Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_626.001
Harmonie und helle, hohe Freudigkeit von Stirn und Auge strahlt, pba_626.002
Apollon. Er nennt sie:

pba_626.003
Der Nacht ergraute Kinder, Weiber, denen nie pba_626.004
Der Götter einer, nie ein Mensch, noch Tier sich eint, pba_626.005
Des Bösen wegen sind sie da; sie hausen drum pba_626.006
Jm bösen Dunkel unten tief im Tartaros, pba_626.007
Der Menschen Abscheu und der Götter im Olymp.

pba_626.008
Und auf den Vorwurf der Erinnyen, daß er dem Muttermörder pba_626.009
Schutz gewährt:

pba_626.010
Mit solchem Blutgreul, Seher du, an deinem Herd pba_626.011
Schändest dein Haus du selbstwilligend, selbstberufend, pba_626.012
Der du die Menschen ehrst wider der Götter Recht, pba_626.013
Der Moiren Macht, der uralten, brichst!
pba_626.014

erwidert er:

pba_626.015
Fort! meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein! pba_626.016
Nein da, wo mörderköpfendes, augauswühlendes pba_626.017
Gericht, wo Mordgemetzel, frevele Fehlgeburt, pba_626.018
Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß, pba_626.019
Wo Aufgespießte jammerlaut, Gesteinigte pba_626.020
Verröchelnd wimmern! Habt ihr nun genug gehört, pba_626.021
Um welche Festlust, dran ihr euch ergötzt, verhaßt pba_626.022
Den Göttern ihr seid?

pba_626.023
Eine neue, aus dem inneren Wesen der Dinge urteilende Rechtsauffassung pba_626.024
tritt der alten, starren, mechanisch nur den Thatbestand erfassenden pba_626.025
Racheübung entgegen. Den Muttermörder heißt Apollon "zur pba_626.026
Reinigung sich herzuwenden zu ihm", während er die Blutthat der Klytämnestra pba_626.027
schonungslos verfolgt: jene wenden umgekehrt ihren ganzen Grimm pba_626.028
auf Orestes und müssen sich von Apollon vorwerfen lassen, daß sie "lau pba_626.029
genug" sind, den Ehebruch und Gattenmord Klytämnestras "nicht zu pba_626.030
strafen" oder doch "sichtlich viel gelassener aufzunehmen". So repräsentieren pba_626.031
die Erinnyen die uralte Naturgewalt des Fluches, der auf pba_626.032
dem vergossenen Blut des Verwandten, Befreundeten ruht, am schwersten pba_626.033
auf dem "niedergeflossenen, unwiederbringbaren Mutterblut".

pba_626.034
Nicht kann Apollon, nicht Athenes heilige Kraft pba_626.035
Dich schützen, daß du nicht von meiner Wut verfolgt pba_626.036
Verkommst, vergissest, wo im Herzen Freude weilt, pba_626.037
Du meine Weide, Blutes leer, ein Schatten bald!
pba_626.038
Lebendig mußt du mich laben, nicht geopfert erst! pba_626.039
Hör unser Bannlied, dich zu fesseln und zu fahn

pba_626.001
Harmonie und helle, hohe Freudigkeit von Stirn und Auge strahlt, pba_626.002
Apollon. Er nennt sie:

pba_626.003
Der Nacht ergraute Kinder, Weiber, denen nie pba_626.004
Der Götter einer, nie ein Mensch, noch Tier sich eint, pba_626.005
Des Bösen wegen sind sie da; sie hausen drum pba_626.006
Jm bösen Dunkel unten tief im Tartaros, pba_626.007
Der Menschen Abscheu und der Götter im Olymp.

pba_626.008
Und auf den Vorwurf der Erinnyen, daß er dem Muttermörder pba_626.009
Schutz gewährt:

pba_626.010
Mit solchem Blutgreul, Seher du, an deinem Herd pba_626.011
Schändest dein Haus du selbstwilligend, selbstberufend, pba_626.012
Der du die Menschen ehrst wider der Götter Recht, pba_626.013
Der Moiren Macht, der uralten, brichst!
pba_626.014

erwidert er:

pba_626.015
Fort! meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein! pba_626.016
Nein da, wo mörderköpfendes, augauswühlendes pba_626.017
Gericht, wo Mordgemetzel, frevele Fehlgeburt, pba_626.018
Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß, pba_626.019
Wo Aufgespießte jammerlaut, Gesteinigte pba_626.020
Verröchelnd wimmern! Habt ihr nun genug gehört, pba_626.021
Um welche Festlust, dran ihr euch ergötzt, verhaßt pba_626.022
Den Göttern ihr seid?

