pba_627.001 Und nun erheben sie ihren "furchtbaren" Gesang, "Verstörung, pba_627.002 Wirrsinn, Wahnsinn bringend, harfenlos, den Sinn zu fah'n, welk zu pba_627.003 dörren Menschenkraft!" Hier gibt es keine Milderung, kein Vergeben, pba_627.004 kein Vergessen: "Ein irrendes Dunkel umnachtet die Schuld der Gehetzten, pba_627.005 Gestürzten, und von dem Schatten, der finster durch sein Geschlecht pba_627.006 hingeht, redet tausendfacher Mund!"
pba_627.007
Denn listenreich sind wir und des Ziels gewiß,pba_627.008 Rächerinnen aller Schuld, furchtbar;pba_627.009 Allunerbittlich jedem Flehn,pba_627.010 Handhabend, verachtet, haßbringendes Amt,pba_627.011 Den Göttern abgewandt, in sonnenlosen Lichtes Dämmrung,pba_627.012 Pfadunerforschlich dem sehenden Augepba_627.013 Und dem blöden Blick zugleich.
pba_627.014 Wo ist ein Mensch, welcher nicht erbangt, erbebt,pba_627.015 Wenn er anhört meines Amtes Satzung,pba_627.016 Von Moira gottbeschieden mir,pba_627.017 Daß ich es völlig erfülle, verhängt!pba_627.018 Das ist mein altes Ehrenamt, und keine Schmach trifft mich,pba_627.019 Hausen wir auch in den Tiefen der Erde,pba_627.020 Und in sonnenleerer Nacht!
pba_627.021 Hier trifft also die sinnvolle, zur Milde geneigte Auffassung der pba_627.022 Gerechtigkeit mit der unerbittlichen Starrheit des alten unentwickelten pba_627.023 Rechtsbewußtseins in hartem Kampf zusammen. Aber auf seine Höhe pba_627.024 gelangt das tragische Schauspiel erst, als durch Athenes Entscheidung pba_627.025 die Sache des Orest den Erinnyen entzogen und den dazu bestellten pba_627.026 Richtern übergeben ist. Von einer ganz andern Seite läßt nun der pba_627.027 tiefsinnige Dichter den Chor der Erinnyen sich zeigen. Trat vorhin pba_627.028 das Übermaß ihres Wesens, das der klärenden Erwägung Unzugängliche pba_627.029 ihres grausen Waltens hervor, so liegt jetzt die Gefahr vor, daß pba_627.030 ihr Walten an seiner Wurzel geschädigt werde, daß mit dem drohenden pba_627.031 Einbruch in ihre von uralters her geheiligte Sphäre ihr Ansehen eine pba_627.032 unheilbare Abschwächung erfahre, daß die Furcht vor ihnen unter den pba_627.033 Menschen dahinsinke. Auch diese Wendung ist nur ein notwendiger pba_627.034 Zug in der Entwickelung der Schauspielhandlung, aber das Schauspiel pba_627.035 tritt ganz in die Sphäre der Tragödie ein, wenn nun der Chor in pba_627.036 wildbewegter Klage den Sturz aller sittlichen Ordnung verkündet und pba_627.037 in überwältigender Hoheit jetzt, da er die Grundfesten seines Rechtes pba_627.038 erschüttert glaubt, dessen wahren, ewig unzerstörbaren Kern zu erkennen pba_627.039 gibt. Schon hier beginnt die große Jdee dieses Dramas hervorzutreten: pba_627.040 zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig der Nemesisempfindung die
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 627. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/645>, abgerufen am 23.11.2024.
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