pba_471.001 Der Natur und dem Leben gleich, deren Wirkungen auf die pba_471.002 empfindende Seele nachahmend, bringt sie vermittelst sinnlicher pba_471.003 Vorstellungen die unmittelbar daran geknüpften Seelenbewegungenpba_471.004 hervor: aber verschieden von aller Natur und von jedem pba_471.005 Vorgang des Lebens wählt sie die Vorstellungen, deren sie sich bedient, pba_471.006 so aus und bringt sie so in Verbindung, daß sie die Kraft erhalten, pba_471.007 die von dem Künstler gewollte reine, richtige Empfindung unmittelbar pba_471.008 zu erzeugen.
pba_471.009 Daraus erklärt sich auch das Verhältnis der Kunst zur sittlichen pba_471.010 Erziehung von selbst. Die Kunst braucht dieselbe nicht vorauszusetzen,pba_471.011 denn ihre Wirkungen sind unmittelbare; sie kann dieselbe pba_471.012 aber auch nicht ersetzen, denn ihre Wirkungen halten nur so lange an, pba_471.013 als die Vorstellungen dauern, die sie erzeugt, und die Empfindungsweise, pba_471.014 die sie als ein Geschenk mitteilen, ist zwar ihrer Form nach derjenigen pba_471.015 gleich, die als ein Resultat intellektueller und sittlicher Kultur pba_471.016 erworben wird, aber sie vermag dieselbe nicht zugleich mit einzupflanzen. pba_471.017 So würden also die Wirkungen der Kunst zunächst intellektuell wie sittlich pba_471.018 indifferent bleiben. Doch sind mittelbar zwei weitere Folgen von unberechenbarer pba_471.019 Tragweite mit ihnen verbunden. Die mächtige hedonische pba_471.020 Wirkung, welche die reine, gesunde, richtige Empfindung im Gemüte pba_471.021 ausübt, eben weil sie die im höchsten Sinne naturgemäße ist, die wie pba_471.022 durch ein Wunder mit durchleuchtender und durchwärmender Kraft in pba_471.023 der Seele sich ausbreitet, kann nicht anders als wie ein wünschenswertestes pba_471.024 Ziel des Strebens in der Erinnerung zurückbleiben, für die pba_471.025 unverdorbene Natur ein spornender Antrieb, für die schon abgeirrte ein pba_471.026 Vorwurf und eine Mahnung. Sodann kann es keine Frage sein, daß pba_471.027 eine Gewöhnung des Empfindens zum rechten Maße durch die Wirkungen pba_471.028 der Kunst, wenn sie auch zunächst für keinen einzigen Fall die Herrschaft pba_471.029 der Vernunft oder der Einsicht über die Leidenschaften zu sichern vermag, pba_471.030 so doch für unzählige Fälle ihnen ihr Geschäft zu erleichtern geeignet pba_471.031 ist, wenigstens den Widerstand, den sie dabei finden, zu vermindern.
pba_471.032 Nach diesem Ergebnis stellt sich nun die Frage in betreff des pba_471.033 Sophokleischen Ödipus: -- welche Mittel hat der Dichter angewandt, um pba_471.034 das Entsetzen und den Jammer, die der Stoff erregt, in die wohlthuenden pba_471.035 Affekte der tragischen Furcht und des tragischen Mitleids zu pba_471.036 verwandeln? -- da jede Mitwirkung fremden Gebieten angehöriger Kräfte pba_471.037 ausgeschlossen ist, folgendermaßen: wie hat der Dichter die Fabel behandelt, pba_471.038 um ihr die Gestalt zu geben, in welcher das Schicksal der pba_471.039 bloßen Empfindung sich als ein göttlich-gesetzliches kund thut, pba_471.040 das eben dadurch die tragischen Pathemata kathartisch entlastet und
pba_471.001 Der Natur und dem Leben gleich, deren Wirkungen auf die pba_471.002 empfindende Seele nachahmend, bringt sie vermittelst sinnlicher pba_471.003 Vorstellungen die unmittelbar daran geknüpften Seelenbewegungenpba_471.004 hervor: aber verschieden von aller Natur und von jedem pba_471.005 Vorgang des Lebens wählt sie die Vorstellungen, deren sie sich bedient, pba_471.006 so aus und bringt sie so in Verbindung, daß sie die Kraft erhalten, pba_471.007 die von dem Künstler gewollte reine, richtige Empfindung unmittelbar pba_471.008 zu erzeugen.
