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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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zerschmetterten, aber in seinem stolzen Starrsinn ungebeugten Fürsten pba_481.002
vererbt. Daher gewinnt der Fluch ihres Hauses auch Gewalt über sie, pba_481.003
aber nicht ohne daß in der Schlußkatastrophe der großen Labdakidentragödie pba_481.004
ihr Untergang über alle in die Schuld derselben Verwickelten pba_481.005
die rächende Vergeltung verhängt. Das Mitleiderregende ist, daß die pba_481.006
Unschuldige das unselige, aus Unglück und Frevel gewobene, Jammergeschick pba_481.007
ihres Geschlechtes büßen muß -- patroon d' ektineis tin' athlon pba_481.008
klagt der Chor mit ihr --; das Furchterweckende ist die Hamartie, durch pba_481.009
welche die Hohe, Reine irretretend in den geöffneten Schlund des Unheils pba_481.010
hinabstürzt.

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Seltsam ist es, daß die Stelle, wo der Dichter diese doppelte Auffassung pba_481.012
in klaren Worten den Chor hat aussprechen lassen, von den pba_481.013
Kommentatoren und Übersetzern verwischt und verdorben ist. Es sind die pba_481.014
Verse des Wechselgesanges zwischen Antigone und dem Chore (853-856):

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prosepeses, o teknon, polu. pba_481.018
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Donner übersetzt in Übereinstimmung mit der geltenden philologischen pba_481.020
Tradition:

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"Vorschreitend bis zu des Trotzes Ziel, pba_481.022
Stießest du an Dikes hohen Thron pba_481.023
Gewaltig an, verwegenes Kind! pba_481.024
Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen."
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Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen pba_481.026
teilen, daß dabei das polu sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen; pba_481.027
zudem ist aber auch die Verbindung prosepeses es upselon Dikas bathron sprachlich pba_481.028
schwer, wenn nicht unmöglich glaubhaft zu machen. Die Grundbedeutung von prospiptein pba_481.029
"herabfallen", genauer "davor, daneben niederfallen" widerstrebt dem pba_481.030
Bilde, daß dieser "Fall" "auf" den "hohen" Standort (eigentlich bathron = pba_481.031
"Fußgestell" einer Statue) der Dike stattfinden sollte, so sehr, daß selbst die übertragene pba_481.032
Bedeutung des Verbums im Sinne von "anfallen", "gegenstoßen" nicht statthaft pba_481.033
sein dürfte. Was aber die Hauptsache ist und die Gesamtauffassung der ganzen pba_481.034
Tragödie angeht, ist dieses: es entstellt den Sinn der Handlung völlig, die Vergehung pba_481.035
der Antigone gegen das fürstliche Gebot, wobei sie sich in Übereinstimmung mit allen pba_481.036
göttlichen und menschlichen Gesetzen befindet, als einen "gewaltigen Anstoß" gegen pba_481.037
Dikes "hohen Thron" aufzufassen, ebenso ist die Bezeichnung des eskhaton thrasous = pba_481.038
"des äußersten Trotzes" oder "der äußersten Verwegenheit" für diese Vergehung pba_481.039
unzutreffend. Dagegen ergibt sich die einfachste, durchweg aufs beste passende Wortverbindung pba_481.040
und zugleich der schönste Sinn, wenn man das upselon es Dikas bathron pba_481.041
appositionell oder zeugmatisch zu dem ep' eskhaton thrasous hinzunimmt, sodann

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zerschmetterten, aber in seinem stolzen Starrsinn ungebeugten Fürsten pba_481.002
vererbt. Daher gewinnt der Fluch ihres Hauses auch Gewalt über sie, pba_481.003
aber nicht ohne daß in der Schlußkatastrophe der großen Labdakidentragödie pba_481.004
ihr Untergang über alle in die Schuld derselben Verwickelten pba_481.005
die rächende Vergeltung verhängt. Das Mitleiderregende ist, daß die pba_481.006
Unschuldige das unselige, aus Unglück und Frevel gewobene, Jammergeschick pba_481.007
ihres Geschlechtes büßen muß — πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον pba_481.008
klagt der Chor mit ihr —; das Furchterweckende ist die Hamartie, durch pba_481.009
welche die Hohe, Reine irretretend in den geöffneten Schlund des Unheils pba_481.010
hinabstürzt.

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Seltsam ist es, daß die Stelle, wo der Dichter diese doppelte Auffassung pba_481.012
in klaren Worten den Chor hat aussprechen lassen, von den pba_481.013
Kommentatoren und Übersetzern verwischt und verdorben ist. Es sind die pba_481.014
Verse des Wechselgesanges zwischen Antigone und dem Chore (853–856):

pba_481.015
προβᾶσ' ἐπ' ἔσχατον θράσους pba_481.016
ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον pba_481.017
προςέπεσες, ὦ τέκνον, πολύ. pba_481.018
πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον.

