Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.
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Der Ausdruck "Beschwichtigung" erscheint insofern als der passendste, als pba_529.037 damit beides zugleich bezeichnet wird: die maßvolle Befriedigung des Affektes, pba_529.038 wodurch ihm Genüge geleistet wird und, was die Hauptsache ist, die dadurch erfolgte pba_529.039 Tilgung desselben, gewissermaßen die "Entsühnung" davon.
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Der Ausdruck „Beschwichtigung“ erscheint insofern als der passendste, als pba_529.037 damit beides zugleich bezeichnet wird: die maßvolle Befriedigung des Affektes, pba_529.038 wodurch ihm Genüge geleistet wird und, was die Hauptsache ist, die dadurch erfolgte pba_529.039 Tilgung desselben, gewissermaßen die „Entsühnung“ davon. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0547" n="529"/><lb n="pba_529.001"/> ihr Beschwerliches geheilt</hi> worden“ (<foreign xml:lang="grc">εἴπερ διὰ τούτων δυνατὸν</foreign> <lb n="pba_529.002"/> <foreign xml:lang="grc"><hi rendition="#g">ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι</hi> τὰ πάθη καὶ ἀποπλήσαντας <hi rendition="#g">ἐνεργὰ</hi></foreign> <lb n="pba_529.003"/> <foreign xml:lang="grc">πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν <hi rendition="#g">τὸ πεπονηκὸς αὐτῶν</hi> θεραπεύσαντας</foreign>). <lb n="pba_529.004"/> Jn diesen Sätzen sind nicht weniger als drei flagrante Proteste gegen <lb n="pba_529.005"/> Bernays' Theorie enthalten: sie verlangen nicht Sollicitation der Affekte, <lb n="pba_529.006"/> sondern ein <hi rendition="#g">festes Maß,</hi> innerhalb dessen das der Seele innewohnende <lb n="pba_529.007"/> Bedürfnis in betreff ihrer „erfüllt“ werde; <hi rendition="#g">mit</hi> dieser Erfüllung sind sie <lb n="pba_529.008"/> keineswegs aus der Seele <hi rendition="#g">fortgeschafft,</hi> „<hi rendition="#g">entladen</hi>“, sondern sie <lb n="pba_529.009"/> werden vielmehr durch sie „<hi rendition="#g">thätig</hi>“ — <foreign xml:lang="grc">ἐνεργά</foreign> — für ihre höchste Bestimmung; <lb n="pba_529.010"/> „geheilt“ wird an ihnen nur das, was <hi rendition="#g">zuvor Beschwerde <lb n="pba_529.011"/> verursachte</hi> — <foreign xml:lang="grc">τὸ πεπονηκός</foreign> —: diese Heilung ist also nicht eine <lb n="pba_529.012"/> Ausstoßung der sollicitierten Affekte aus der Seele, sondern sie ist eine <lb n="pba_529.013"/> <hi rendition="#g">Ausscheidung</hi> dessen, was an den Affekten <hi rendition="#g">über das verlangte <lb n="pba_529.014"/> Maß</hi> hinausging, d. i. eine <hi rendition="#g">Läuterung, Reinigung</hi> derselben.</p> <p><lb n="pba_529.015"/><hi rendition="#aq">d</hi>) Die dritte, umfänglichste Stelle des Proklus (S. 362) hat mit <lb n="pba_529.016"/> der ersten das gemein, daß hier wieder allein der Neuplatoniker sich <lb n="pba_529.017"/> vernehmen läßt, und ein Hinweis auf Aristoteles darin überhaupt nicht <lb n="pba_529.018"/> vorhanden ist außer <hi rendition="#g">indirekt in einem einzigen Worte.</hi> Abermals <lb n="pba_529.019"/> lehrt die Stelle <hi rendition="#g">in allen Punkten</hi> das Gegenteil von Bernays' Behauptungen.</p> <lb n="pba_529.020"/> <p><lb n="pba_529.021"/> Das dreimal darin vorkommende Wort <foreign xml:lang="grc">ἀφοσίωσις</foreign>, welches äußerliche <lb n="pba_529.022"/> „<hi rendition="#g">Abfindung</hi>“ bedeuten soll, bestätige sich, wie Bernays meint, <lb n="pba_529.023"/> „auf die unumstößlichste Weise als eines der hervorragendsten Stichwörter <lb n="pba_529.024"/> in dem aristotelischen Vortrage“. Die Art, wie Proklus hier die <lb n="pba_529.025"/> Sache des Plato führt, ist für die Entscheidung der vorliegenden Frage <lb n="pba_529.026"/> allerdings höchst interessant. Jhm gelten die Affekte, Leidenschaften und <lb n="pba_529.027"/> die Neigung zu denselben — <foreign xml:lang="grc">πάθη, παθητικόν</foreign> — überhaupt als der <lb n="pba_529.028"/> freien Bethätigung der Vernunft hinderlich; nichtsdestoweniger erkennt er <lb n="pba_529.029"/> mit ihrer Existenz auch ihr Recht auf ein gewisses Maß der Bethätigung <lb n="pba_529.030"/> an, innerhalb dessen ihnen Genüge geschehen müßte, eben damit der <lb n="pba_529.031"/> Geist von ihnen befreit den höheren Dingen sich zuwenden könne. Für <lb n="pba_529.032"/> diese — <hi