Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_475.001 Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst pba_475.002 Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand, pba_475.003 Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir, pba_475.004 Der noch des Lebens Keime nicht vom Vater noch pba_475.005 Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war? pba_475.006 toiauta mentoi kautos eiseben kaka, pba_475.008 theon agonton. ois ego oude ten patros pba_475.009 psukhen an oipai zosan anteipein emoi. pba_475.010 "Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein pba_475.011 Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst, pba_475.012 Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht." pba_475.013 su d' eis ekeina, me ta nun, aposkopei, pba_475.016 patroa kai metroa pemath' apathes; pba_475.017 k\an keina leusses, oid' ego, gnosei kakou pba_475.018 thumou teleuten, os kake prosgignetai. pba_475.019 "Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid, pba_475.020 Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest; pba_475.021 Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar, pba_475.022 Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt." pba_475.023 ai de toiaitai phuseis pba_475.039
autais dikaios eisin algistai pherein. pba_475.040 "Solcher Art Naturen sind pba_475.041 Sich selbst mit Recht unleidlich und die herbste Qual." pba_475.001 Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst pba_475.002 Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand, pba_475.003 Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir, pba_475.004 Der noch des Lebens Keime nicht vom Vater noch pba_475.005 Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war? pba_475.006 τοιαῦτα μέντοι καὐτὸς εἰςέβην κακά, pba_475.008 θεῶν ἀγόντων. οἷς ἐγὼ οὐδὲ τὴν πατρὸς pba_475.009 ψυχὴν ἄν οἶπαι ζὡσαν ἀντειπεῖν ἐμοί. pba_475.010 „Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein pba_475.011 Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst, pba_475.012 Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht.“ pba_475.013 σὺ δ' εἰς ἐκεῖνα, μὴ τὰ νῦν, ἀποσκόπει, pba_475.016 πατρῷα καὶ μητρῷα πήμαθ' ἄπαθες· pba_475.017 κ\̓αν κεῖνα λεύσσῃς, οἶδ' ἐγώ, γνώσει κακοῦ pba_475.018 θυμοῦ τελευτὴν, ὡς κακὴ προσγίγνεται. pba_475.019 „Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid, pba_475.020 Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest; pba_475.021 Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar, pba_475.022 Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt.“ pba_475.023 αἱ δὲ τοιαῖται φύσεις pba_475.039
αὑταῖς δικαίως εἰσὶν ἄλγισται φέρειν. pba_475.040 „Solcher Art Naturen sind pba_475.041 Sich selbst mit Recht unleidlich und die herbste Qual.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0493" n="475"/> <lb n="pba_475.001"/> <lg> <l>Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst</l> <lb n="pba_475.002"/> <l>Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand,</l> <lb n="pba_475.003"/> <l>Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir,</l> <lb n="pba_475.004"/> <l>Der noch des Lebens Keime nicht vom Vater noch</l> <lb n="pba_475.005"/> <l>Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war?</l> </lg> <p><lb n="pba_475.006"/> Ebenso heißt es weiter in der Gegenrede des Ödipus (v. 997 ff.):</p> <lb n="pba_475.007"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc">τοιαῦτα μέντοι καὐτὸς εἰςέβην κακά</foreign>,</hi> </l> <lb n="pba_475.008"/> <l> <hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc">θεῶν ἀγόντων</foreign>. <foreign xml:lang="grc">οἷς ἐγὼ οὐδὲ τὴν πατρὸς</foreign></hi> </l> <lb n="pba_475.009"/> <l><hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc">ψυχὴν ἄν οἶπαι ζὡσαν ἀντειπεῖν ἐμοί</foreign></hi>.