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Donner übersetzt in Übereinstimmung mit der geltenden philologischen pba_481.020
Tradition:

pba_481.021
„Vorschreitend bis zu des Trotzes Ziel, pba_481.022
Stießest du an Dikes hohen Thron pba_481.023
Gewaltig an, verwegenes Kind! pba_481.024
Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen.“
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1 pba_481.025
Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen pba_481.026
teilen, daß dabei das πολύ sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen; pba_481.027
zudem ist aber auch die Verbindung προςέπεσες ἐς ὑψηλὸν Δίκας βάθρον sprachlich pba_481.028
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„herabfallen“, genauer „davor, daneben niederfallen“ widerstrebt dem pba_481.030
Bilde, daß dieser „Fall“ „auf“ den „hohenStandort (eigentlich βάθρον = pba_481.031
Fußgestell“ einer Statue) der Dike stattfinden sollte, so sehr, daß selbst die übertragene pba_481.032
Bedeutung des Verbums im Sinne von „anfallen“, „gegenstoßen“ nicht statthaft pba_481.033
sein dürfte. Was aber die Hauptsache ist und die Gesamtauffassung der ganzen pba_481.034
Tragödie angeht, ist dieses: es entstellt den Sinn der Handlung völlig, die Vergehung pba_481.035
der Antigone gegen das fürstliche Gebot, wobei sie sich in Übereinstimmung mit allen pba_481.036
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Dikes „hohen Thron“ aufzufassen, ebenso ist die Bezeichnung des ἔσχατον θράσους = pba_481.038
„des äußersten Trotzes“ oder „der äußersten Verwegenheit“ für diese Vergehung pba_481.039
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[481/0499] pba_481.001 zerschmetterten, aber in seinem stolzen Starrsinn ungebeugten Fürsten pba_481.002 vererbt. Daher gewinnt der Fluch ihres Hauses auch Gewalt über sie, pba_481.003 aber nicht ohne daß in der Schlußkatastrophe der großen Labdakidentragödie pba_481.004 ihr Untergang über alle in die Schuld derselben Verwickelten pba_481.005 die rächende Vergeltung verhängt. Das Mitleiderregende ist, daß die pba_481.006 Unschuldige das unselige, aus Unglück und Frevel gewobene, Jammergeschick pba_481.007 ihres Geschlechtes büßen muß — πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον pba_481.008 klagt der Chor mit ihr —; das Furchterweckende ist die Hamartie, durch pba_481.009 welche die Hohe, Reine irretretend in den geöffneten Schlund des Unheils pba_481.010 hinabstürzt. pba_481.011 Seltsam ist es, daß die Stelle, wo der Dichter diese doppelte Auffassung pba_481.012 in klaren Worten den Chor hat aussprechen lassen, von den pba_481.013 Kommentatoren und Übersetzern verwischt und verdorben ist. Es sind die pba_481.014 Verse des Wechselgesanges zwischen Antigone und dem Chore (853–856): pba_481.015 προβᾶσ' ἐπ' ἔσχατον θράσους pba_481.016 ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον pba_481.017 προςέπεσες, ὦ τέκνον, πολύ. pba_481.018 πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον. pba_481.019 Donner übersetzt in Übereinstimmung mit der geltenden philologischen pba_481.020 Tradition: pba_481.021 „Vorschreitend bis zu des Trotzes Ziel, pba_481.022 Stießest du an Dikes hohen Thron pba_481.023 Gewaltig an, verwegenes Kind! pba_481.024 Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen.“ 1 1 pba_481.025 Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen pba_481.026 teilen, daß dabei das πολύ sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen; pba_481.027 zudem ist aber auch die Verbindung προςέπεσες ἐς ὑψηλὸν Δίκας βάθρον sprachlich pba_481.028 schwer, wenn nicht unmöglich glaubhaft zu machen. Die Grundbedeutung von προςπίπτειν pba_481.029 „herabfallen“, genauer „davor, daneben niederfallen“ widerstrebt dem pba_481.030 Bilde, daß dieser „Fall“ „auf“ den „hohen“ Standort (eigentlich βάθρον = pba_481.031 „Fußgestell“ einer Statue) der Dike stattfinden sollte, so sehr, daß selbst die übertragene pba_481.032 Bedeutung des Verbums im Sinne von „anfallen“, „gegenstoßen“ nicht statthaft pba_481.033 sein dürfte. Was aber die Hauptsache ist und die Gesamtauffassung der ganzen pba_481.034 Tragödie angeht, ist dieses: es entstellt den Sinn der Handlung völlig, die Vergehung pba_481.035 der Antigone gegen das fürstliche Gebot, wobei sie sich in Übereinstimmung mit allen pba_481.036 göttlichen und menschlichen Gesetzen befindet, als einen „gewaltigen Anstoß“ gegen pba_481.037 Dikes „hohen Thron“ aufzufassen, ebenso ist die Bezeichnung des ἔσχατον θράσους = pba_481.038 „des äußersten Trotzes“ oder „der äußersten Verwegenheit“ für diese Vergehung pba_481.039 unzutreffend. Dagegen ergibt sich die einfachste, durchweg aufs beste passende Wortverbindung pba_481.040 und zugleich der schönste Sinn, wenn man das ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον pba_481.041 appositionell oder zeugmatisch zu dem ἐπ' ἔσχατον θράσους hinzunimmt, sodann

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/499>, abgerufen am 22.11.2024.