Platens,</hi> die trotz vieler guter <lb n="pba_691.006"/> Einfälle und ungeachtet der Virtuosität, mit der vielfach die Darstellungsmittel <lb n="pba_691.007"/> gehandhabt sind, nur mäßig erfreut und die ganze Reihe der <lb n="pba_691.008"/> Verstimmungen erregt, die durch die Skala des <hi rendition="#g">Willkürlichen,</hi> bis <lb n="pba_691.009"/> zum Läppischen hin, hervorgebracht wird.</p> <p><lb n="pba_691.010"/> Denn die <hi rendition="#g">Grenzen,</hi> in welche das freie Walten im Reiche der <lb n="pba_691.011"/> Phantasievorstellungen strengstens eingeschlossen ist, sind, da der unerbittliche <lb n="pba_691.012"/> Ernst der Wirklichkeit der Dinge aufgegeben ist, gezogen durch den <lb n="pba_691.013"/> ebenso unerbittlichen Ernst des Großen und Schönen an und für sich. <lb n="pba_691.014"/> Beides vereint, das hohe Bewußtsein von der Würde der in dem dargestellten <lb n="pba_691.015"/> Gegenstand in Betracht kommenden absoluten Jnteressen und <lb n="pba_691.016"/> das Vermögen, die positive Gestalt desselben unmittelbar herzerfreuend, <lb n="pba_691.017"/> d. i. <hi rendition="#g">schön,</hi> vor Augen zu führen, bildet die unverrückbare Basis, auf <lb n="pba_691.018"/> der allein sich erst die Kunst, das Lächerliche als solches nachzuahmen, <lb n="pba_691.019"/> entfalten kann. Denn daß der <hi rendition="#g">Ernst der Gesinnung,</hi> aus dem das <lb n="pba_691.020"/> komische Kunstwerk wie jedes andre Gebilde der echten Kunst hervorgehen, <lb n="pba_691.021"/> und der es in allen seinen Teilen durchströmen muß, <hi rendition="#g">als solcher <lb n="pba_691.022"/> nicht hervortrete,</hi> wodurch die komische Wirkung zerstört werden <lb n="pba_691.023"/> würde, gleichwohl verborgen mit nicht minderer Kraft wirke, <hi rendition="#g">das eben <lb n="pba_691.024"/> wird erreicht durch die vollendete Schönheit der Darstellung,</hi> <lb n="pba_691.025"/> sei es nun, daß dieselbe in der einzelnen Erscheinung des positiv Erfreulichen <lb n="pba_691.026"/> ihre Macht kund gibt, oder daß der höchstvollendete Schmuck <lb n="pba_691.027"/> der Nachahmung den Zauber des Rhythmus, der Musik, ja auch des <lb n="pba_691.028"/> scenischen Apparates zu einer in vollkommenem „Zusammenklange“<note xml:id="pba_691_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_691.030"/> Auch hiervon hat die Poetik des Aristoteles gehandelt, wie uns ein von dem <lb n="pba_691.031"/> Excerptor aus jener Erörterung herausgegriffenes Wörtchen verrät. 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das Bedeutende verlangt und verträgt die Anwendung dieses kräftigsten pba_691.002
Mittels; auf das Kleine übertragen, das seiner nicht bedarf, erregt es pba_691.003
das Mißfallen, das allemal durch das falsche Verhältnis des Mittels pba_691.004
zum Zweck unfehlbar wach gerufen wird. An diesem Grundfehler krankt pba_691.005
die phantastische Komödie Tiecks und Platens, die trotz vieler guter pba_691.006
Einfälle und ungeachtet der Virtuosität, mit der vielfach die Darstellungsmittel pba_691.007
gehandhabt sind, nur mäßig erfreut und die ganze Reihe der pba_691.008
Verstimmungen erregt, die durch die Skala des Willkürlichen, bis pba_691.009
zum Läppischen hin, hervorgebracht wird.
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Denn die Grenzen, in welche das freie Walten im Reiche der pba_691.011
Phantasievorstellungen strengstens eingeschlossen ist, sind, da der unerbittliche pba_691.012
Ernst der Wirklichkeit der Dinge aufgegeben ist, gezogen durch den pba_691.013
ebenso unerbittlichen Ernst des Großen und Schönen an und für sich. pba_691.014
Beides vereint, das hohe Bewußtsein von der Würde der in dem dargestellten pba_691.015
Gegenstand in Betracht kommenden absoluten Jnteressen und pba_691.016
das Vermögen, die positive Gestalt desselben unmittelbar herzerfreuend, pba_691.017
d. i. schön, vor Augen zu führen, bildet die unverrückbare Basis, auf pba_691.018
der allein sich erst die Kunst, das Lächerliche als solches nachzuahmen, pba_691.019
entfalten kann. Denn daß der Ernst der Gesinnung, aus dem das pba_691.020
komische Kunstwerk wie jedes andre Gebilde der echten Kunst hervorgehen, pba_691.021
und der es in allen seinen Teilen durchströmen muß, als solcher pba_691.022
nicht hervortrete, wodurch die komische Wirkung zerstört werden pba_691.023
würde, gleichwohl verborgen mit nicht minderer Kraft wirke, das eben pba_691.024
wird erreicht durch die vollendete Schönheit der Darstellung, pba_691.025
sei es nun, daß dieselbe in der einzelnen Erscheinung des positiv Erfreulichen pba_691.026
ihre Macht kund gibt, oder daß der höchstvollendete Schmuck pba_691.027
der Nachahmung den Zauber des Rhythmus, der Musik, ja auch des pba_691.028
scenischen Apparates zu einer in vollkommenem „Zusammenklange“ 1 verschmelzenden pba_691.029
Gesamtwirkung vereinigt. Um zu zeigen, wie die „Sym-
1 pba_691.030
Auch hiervon hat die Poetik des Aristoteles gehandelt, wie uns ein von dem pba_691.031
Excerptor aus jener Erörterung herausgegriffenes Wörtchen verrät. Es ist von der pba_691.032
Wirkung der Musik die Rede gewesen, deren Erörterung der musikalischen Theorie pba_691.033
zugewiesen wird (Μέλος τῆς μουσικῆς ἔστιν ἴδιον· ὄθεν ἀπ' ἐκείνης τὰς αὐτοτελεῖς pba_691.034
ἀφορμὰς δεήσῃ λαμβάνειν); sodann heißt es von der οψις, der Scenerie, der pba_691.035
Aristoteles für die Tragödie mindere Bedeutung beilegt — die Tragödie müsse ihre pba_691.036
Wirkung auch gelesen thun —, daß sie für diese dramatischen Nachahmungen, also pba_691.037
für die Komödie, „einen großen Vorteil zu Gunsten der Uebereinstimmung, des pba_691.038
‚Zusammenklanges‘ des Ganzen gewähre“. Ἡ ὄψις μεγάλην χρείαν τοῖς δράμασι pba_691.039
τὴν συμφωνίαν παρέχει. Für den metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks συμφωνία pba_691.040
in solchem Sinn bei Aristoteles vgl. u. a. Pol. 1334b 10.
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