Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_481.001 pba_481.011 probas' ep' eskhaton thrasous pba_481.016 upselon es Dikas bathron pba_481.017 prosepeses, o teknon, polu. pba_481.018 patroon d' ektineis tin' athlon. pba_481.019 "Vorschreitend bis zu des Trotzes Ziel, pba_481.022 1Stießest du an Dikes hohen Thron pba_481.023 Gewaltig an, verwegenes Kind! pba_481.024 Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen." 1 pba_481.025
Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen pba_481.026 teilen, daß dabei das polu sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen; pba_481.027 zudem ist aber auch die Verbindung prosepeses es upselon Dikas bathron sprachlich pba_481.028 schwer, wenn nicht unmöglich glaubhaft zu machen. Die Grundbedeutung von prospiptein pba_481.029 "herabfallen", genauer "davor, daneben niederfallen" widerstrebt dem pba_481.030 Bilde, daß dieser "Fall" "auf" den "hohen" Standort (eigentlich bathron = pba_481.031 "Fußgestell" einer Statue) der Dike stattfinden sollte, so sehr, daß selbst die übertragene pba_481.032 Bedeutung des Verbums im Sinne von "anfallen", "gegenstoßen" nicht statthaft pba_481.033 sein dürfte. Was aber die Hauptsache ist und die Gesamtauffassung der ganzen pba_481.034 Tragödie angeht, ist dieses: es entstellt den Sinn der Handlung völlig, die Vergehung pba_481.035 der Antigone gegen das fürstliche Gebot, wobei sie sich in Übereinstimmung mit allen pba_481.036 göttlichen und menschlichen Gesetzen befindet, als einen "gewaltigen Anstoß" gegen pba_481.037 Dikes "hohen Thron" aufzufassen, ebenso ist die Bezeichnung des eskhaton thrasous = pba_481.038 "des äußersten Trotzes" oder "der äußersten Verwegenheit" für diese Vergehung pba_481.039 unzutreffend. Dagegen ergibt sich die einfachste, durchweg aufs beste passende Wortverbindung pba_481.040 und zugleich der schönste Sinn, wenn man das upselon es Dikas bathron pba_481.041 appositionell oder zeugmatisch zu dem ep' eskhaton thrasous hinzunimmt, sodann pba_481.001 pba_481.011 προβᾶσ' ἐπ' ἔσχατον θράσους pba_481.016 ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον pba_481.017 προςέπεσες, ὦ τέκνον, πολύ. pba_481.018 πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον. pba_481.019 „Vorschreitend bis zu des Trotzes Ziel, pba_481.022 1Stießest du an Dikes hohen Thron pba_481.023 Gewaltig an, verwegenes Kind! pba_481.024 Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen.“ 1 pba_481.025
Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen pba_481.026 teilen, daß dabei das πολύ sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen; pba_481.027 zudem ist aber auch die Verbindung προςέπεσες ἐς ὑψηλὸν Δίκας βάθρον sprachlich pba_481.028 schwer, wenn nicht unmöglich glaubhaft zu machen. Die Grundbedeutung von προςπίπτειν pba_481.029 „herabfallen“, genauer „davor, daneben niederfallen“ widerstrebt dem pba_481.030 Bilde, daß dieser „Fall“ „auf“ den „hohen“ Standort (eigentlich βάθρον = pba_481.031 „Fußgestell“ einer Statue) der Dike stattfinden sollte, so sehr, daß selbst die übertragene pba_481.032 Bedeutung des Verbums im Sinne von „anfallen“, „gegenstoßen“ nicht statthaft pba_481.033 sein dürfte. Was aber die Hauptsache ist und die Gesamtauffassung der ganzen pba_481.034 Tragödie angeht, ist dieses: es entstellt den Sinn der Handlung völlig, die Vergehung pba_481.035 der Antigone gegen das fürstliche Gebot, wobei sie sich in Übereinstimmung mit allen pba_481.036 göttlichen und menschlichen Gesetzen befindet, als einen „gewaltigen Anstoß“ gegen pba_481.037 Dikes „hohen Thron“ aufzufassen, ebenso ist die Bezeichnung des ἔσχατον θράσους = pba_481.038 „des äußersten Trotzes“ oder „der äußersten Verwegenheit“ für diese Vergehung pba_481.039 unzutreffend. Dagegen ergibt sich die einfachste, durchweg aufs beste passende Wortverbindung pba_481.040 und zugleich der schönste Sinn, wenn man das ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον pba_481.041 appositionell oder zeugmatisch zu dem ἐπ' ἔσχατον θράσους hinzunimmt, sodann <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0499" n="481"/><lb n="pba_481.001"/> zerschmetterten, aber in seinem stolzen Starrsinn ungebeugten Fürsten <lb n="pba_481.002"/> vererbt. Daher gewinnt der Fluch ihres Hauses auch Gewalt über sie, <lb n="pba_481.003"/> aber nicht ohne daß in der Schlußkatastrophe der großen Labdakidentragödie <lb n="pba_481.004"/> ihr Untergang über alle in die Schuld derselben Verwickelten <lb n="pba_481.005"/> die rächende Vergeltung verhängt. Das Mitleiderregende ist, daß die <lb n="pba_481.006"/> Unschuldige das unselige, aus Unglück und Frevel gewobene, Jammergeschick <lb n="pba_481.007"/> ihres Geschlechtes büßen muß — <foreign xml:lang="grc">πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον</foreign> <lb n="pba_481.008"/> klagt der Chor mit ihr —; das Furchterweckende ist die Hamartie, durch <lb n="pba_481.009"/> welche die Hohe, Reine irretretend in den geöffneten Schlund des Unheils <lb n="pba_481.010"/> hinabstürzt.