pba_536.001 Sinne der Reinigung der tragischen Affekte zum regulativen pba_536.002 Princip für die Komposition der Tragödie erhoben pba_536.003 wird.
pba_536.004 So steht es mit der Grundlage der psychologischen Motivierung pba_536.005 in Bernays' Theorie; wie aber war es möglich, daß er und seine Anhänger pba_536.006 über die ungewöhnlich starke Zumutung hinwegkommen konnten, pba_536.007 die sie an das ästhetische Gewissen stellt? Auch hier liegt die Erklärung pba_536.008 in einer, freilich unbewußt geschehenden, Unterschiebung.
pba_536.009 Wie schon oben bemerkt: die Definition des tragischen Kunstwerks pba_536.010 "Entladung durch Sollicitation" krankt an dem Kardinalfehler, daß sie pba_536.011 nicht das geringste Regulativ für die Qualität der zu sollicitierenden pba_536.012 Affekte enthält. Wie verfährt nun aber Bernays? Er pba_536.013 nimmt gleichwohl vorweg in den Beweis für seine Definition der pba_536.014 Katharsis alle die aristotelischen Bestimmungen über die herzustellende pba_536.015 Qualität der Furcht- und Mitleidempfindungen mit pba_536.016 hinein, welche erst als eine Konsequenz der in dieser selben Definition pba_536.017 gestellten Forderung ihrer Katharsis von Aristoteles erhoben werden. pba_536.018 Er thut das, obwohl mit der hier gestellten Forderung des Gleichmaßes pba_536.019 dieser Empfindungen seine eigene Forderung, daß dieselben fortgeschafftpba_536.020 werden sollen, notwendig in Wegfall kommen muß! Denn in pba_536.021 solcher Gestalt will Aristoteles eben diese Pathe einpflanzen (empoiein), pba_536.022 nicht ausstoßen (apokathairein), und wer wollte leugnen, daß diese pba_536.023 Forderung ebenso mit der gesamten aristotelischen Philosophie im vollsten pba_536.024 Einklange steht wie mit der gemeinsamen ästhetischen Anschauung aller pba_536.025 nur einigermaßen erleuchteten Kunstepochen?
pba_536.026 Für Bernays blieb also nichts übrig, als diese, auch für ihn pba_536.027 unentbehrlichen, Qualitätsbestimmungen der Mitleids- und Furchtaffekte pba_536.028 aus der bloßen Verkoppelung herzuleiten, in der sie die pba_536.029 aristotelische Definition aufführt: "Mitleid und Furcht!" Auch erpba_536.030 muß nun eine wechselseitige, berichtigende Einwirkung der pba_536.031 Furcht auf das Mitleid und umgekehrt des Mitleids auf die pba_536.032 Furcht annehmen! "Das Mitleid wird also durch seine Verschwisterungpba_536.033 mit der Furcht vor Singularität bewahrt" (S. 181). pba_536.034 "Andererseits darf die Furcht nie mit so lähmender Gewalt auf den pba_536.035 Zuschauer eindringen, daß sie die zur Teilnahme an einem Andern pba_536.036 nötige Gemütsfreiheit raubt" (ibid.). "Der tragische pba_536.037 Dichter soll das Band, welches die beiden Affekte ihrer Natur nach pba_536.038 innerlich verknüpft, stets straff angezogen halten" (ibid.). Wohl! Aber pba_536.039 was ist damit anders verlangt, als was eben auch Lessing will: eine pba_536.040 reciproke, berichtigend einwirkende Modifikation der einen Empfindung
pba_536.001 Sinne der Reinigung der tragischen Affekte zum regulativen pba_536.002 Princip für die Komposition der Tragödie erhoben pba_536.003 wird.
pba_536.004 So steht es mit der Grundlage der psychologischen Motivierung pba_536.005 in Bernays' Theorie; wie aber war es möglich, daß er und seine Anhänger pba_536.006 über die ungewöhnlich starke Zumutung hinwegkommen konnten, pba_536.007 die sie an das ästhetische Gewissen stellt? Auch hier liegt die Erklärung pba_536.008 in einer, freilich unbewußt geschehenden, Unterschiebung.
pba_536.009 Wie schon oben bemerkt: die Definition des tragischen Kunstwerks pba_536.010 „Entladung durch Sollicitation“ krankt an dem Kardinalfehler, daß sie pba_536.011 nicht das geringste Regulativ für die Qualität der zu sollicitierenden pba_536.012 Affekte enthält. Wie verfährt nun aber Bernays? Er pba_536.013 nimmt gleichwohl vorweg in den Beweis für seine Definition der pba_536.014 Katharsis alle die aristotelischen Bestimmungen über die herzustellende pba_536.015 Qualität der Furcht- und Mitleidempfindungen mit pba_536.016 hinein, welche erst als eine Konsequenz der in dieser selben Definition pba_536.017 gestellten Forderung ihrer Katharsis von Aristoteles erhoben werden. pba_536.018 Er thut das, obwohl mit der hier gestellten Forderung des Gleichmaßes pba_536.019 dieser Empfindungen seine eigene Forderung, daß dieselben fortgeschafftpba_536.020 werden sollen, notwendig in Wegfall kommen muß! Denn in pba_536.021 solcher Gestalt will Aristoteles eben diese Pathe einpflanzen (ἐμποιεῖν), pba_536.022 nicht ausstoßen (ἀποκαθαίρειν), und wer wollte leugnen, daß diese pba_536.023 Forderung ebenso mit der gesamten aristotelischen Philosophie im vollsten pba_536.024 Einklange steht wie mit der gemeinsamen ästhetischen Anschauung aller pba_536.025 nur einigermaßen erleuchteten Kunstepochen?
pba_536.026 Für Bernays blieb also nichts übrig, als diese, auch für ihn pba_536.027 unentbehrlichen, Qualitätsbestimmungen der Mitleids- und Furchtaffekte pba_536.028 aus der bloßen Verkoppelung herzuleiten, in der sie die pba_536.029 aristotelische Definition aufführt: „Mitleid und Furcht!“ Auch erpba_536.030 muß nun eine wechselseitige, berichtigende Einwirkung der pba_536.031 Furcht auf das Mitleid und umgekehrt des Mitleids auf die pba_536.032 Furcht annehmen! „Das Mitleid wird also durch seine Verschwisterungpba_536.033 mit der Furcht vor Singularität bewahrt“ (S. 181). pba_536.034 „Andererseits darf die Furcht nie mit so lähmender Gewalt auf den pba_536.035 Zuschauer eindringen, daß sie die zur Teilnahme an einem Andern pba_536.036 nötige Gemütsfreiheit raubt“ (ibid.). „Der tragische pba_536.037 Dichter soll das Band, welches die beiden Affekte ihrer Natur nach pba_536.038 innerlich verknüpft, stets straff angezogen halten“ (ibid.). Wohl! Aber pba_536.039 was ist damit anders verlangt, als was eben auch Lessing will: eine pba_536.040 reciproke, berichtigend einwirkende Modifikation der einen Empfindung
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So steht es mit der Grundlage der psychologischen Motivierung pba_536.005
in Bernays' Theorie; wie aber war es möglich, daß er und seine Anhänger pba_536.006
über die ungewöhnlich starke Zumutung hinwegkommen konnten, pba_536.007
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Wie schon oben bemerkt: die Definition des tragischen Kunstwerks pba_536.010
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„Andererseits darf die Furcht nie mit so lähmender Gewalt auf den pba_536.035
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/554>, abgerufen am 22.11.2024.
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