pba_462.001 göttliche Gerechtigkeit und, nach dem Psalmisten, die "Furcht des Herren" pba_462.002 der Weisheit Anfang sei. Freilich ist das Gebiet der Kunst von dem pba_462.003 der Moral strengstens geschieden; aber hier ist ein Punkt, wo beide sich pba_462.004 berühren: die Tragödie ist gerade aus dem allgemein menschlichen Bedürfnis pba_462.005 entstanden, die Vorstellung furchtbarer Schicksale, wie sie der pba_462.006 Sage und Tradition unverlöschlich sich einprägen, im Gemüte mit pba_462.007 jenen Satzungen der religiösen Ethik zu vereinbaren, so daß die Empfindung pba_462.008 zugleich damit erfüllt und ausgesöhnt, daran erhobenpba_462.009 und beruhigt werde.
pba_462.010 Es war eine der griechischen Empfindungsweise tief eingeprägte pba_462.011 Vorstellung, daß nichts so verderblich sei als der Mangel dieser Furchtpba_462.012 und Scheu vor der Macht der Götter; die "Hybris", die durch Erfolg pba_462.013 und lang anhaltendes Glück genährt in sicherem Selbstgefühl sich der pba_462.014 Abhängigkeit von dem göttlichen Willen enthoben meint, galt ihnen als pba_462.015 der sichere Vorbote unvermeidlichen Sturzes, weil Maßlosigkeit im Handeln pba_462.016 untrennbar damit verbunden ist. Machtfülle und selten hohes pba_462.017 Glück erzeugen die stolze Sicherheit und Überhebung in ihrem Schoße pba_462.018 und erregen damit den bangen Zweifel an ihrer Beständigkeit. "König pba_462.019 Ödipus" ist vor allen andern die Tragödie der tragischen Furcht,pba_462.020 wie der Chor in seinem Schlußgesang ihr Ausdruck verleiht:
pba_462.021
"Jhr Bewohner meiner Thebe, sehet, das ist Ödipus,pba_462.022 Der entwirrt die hohen Rätsel und der erste war an Macht,pba_462.023 Dessen Glück die Bürger alle priesen und beneideten,pba_462.024 Seht, in welches Mißgeschickes grause Wogen er versank!pba_462.025 Drum der Erdensöhne keinen, welcher noch auf jenen Tagpba_462.026 Harrt, den letzten seiner Tage, preise du vorher beglückt,pba_462.027 Eh' er drang ans Ziel des Lebens, unberührt von Schmerz und Leid.
pba_462.028 Jm schroffsten Gegensatz zu der Auffassung, aus der die moderne pba_462.029 "Schicksalstragödie" hervorging, hielten die Alten schweres, unverschuldetes pba_462.030 Unglück nicht für das Werk eines blinden Zufalls, sondern sie pba_462.031 sahen den für blind an, der darin, auch wenn er dem Geschick pba_462.032 nicht auf den Grund zu blicken vermochte, nicht gläubig das Walten pba_462.033 der Gottheit erkannte und verehrte. Die griechische Tragödie verlangt pba_462.034 klar bewußte, entschlossene Ergebung in das unabänderliche Gesetz, daß pba_462.035 "nie im Leben waltet das Glück lauter und frei vom Leide".1
pba_462.036 So greift sie freilich auf den Höhepunkten ihrer mit pba_462.037 dieser Furcht uns durchschauernden Wirkungen zum herbsten
1pba_462.038 Sophokles' Antigone, S. 607 ff.
pba_462.001 göttliche Gerechtigkeit und, nach dem Psalmisten, die „Furcht des Herren“ pba_462.002 der Weisheit Anfang sei. Freilich ist das Gebiet der Kunst von dem pba_462.003 der Moral strengstens geschieden; aber hier ist ein Punkt, wo beide sich pba_462.004 berühren: die Tragödie ist gerade aus dem allgemein menschlichen Bedürfnis pba_462.005 entstanden, die Vorstellung furchtbarer Schicksale, wie sie der pba_462.006 Sage und Tradition unverlöschlich sich einprägen, im Gemüte mit pba_462.007 jenen Satzungen der religiösen Ethik zu vereinbaren, so daß die Empfindung pba_462.008 zugleich damit erfüllt und ausgesöhnt, daran erhobenpba_462.009 und beruhigt werde.
pba_462.010 Es war eine der griechischen Empfindungsweise tief eingeprägte pba_462.011 Vorstellung, daß nichts so verderblich sei als der Mangel dieser Furchtpba_462.012 und Scheu vor der Macht der Götter; die „Hybris“, die durch Erfolg pba_462.013 und lang anhaltendes Glück genährt in sicherem Selbstgefühl sich der pba_462.014 Abhängigkeit von dem göttlichen Willen enthoben meint, galt ihnen als pba_462.015 der sichere Vorbote unvermeidlichen Sturzes, weil Maßlosigkeit im Handeln pba_462.016 untrennbar damit verbunden ist. Machtfülle und selten hohes pba_462.017 Glück erzeugen die stolze Sicherheit und Überhebung in ihrem Schoße pba_462.018 und erregen damit den bangen Zweifel an ihrer Beständigkeit. „König pba_462.019 Ödipus“ ist vor allen andern die Tragödie der tragischen Furcht,pba_462.020 wie der Chor in seinem Schlußgesang ihr Ausdruck verleiht:
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„Jhr Bewohner meiner Thebe, sehet, das ist Ödipus,pba_462.022 Der entwirrt die hohen Rätsel und der erste war an Macht,pba_462.023 Dessen Glück die Bürger alle priesen und beneideten,pba_462.024 Seht, in welches Mißgeschickes grause Wogen er versank!pba_462.025 Drum der Erdensöhne keinen, welcher noch auf jenen Tagpba_462.026 Harrt, den letzten seiner Tage, preise du vorher beglückt,pba_462.027 Eh' er drang ans Ziel des Lebens, unberührt von Schmerz und Leid.
pba_462.028 Jm schroffsten Gegensatz zu der Auffassung, aus der die moderne pba_462.029 „Schicksalstragödie“ hervorging, hielten die Alten schweres, unverschuldetes pba_462.030 Unglück nicht für das Werk eines blinden Zufalls, sondern sie pba_462.031 sahen den für blind an, der darin, auch wenn er dem Geschick pba_462.032 nicht auf den Grund zu blicken vermochte, nicht gläubig das Walten pba_462.033 der Gottheit erkannte und verehrte. Die griechische Tragödie verlangt pba_462.034 klar bewußte, entschlossene Ergebung in das unabänderliche Gesetz, daß pba_462.035 „nie im Leben waltet das Glück lauter und frei vom Leide“.1
pba_462.036 So greift sie freilich auf den Höhepunkten ihrer mit pba_462.037 dieser Furcht uns durchschauernden Wirkungen zum herbsten
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göttliche Gerechtigkeit und, nach dem Psalmisten, die „Furcht des Herren“ pba_462.002
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So greift sie freilich auf den Höhepunkten ihrer mit pba_462.037
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Sophokles' Antigone, S. 607 ff.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/480>, abgerufen am 22.11.2024.
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