</l> <lb n="pba_475.010"/> <l>„Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein</l> <lb n="pba_475.011"/> <l>Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst,</l> <lb n="pba_475.012"/> <l>Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht.“</l> </lg> <p><lb n="pba_475.013"/> Dagegen nun aber die Worte der <hi rendition="#g">Antigone,</hi> mit denen sie den <lb n="pba_475.014"/> tiefgekränkten Vater bewegen will dem Polyneikes zu verzeihen (v. 1195 ff.):</p> <lb n="pba_475.015"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc">σὺ δ' εἰς ἐκεῖνα, μὴ τὰ νῦν, ἀποσκόπει</foreign>,</hi> </l> <lb n="pba_475.016"/> <l> <hi rendition="#aq"> <foreign xml:lang="grc">πατρῷα καὶ μητρῷα πήμαθ' ἄπαθες·</foreign> </hi> </l> <lb n="pba_475.017"/> <l> <hi rendition="#aq"> <foreign xml:lang="grc"> <hi rendition="#g">κ\̓αν κεῖνα λεύσσῃς, οἶδ' ἐγώ, γνώσει κακοῦ</hi> </foreign> </hi> </l> <lb n="pba_475.018"/> <l> <hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc"><hi rendition="#g">θυμοῦ τελευτὴν, ὡς κακὴ προσγίγνεται</hi></foreign>.</hi> </l> <lb n="pba_475.019"/> <l>„Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid,</l> <lb n="pba_475.020"/> <l>Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest;</l> <lb n="pba_475.021"/> <l> <hi rendition="#g">Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar,</hi> </l> <lb n="pba_475.022"/> <l><hi rendition="#g">Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt</hi>.“</l> </lg> <p><lb n="pba_475.023"/> Auch hier ist die deutsche Übersetzung (Donner) wieder unzulänglich, <lb n="pba_475.024"/> aber freilich schwer zu verbessern. „<hi rendition="#g">Schlimmer Zorn</hi>“ gibt in Anwendung <lb n="pba_475.025"/> auf die Geschichte des Laïos keinen Sinn; das griechische <lb n="pba_475.026"/> <foreign xml:lang="grc">κακὸς θυμός</foreign>, wofür kurz zuvor <foreign xml:lang="grc">θυμὸς ὀξύς</foreign> gesagt ist, bezeichnet <lb n="pba_475.027"/> das <hi rendition="#g">Verhängnisvolle</hi> des „<hi rendition="#g">raschen Sinnes</hi>“, „<hi rendition="#g">vorschnell entschlossener, <lb n="pba_475.028"/> leidenschaftlich-jäher Gemütsart</hi>“, die menschlichem <lb n="pba_475.029"/> und selbst göttlichem Einspruch schwer zugänglich ist. Solch „<hi rendition="#g">schneller <lb n="pba_475.030"/> Mut</hi>“ ist der „<hi rendition="#g">Fehler</hi>“ (<foreign xml:lang="grc">ἁμαρτία</foreign>) des Ödipus, wie er das Verderben <lb n="pba_475.031"/> seines Vaters war, der den Sohn, den er in Mißachtung des Götterspruchs <lb n="pba_475.032"/> gewonnen, in Mißachtung göttlicher und menschlicher Gesetze <lb n="pba_475.033"/> jammervollem Tode preisgab, der in jäher Hitze den begegnenden Fremdling <lb n="pba_475.034"/> mit toddrohendem Streiche anfiel. Das alles, wie das weiterhin <lb n="pba_475.035"/> Kommende, hatten die Götter als künftig Geschehendes vorausgesehen, <lb n="pba_475.036"/> nicht etwa es bestimmt und herbeigeführt, völlig in Übereinstimmung <lb n="pba_475.037"/> mit dem Worte des Kreon im „König Ödipus“:</p> <lb n="pba_475.038"/> <lg> <l> <hi rendition="#aq"> <foreign xml:lang="grc">αἱ δὲ τοιαῖται φύσεις</foreign> </hi> </l> <lb n="pba_475.039"/> <l><hi rendition="#aq"><foreign xml:lang="grc">αὑταῖς δικαίως εἰσὶν ἄλγισται φέρειν</foreign></hi>.</l> <lb n="pba_475.040"/> <l> „Solcher Art Naturen sind</l> <lb n="pba_475.041"/> <l>Sich selbst mit Recht unleidlich und die herbste Qual.“</l> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [475/0493]
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Denn sage, wenn ein Götterspruch dem Vater einst pba_475.002
Erscholl, er werde fallen durch des Sohnes Hand, pba_475.003
Wie kannst du billig diese Schuld vorwerfen mir, pba_475.004
Der noch des Lebens Keime nicht vom Vater noch pba_475.005
Der Mutter hatte, nein, noch ungeboren war?