pba_626.023
Eine neue, aus dem inneren Wesen der Dinge urteilende Rechtsauffassung pba_626.024
tritt der alten, starren, mechanisch nur den Thatbestand erfassenden pba_626.025
Racheübung entgegen. Den Muttermörder heißt Apollon „zur pba_626.026
Reinigung sich herzuwenden zu ihm“, während er die Blutthat der Klytämnestra pba_626.027
schonungslos verfolgt: jene wenden umgekehrt ihren ganzen Grimm pba_626.028
auf Orestes und müssen sich von Apollon vorwerfen lassen, daß sie „lau pba_626.029
genug“ sind, den Ehebruch und Gattenmord Klytämnestras „nicht zu pba_626.030
strafen“ oder doch „sichtlich viel gelassener aufzunehmen“. So repräsentieren pba_626.031
die Erinnyen die uralte Naturgewalt des Fluches, der auf pba_626.032
dem vergossenen Blut des Verwandten, Befreundeten ruht, am schwersten pba_626.033
auf dem „niedergeflossenen, unwiederbringbaren Mutterblut“.

pba_626.034
Nicht kann Apollon, nicht Athenes heilige Kraft pba_626.035
Dich schützen, daß du nicht von meiner Wut verfolgt pba_626.036
Verkommst, vergissest, wo im Herzen Freude weilt, pba_626.037
Du meine Weide, Blutes leer, ein Schatten bald!
pba_626.038
Lebendig mußt du mich laben, nicht geopfert erst! pba_626.039
Hör unser Bannlied, dich zu fesseln und zu fahn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0644" n="626"/><lb n="pba_626.001"/>
Harmonie und helle, hohe Freudigkeit von Stirn und Auge strahlt, <lb n="pba_626.002"/>
Apollon. Er nennt sie:</p>
        <lb n="pba_626.003"/>
        <lg>
          <l>Der Nacht ergraute Kinder, Weiber, denen nie</l>
          <lb n="pba_626.004"/>
          <l>Der Götter einer, nie ein Mensch, noch Tier sich eint,</l>
          <lb n="pba_626.005"/>
          <l>Des Bösen wegen sind sie da; sie hausen drum</l>
          <lb n="pba_626.006"/>
          <l>Jm bösen Dunkel unten tief im Tartaros,</l>
          <lb n="pba_626.007"/>
          <l>Der Menschen Abscheu und der Götter im Olymp.</l>
        </lg>
        <p><lb n="pba_626.008"/>
Und auf den Vorwurf der Erinnyen, daß er dem Muttermörder <lb n="pba_626.009"/>
Schutz gewährt:</p>
        <lb n="pba_626.010"/>
        <lg>
          <l>Mit solchem Blutgreul, Seher du, an deinem Herd</l>
          <lb n="pba_626.011"/>
          <l>Schändest dein Haus du selbstwilligend, selbstberufend,</l>
          <lb n="pba_626.012"/>
          <l>  Der du die Menschen ehrst wider der Götter Recht,</l>
          <lb n="pba_626.013"/>
          <l>    Der Moiren Macht, der uralten, brichst!</l>
        </lg>
        <lb n="pba_626.014"/>
        <p>erwidert er:</p>
        <lb n="pba_626.015"/>
        <lg>
          <l>Fort! <hi rendition="#g">meiner</hi> Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein!</l>
          <lb n="pba_626.016"/>
          <l>Nein da, wo mörderköpfendes, augauswühlendes</l>
          <lb n="pba_626.017"/>
          <l>Gericht, wo Mordgemetzel, frevele Fehlgeburt,</l>
          <lb n="pba_626.018"/>
          <l>Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß,</l>
          <lb n="pba_626.019"/>
          <l>Wo Aufgespießte jammerlaut, Gesteinigte</l>
          <lb n="pba_626.020"/>
          <l>Verröchelnd wimmern! Habt ihr nun genug gehört,</l>
          <lb n="pba_626.021"/>
          <l>Um welche Festlust, dran ihr euch ergötzt, verhaßt</l>
          <lb n="pba_626.022"/>
          <l>Den Göttern <hi rendition="#g">ihr</hi> seid?</l>
        </lg>
        <p><lb n="pba_626.023"/>
Eine neue, aus dem inneren Wesen der Dinge urteilende Rechtsauffassung <lb n="pba_626.024"/>
tritt der alten, starren, mechanisch nur den Thatbestand erfassenden <lb n="pba_626.025"/>
Racheübung entgegen. Den Muttermörder heißt Apollon &#x201E;zur <lb n="pba_626.026"/>
Reinigung sich herzuwenden zu ihm&#x201C;, während er die Blutthat der Klytämnestra <lb n="pba_626.027"/>
schonungslos verfolgt: jene wenden umgekehrt ihren ganzen Grimm <lb n="pba_626.028"/>
