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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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was oben als die Schwäche von Lessings Mustertragödie, der "Emilia pba_485.002
Galotti
" bezeichnet wurde. Mit bewunderungswürdiger Meisterschaft pba_485.003
ist in dieser auf das feinste angelegten Charaktertragödie alles erfüllt, pba_485.004
was Lessing von dieser Gattung verlangt: ihre Wirkung ist ganz und pba_485.005
gar auf die Erregung des tragischen Mitleids angelegt, von der pba_485.006
Furchtwirkung ist ihr gerade nur so viel zuerteilt, als erforderlich war, pba_485.007
um das reine Mitleid überhaupt zustande kommen zu lassen; dagegen pba_485.008
ist von den Mitteln die tragische Furcht als selbständige Empfindung pba_485.009
hervorzurufen darin kein Gebrauch gemacht, weil pba_485.010
Lessing die Bedeutung der tragischen Furcht nicht erkannte.

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Es ist in dem Stück erstlich die tragische Hamartie der pba_485.012
Heldin viel zu schwach;
daher fehlt ihrem Geschick die Allgemeinheit, pba_485.013
welche die Vorstellung desselben furchtbar macht; zweitens: wenn schon pba_485.014
die Art, wie sie rein äußerlich, durch eine zufällige Unterlassung, Anteil pba_485.015
an dem sie betreffenden Unglück erhält, nur mitleiderweckend, nicht furchterregend pba_485.016
sein kann, so gilt dies noch mehr von ihrem freiwillig gewählten pba_485.017
Tode, der nicht durch die Gewalt der Umstände herbeigeführt, sondern pba_485.018
durch seltene Besonderheit ihres Charakters motiviert wird. Endlich ist pba_485.019
die Tragödie unvollständig, weil sie sich begnügt, das mitleidswerte pba_485.020
Opfer der Handlung vorzuführen ohne die andere, die furchtbare, Seite pba_485.021
des hier thätigen Geschickes zu zeigen: das Gemüt wird durch schmerzliche pba_485.022
Rührung erweicht, ohne durch die Vorstellung der Schicksalsübergewalt pba_485.023
erschüttert, auf sich selbst geführt und zu der Höhe lebhafter und pba_485.024
zugleich harmonisch in sich beruhigter, allseitig thätiger Schicksalsempfindung pba_485.025
erhoben zu werden. Eben jedoch, weil dieser dritte Mangel pba_485.026
aus dem zweiten notwendig, gewissermaßen organisch, sich entwickeln pba_485.027
muß, weil die unzureichend motivierte Katastrophe der Heldin auch die pba_485.028
Wendung der Gesamthandlung zu einem furchtbaren Abschluß entbehrlich pba_485.029
machen muß, deshalb fehlt der Lessingschen Tragödie, die uns pba_485.030
zur überwältigenden Sympathie hinzureißen vermag, mit der tragischen pba_485.031
Größe
ein unentbehrliches Attribut ihrer Gattung.

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Lessing hat die Hamartie seiner Heldin so fein angelegt und so pba_485.033
äußerst schwach betont, daß es einer sehr genauen Prüfung des Stückes pba_485.034
bedarf, damit sie überhaupt mit Sicherheit erkannt werde; dieser Umstand pba_485.035
ist es ohne Zweifel, der die Kritik auf die Vermutung brachte, pba_485.036
Lessing habe sich die Handlungsweise seiner Emilia als von einer in pba_485.037
ihrem Herzen aufkeimenden Leidenschaft für den Prinzen bestimmt gedacht, pba_485.038
deren sie sich zwar nicht bewußt, von deren dunkler Gewalt aber pba_485.039
jene sonst schwer zu erklärende Furcht ausgehe, die sie in den Tod pba_485.040
treibt. Das Stück bietet für diese willkürliche Konjektur keinerlei An-

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was oben als die Schwäche von Lessings Mustertragödie, der „Emilia pba_485.002
Galotti
“ bezeichnet wurde. Mit bewunderungswürdiger Meisterschaft pba_485.003
ist in dieser auf das feinste angelegten Charaktertragödie alles erfüllt, pba_485.004
was Lessing von dieser Gattung verlangt: ihre Wirkung ist ganz und pba_485.005
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Furchtwirkung ist ihr gerade nur so viel zuerteilt, als erforderlich war, pba_485.007
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hervorzurufen darin kein Gebrauch gemacht, weil pba_485.010
Lessing die Bedeutung der tragischen Furcht nicht erkannte.

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Es ist in dem Stück erstlich die tragische Hamartie der pba_485.012
Heldin viel zu schwach;
daher fehlt ihrem Geschick die Allgemeinheit, pba_485.013
welche die Vorstellung desselben furchtbar macht; zweitens: wenn schon pba_485.014
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sein kann, so gilt dies noch mehr von ihrem freiwillig gewählten pba_485.017
Tode, der nicht durch die Gewalt der Umstände herbeigeführt, sondern pba_485.018
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die Tragödie unvollständig, weil sie sich begnügt, das mitleidswerte pba_485.020
Opfer der Handlung vorzuführen ohne die andere, die furchtbare, Seite pba_485.021
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Rührung erweicht, ohne durch die Vorstellung der Schicksalsübergewalt pba_485.023
erschüttert, auf sich selbst geführt und zu der Höhe lebhafter und pba_485.024
zugleich harmonisch in sich beruhigter, allseitig thätiger Schicksalsempfindung pba_485.025
erhoben zu werden. Eben jedoch, weil dieser dritte Mangel pba_485.026
aus dem zweiten notwendig, gewissermaßen organisch, sich entwickeln pba_485.027
muß, weil die unzureichend motivierte Katastrophe der Heldin auch die pba_485.028
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machen muß, deshalb fehlt der Lessingschen Tragödie, die uns pba_485.030
zur überwältigenden Sympathie hinzureißen vermag, mit der tragischen pba_485.031
Größe
ein unentbehrliches Attribut ihrer Gattung.

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Lessing hat die Hamartie seiner Heldin so fein angelegt und so pba_485.033
äußerst schwach betont, daß es einer sehr genauen Prüfung des Stückes pba_485.034
bedarf, damit sie überhaupt mit Sicherheit erkannt werde; dieser Umstand pba_485.035
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/503>, abgerufen am 22.11.2024.