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Ebenso heißt es weiter in der Gegenrede des Ödipus (v. 997 ff.):
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τοιαῦτα μέντοι καὐτὸς εἰςέβην κακά, pba_475.008
θεῶν ἀγόντων. οἷς ἐγὼ οὐδὲ τὴν πατρὸς pba_475.009
ψυχὴν ἄν οἶπαι ζὡσαν ἀντειπεῖν ἐμοί. pba_475.010
„Jn solches Unheil aber stürzt' auch ich hinein pba_475.011
Durch Götterleitung, und der Geist des Vaters selbst, pba_475.012
Zum Lichte kehrend, glaub' ich, widerspräch es nicht.“
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Dagegen nun aber die Worte der Antigone, mit denen sie den pba_475.014
tiefgekränkten Vater bewegen will dem Polyneikes zu verzeihen (v. 1195 ff.):
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σὺ δ' εἰς ἐκεῖνα, μὴ τὰ νῦν, ἀποσκόπει, pba_475.016
πατρῷα καὶ μητρῷα πήμαθ' ἄπαθες· pba_475.017
κ\̓αν κεῖνα λεύσσῃς, οἶδ' ἐγώ, γνώσει κακοῦ pba_475.018
θυμοῦ τελευτὴν, ὡς κακὴ προσγίγνεται. pba_475.019
„Du aber wende deinen Blick auf jenes Leid, pba_475.020
Das Leid von deinen Eltern, das du duldetest; pba_475.021
Und schaust du hierauf, weiß ich, wird's dir offenbar, pba_475.022
Welch' schlimmes Ende schlimmer Zorn zu nehmen liebt.“
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Auch hier ist die deutsche Übersetzung (Donner) wieder unzulänglich, pba_475.024
aber freilich schwer zu verbessern. „Schlimmer Zorn“ gibt in Anwendung pba_475.025
auf die Geschichte des Laïos keinen Sinn; das griechische pba_475.026
κακὸς θυμός, wofür kurz zuvor θυμὸς ὀξύς gesagt ist, bezeichnet pba_475.027
das Verhängnisvolle des „raschen Sinnes“, „vorschnell entschlossener, pba_475.028
leidenschaftlich-jäher Gemütsart“, die menschlichem pba_475.029
und selbst göttlichem Einspruch schwer zugänglich ist. Solch „schneller pba_475.030
Mut“ ist der „Fehler“ (ἁμαρτία) des Ödipus, wie er das Verderben pba_475.031
seines Vaters war, der den Sohn, den er in Mißachtung des Götterspruchs pba_475.032
gewonnen, in Mißachtung göttlicher und menschlicher Gesetze pba_475.033
jammervollem Tode preisgab, der in jäher Hitze den begegnenden Fremdling pba_475.034
mit toddrohendem Streiche anfiel. Das alles, wie das weiterhin pba_475.035
Kommende, hatten die Götter als künftig Geschehendes vorausgesehen, pba_475.036
nicht etwa es bestimmt und herbeigeführt, völlig in Übereinstimmung pba_475.037
mit dem Worte des Kreon im „König Ödipus“:
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αἱ δὲ τοιαῖται φύσεις pba_475.039
αὑταῖς δικαίως εἰσὶν ἄλγισται φέρειν. pba_475.040
„Solcher Art Naturen sind pba_475.041
Sich selbst mit Recht unleidlich und die herbste Qual.“
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