pba_471.009 Daraus erklärt sich auch das Verhältnis der Kunst zur sittlichen pba_471.010 Erziehung von selbst. Die Kunst braucht dieselbe nicht vorauszusetzen,pba_471.011 denn ihre Wirkungen sind unmittelbare; sie kann dieselbe pba_471.012 aber auch nicht ersetzen, denn ihre Wirkungen halten nur so lange an, pba_471.013 als die Vorstellungen dauern, die sie erzeugt, und die Empfindungsweise, pba_471.014 die sie als ein Geschenk mitteilen, ist zwar ihrer Form nach derjenigen pba_471.015 gleich, die als ein Resultat intellektueller und sittlicher Kultur pba_471.016 erworben wird, aber sie vermag dieselbe nicht zugleich mit einzupflanzen. pba_471.017 So würden also die Wirkungen der Kunst zunächst intellektuell wie sittlich pba_471.018 indifferent bleiben. Doch sind mittelbar zwei weitere Folgen von unberechenbarer pba_471.019 Tragweite mit ihnen verbunden. Die mächtige hedonische pba_471.020 Wirkung, welche die reine, gesunde, richtige Empfindung im Gemüte pba_471.021 ausübt, eben weil sie die im höchsten Sinne naturgemäße ist, die wie pba_471.022 durch ein Wunder mit durchleuchtender und durchwärmender Kraft in pba_471.023 der Seele sich ausbreitet, kann nicht anders als wie ein wünschenswertestes pba_471.024 Ziel des Strebens in der Erinnerung zurückbleiben, für die pba_471.025 unverdorbene Natur ein spornender Antrieb, für die schon abgeirrte ein pba_471.026 Vorwurf und eine Mahnung. Sodann kann es keine Frage sein, daß pba_471.027 eine Gewöhnung des Empfindens zum rechten Maße durch die Wirkungen pba_471.028 der Kunst, wenn sie auch zunächst für keinen einzigen Fall die Herrschaft pba_471.029 der Vernunft oder der Einsicht über die Leidenschaften zu sichern vermag, pba_471.030 so doch für unzählige Fälle ihnen ihr Geschäft zu erleichtern geeignet pba_471.031 ist, wenigstens den Widerstand, den sie dabei finden, zu vermindern.
pba_471.032 Nach diesem Ergebnis stellt sich nun die Frage in betreff des pba_471.033 Sophokleischen Ödipus: — welche Mittel hat der Dichter angewandt, um pba_471.034 das Entsetzen und den Jammer, die der Stoff erregt, in die wohlthuenden pba_471.035 Affekte der tragischen Furcht und des tragischen Mitleids zu pba_471.036 verwandeln? — da jede Mitwirkung fremden Gebieten angehöriger Kräfte pba_471.037 ausgeschlossen ist, folgendermaßen: wie hat der Dichter die Fabel behandelt, pba_471.038 um ihr die Gestalt zu geben, in welcher das Schicksal der pba_471.039 bloßen Empfindung sich als ein göttlich-gesetzliches kund thut, pba_471.040 das eben dadurch die tragischen Pathemata kathartisch entlastet und
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Der Natur und dem Leben gleich, deren Wirkungen auf die pba_471.002
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Vorstellungen die unmittelbar daran geknüpften Seelenbewegungen pba_471.004
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Daraus erklärt sich auch das Verhältnis der Kunst zur sittlichen pba_471.010
Erziehung von selbst. Die Kunst braucht dieselbe nicht vorauszusetzen, pba_471.011
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Nach diesem Ergebnis stellt sich nun die Frage in betreff des pba_471.033
Sophokleischen Ödipus: — welche Mittel hat der Dichter angewandt, um pba_471.034
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/489>, abgerufen am 22.11.2024.
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