</p> <p><lb n="pba_481.011"/> Seltsam ist es, daß die Stelle, wo der Dichter diese doppelte Auffassung <lb n="pba_481.012"/> in klaren Worten den Chor hat aussprechen lassen, von den <lb n="pba_481.013"/> Kommentatoren und Übersetzern verwischt und verdorben ist. Es sind die <lb n="pba_481.014"/> Verse des Wechselgesanges zwischen Antigone und dem Chore (853–856):</p> <lb n="pba_481.015"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq"> <foreign xml:lang="grc">προβᾶσ' ἐπ' ἔσχατον θράσους</foreign> </hi> </l> <lb n="pba_481.016"/> <l> <hi rendition="#aq"> <foreign xml:lang="grc">ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον</foreign> </hi> </l> <lb n="pba_481.017"/> <l><hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc">προςέπεσες, ὦ τέκνον, πολύ</foreign></hi>.</l> <lb n="pba_481.018"/> <l><hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc">πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον</foreign></hi>.</l> </lg> <p><lb n="pba_481.019"/><hi rendition="#g">Donner</hi> übersetzt in Übereinstimmung mit der geltenden philologischen <lb n="pba_481.020"/> Tradition:</p> <lb n="pba_481.021"/> <lg> <l>„Vorschreitend bis zu des <hi rendition="#g">Trotzes</hi> Ziel,</l> <lb n="pba_481.022"/> <l><hi rendition="#g">Stießest</hi> du an Dikes hohen Thron</l> <lb n="pba_481.023"/> <l><hi rendition="#g">Gewaltig</hi> an, verwegenes Kind!</l> <lb n="pba_481.024"/> <l>Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen.“</l> </lg> <note xml:id="pba_481_1a" n="1" place="foot" next="#pba_481_1b"><lb n="pba_481.025"/> Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen <lb n="pba_481.026"/> teilen, daß dabei das <foreign xml:lang="grc">πολύ</foreign> sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen; <lb n="pba_481.027"/> zudem ist aber auch die Verbindung <foreign xml:lang="grc">προςέπεσες ἐς ὑψηλὸν Δίκας βάθρον</foreign> sprachlich <lb n="pba_481.028"/> schwer, wenn nicht unmöglich glaubhaft zu machen. 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zerschmetterten, aber in seinem stolzen Starrsinn ungebeugten Fürsten pba_481.002
vererbt. Daher gewinnt der Fluch ihres Hauses auch Gewalt über sie, pba_481.003
aber nicht ohne daß in der Schlußkatastrophe der großen Labdakidentragödie pba_481.004
ihr Untergang über alle in die Schuld derselben Verwickelten pba_481.005
die rächende Vergeltung verhängt. Das Mitleiderregende ist, daß die pba_481.006
Unschuldige das unselige, aus Unglück und Frevel gewobene, Jammergeschick pba_481.007
ihres Geschlechtes büßen muß — πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον pba_481.008
klagt der Chor mit ihr —; das Furchterweckende ist die Hamartie, durch pba_481.009
welche die Hohe, Reine irretretend in den geöffneten Schlund des Unheils pba_481.010
hinabstürzt.
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Seltsam ist es, daß die Stelle, wo der Dichter diese doppelte Auffassung pba_481.012
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Kommentatoren und Übersetzern verwischt und verdorben ist. Es sind die pba_481.014
Verse des Wechselgesanges zwischen Antigone und dem Chore (853–856):
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προβᾶσ' ἐπ' ἔσχατον θράσους pba_481.016
ὑψηλὸν ἐς Δίκας βάθρον pba_481.017
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πατρῷον δ' ἐκτίνεις τιν' ἆθλον.
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Donner übersetzt in Übereinstimmung mit der geltenden philologischen pba_481.020
Tradition:
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„Vorschreitend bis zu des Trotzes Ziel, pba_481.022
Stießest du an Dikes hohen Thron pba_481.023
Gewaltig an, verwegenes Kind! pba_481.024
Du kämpfst wohl aus den Kampf der Ahnen.“
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1 pba_481.025
Mit Recht bemerken Schneidewin und Nauck, die diese Auffassung im Übrigen pba_481.026
teilen, daß dabei das πολύ sinnlos wird, und wollen es durch Konjektur beseitigen; pba_481.027
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schwer, wenn nicht unmöglich glaubhaft zu machen. Die Grundbedeutung von προςπίπτειν pba_481.029
„herabfallen“, genauer „davor, daneben niederfallen“ widerstrebt dem pba_481.030
Bilde, daß dieser „Fall“ „auf“ den „hohen“ Standort (eigentlich βάθρον = pba_481.031
„Fußgestell“ einer Statue) der Dike stattfinden sollte, so sehr, daß selbst die übertragene pba_481.032
Bedeutung des Verbums im Sinne von „anfallen“, „gegenstoßen“ nicht statthaft pba_481.033
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Tragödie angeht, ist dieses: es entstellt den Sinn der Handlung völlig, die Vergehung pba_481.035
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göttlichen und menschlichen Gesetzen befindet, als einen „gewaltigen Anstoß“ gegen pba_481.037
Dikes „hohen Thron“ aufzufassen, ebenso ist die Bezeichnung des ἔσχατον θράσους = pba_481.038
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appositionell oder zeugmatisch zu dem ἐπ' ἔσχατον θράσους hinzunimmt, sodann
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Zitationshilfe: | Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/499>, abgerufen am 27.07.2024. |