rendition="#g">platonische, der aristotelischen direkt entgegengesetzte</hi> <lb n="pba_529.033"/> — Auffassung der Procedur, die den Affekten gegenüber <lb n="pba_529.034"/> stattzufinden habe, gebraucht Proklus den Ausdruck <foreign xml:lang="grc">ἀφοσίωσις</foreign>,<note xml:id="pba_529_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_529.036"/> Der Ausdruck „<hi rendition="#g">Beschwichtigung</hi>“ erscheint insofern als der passendste, als <lb n="pba_529.037"/> damit beides zugleich bezeichnet wird: die <hi rendition="#g">maßvolle Befriedigung</hi> des Affektes, <lb n="pba_529.038"/> wodurch <hi rendition="#g">ihm Genüge geleistet wird</hi> und, was die Hauptsache ist, die dadurch erfolgte <lb n="pba_529.039"/> <hi rendition="#g">Tilgung</hi> desselben, gewissermaßen die „<hi rendition="#g">Entsühnung</hi>“ davon.</note> der <lb n="pba_529.035"/> von ihm selbst als eine „<hi rendition="#g">maßvolle</hi>“ (<foreign xml:lang="grc">μετρία</foreign>) Beschwichtigung, eine </p> </div> </body> </text> </TEI> [529/0547]
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ihr Beschwerliches geheilt worden“ (εἴπερ διὰ τούτων δυνατὸν pba_529.002
ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ ἀποπλήσαντας ἐνεργὰ pba_529.003
πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν τὸ πεπονηκὸς αὐτῶν θεραπεύσαντας). pba_529.004
Jn diesen Sätzen sind nicht weniger als drei flagrante Proteste gegen pba_529.005
Bernays' Theorie enthalten: sie verlangen nicht Sollicitation der Affekte, pba_529.006
sondern ein festes Maß, innerhalb dessen das der Seele innewohnende pba_529.007
Bedürfnis in betreff ihrer „erfüllt“ werde; mit dieser Erfüllung sind sie pba_529.008
keineswegs aus der Seele fortgeschafft, „entladen“, sondern sie pba_529.009
werden vielmehr durch sie „thätig“ — ἐνεργά — für ihre höchste Bestimmung; pba_529.010
„geheilt“ wird an ihnen nur das, was zuvor Beschwerde pba_529.011
verursachte — τὸ πεπονηκός —: diese Heilung ist also nicht eine pba_529.012
Ausstoßung der sollicitierten Affekte aus der Seele, sondern sie ist eine pba_529.013
Ausscheidung dessen, was an den Affekten über das verlangte pba_529.014
Maß hinausging, d. i. eine Läuterung, Reinigung derselben.
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d) Die dritte, umfänglichste Stelle des Proklus (S. 362) hat mit pba_529.016
der ersten das gemein, daß hier wieder allein der Neuplatoniker sich pba_529.017
vernehmen läßt, und ein Hinweis auf Aristoteles darin überhaupt nicht pba_529.018
vorhanden ist außer indirekt in einem einzigen Worte. Abermals pba_529.019
lehrt die Stelle in allen Punkten das Gegenteil von Bernays' Behauptungen.
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Das dreimal darin vorkommende Wort ἀφοσίωσις, welches äußerliche pba_529.022
„Abfindung“ bedeuten soll, bestätige sich, wie Bernays meint, pba_529.023
„auf die unumstößlichste Weise als eines der hervorragendsten Stichwörter pba_529.024
in dem aristotelischen Vortrage“. Die Art, wie Proklus hier die pba_529.025
Sache des Plato führt, ist für die Entscheidung der vorliegenden Frage pba_529.026
allerdings höchst interessant. Jhm gelten die Affekte, Leidenschaften und pba_529.027
die Neigung zu denselben — πάθη, παθητικόν — überhaupt als der pba_529.028
freien Bethätigung der Vernunft hinderlich; nichtsdestoweniger erkennt er pba_529.029
mit ihrer Existenz auch ihr Recht auf ein gewisses Maß der Bethätigung pba_529.030
an, innerhalb dessen ihnen Genüge geschehen müßte, eben damit der pba_529.031
Geist von ihnen befreit den höheren Dingen sich zuwenden könne. Für pba_529.032
diese — platonische, der aristotelischen direkt entgegengesetzte pba_529.033
— Auffassung der Procedur, die den Affekten gegenüber pba_529.034
stattzufinden habe, gebraucht Proklus den Ausdruck ἀφοσίωσις, 1 der pba_529.035
von ihm selbst als eine „maßvolle“ (μετρία) Beschwichtigung, eine
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Der Ausdruck „Beschwichtigung“ erscheint insofern als der passendste, als pba_529.037
damit beides zugleich bezeichnet wird: die maßvolle Befriedigung des Affektes, pba_529.038
wodurch ihm Genüge geleistet wird und, was die Hauptsache ist, die dadurch erfolgte pba_529.039
Tilgung desselben, gewissermaßen die „Entsühnung“ davon.
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