auf Orestes und müssen sich von Apollon vorwerfen lassen, daß sie &#x201E;lau <lb n="pba_626.029"/>
genug&#x201C; sind, den Ehebruch und Gattenmord Klytämnestras &#x201E;nicht zu <lb n="pba_626.030"/>
strafen&#x201C; oder doch &#x201E;sichtlich viel gelassener aufzunehmen&#x201C;. So repräsentieren <lb n="pba_626.031"/>
die Erinnyen die uralte Naturgewalt des Fluches, der auf <lb n="pba_626.032"/>
dem vergossenen Blut des Verwandten, Befreundeten ruht, am schwersten <lb n="pba_626.033"/>
auf dem &#x201E;niedergeflossenen, unwiederbringbaren Mutterblut&#x201C;.</p>
        <lb n="pba_626.034"/>
        <lg>
          <l>Nicht kann Apollon, nicht Athenes heilige Kraft</l>
          <lb n="pba_626.035"/>
          <l>Dich schützen, daß du nicht von meiner Wut verfolgt</l>
          <lb n="pba_626.036"/>
          <l>Verkommst, vergissest, wo im Herzen Freude weilt,</l>
          <lb n="pba_626.037"/>
          <l>Du meine Weide, Blutes leer, ein Schatten bald! </l>
        </lg>
        <lg>
          <lb n="pba_626.038"/>
          <l>Lebendig mußt du mich laben, nicht geopfert erst!</l>
          <lb n="pba_626.039"/>
          <l>Hör unser Bannlied, dich zu fesseln und zu fahn</l>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[626/0644] pba_626.001 Harmonie und helle, hohe Freudigkeit von Stirn und Auge strahlt, pba_626.002 Apollon. Er nennt sie: pba_626.003 Der Nacht ergraute Kinder, Weiber, denen nie pba_626.004 Der Götter einer, nie ein Mensch, noch Tier sich eint, pba_626.005 Des Bösen wegen sind sie da; sie hausen drum pba_626.006 Jm bösen Dunkel unten tief im Tartaros, pba_626.007 Der Menschen Abscheu und der Götter im Olymp. pba_626.008 Und auf den Vorwurf der Erinnyen, daß er dem Muttermörder pba_626.009 Schutz gewährt: pba_626.010 Mit solchem Blutgreul, Seher du, an deinem Herd pba_626.011 Schändest dein Haus du selbstwilligend, selbstberufend, pba_626.012 Der du die Menschen ehrst wider der Götter Recht, pba_626.013 Der Moiren Macht, der uralten, brichst! pba_626.014 erwidert er: pba_626.015 Fort! meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein! pba_626.016 Nein da, wo mörderköpfendes, augauswühlendes pba_626.017 Gericht, wo Mordgemetzel, frevele Fehlgeburt, pba_626.018 Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß, pba_626.019 Wo Aufgespießte jammerlaut, Gesteinigte pba_626.020 Verröchelnd wimmern! Habt ihr nun genug gehört, pba_626.021 Um welche Festlust, dran ihr euch ergötzt, verhaßt pba_626.022 Den Göttern ihr seid? pba_626.023 Eine neue, aus dem inneren Wesen der Dinge urteilende Rechtsauffassung pba_626.024 tritt der alten, starren, mechanisch nur den Thatbestand erfassenden pba_626.025 Racheübung entgegen. Den Muttermörder heißt Apollon „zur pba_626.026 Reinigung sich herzuwenden zu ihm“, während er die Blutthat der Klytämnestra pba_626.027 schonungslos verfolgt: jene wenden umgekehrt ihren ganzen Grimm pba_626.028 auf Orestes und müssen sich von Apollon vorwerfen lassen, daß sie „lau pba_626.029 genug“ sind, den Ehebruch und Gattenmord Klytämnestras „nicht zu pba_626.030 strafen“ oder doch „sichtlich viel gelassener aufzunehmen“. So repräsentieren pba_626.031 die Erinnyen die uralte Naturgewalt des Fluches, der auf pba_626.032 dem vergossenen Blut des Verwandten, Befreundeten ruht, am schwersten pba_626.033 auf dem „niedergeflossenen, unwiederbringbaren Mutterblut“. pba_626.034 Nicht kann Apollon, nicht Athenes heilige Kraft pba_626.035 Dich schützen, daß du nicht von meiner Wut verfolgt pba_626.036 Verkommst, vergissest, wo im Herzen Freude weilt, pba_626.037 Du meine Weide, Blutes leer, ein Schatten bald! pba_626.038 Lebendig mußt du mich laben, nicht geopfert erst! pba_626.039 Hör unser Bannlied, dich zu fesseln und zu fahn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/644
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 626. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/644>, abgerufen am 23.11.2024.