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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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lage, Komposition und Abschluß es die Kraft erhalte, das
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in seinem Verlauf unvermeidlich hier und dort erzeugte Übermaß pba_440.003
der einen und der andern tragischen Empfindung durch seine Gesamtwirkung pba_440.004
hinwegzuläutern, die Schicksalsempfindungen pba_440.005
davon befreiend zu entlasten,
dem Hörer somit die Möglichkeit, pba_440.006
Bereitschaft
(dunamis) herzustellen, daß er der reinen Schicksalsempfindungen pba_440.007
sich erfreue.

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Ein späterer Gegner des Aristoteles, den wunderlicherweise Bernays pba_440.009
als Zeugen für seine Theorie heranzieht, der Neuplatoniker Proklos, pba_440.010
hat für diese Wirkung der Tragödie, also für die Katharsis, den synonymen pba_440.011
Ausdruck: tas kineseis ton pathon emmelos anastellein pba_440.012
d. h. "die Bewegungen der betreffenden Empfindungen in harmonischer pba_440.013
Weise herabmindern, zur Harmonie zurückführen". Und zu noch pba_440.014
stärkerer Bestätigung: Proklos wandte für die aristotelische Katharsis pba_440.015
als gleichbedeutend einerseits den stärkeren Ausdruck aperasis an pba_440.016
-- diamekhanasdai ton pathon touton aperaseis tinas d. h. pba_440.017
"für gewisse Mittel sorgen, die diesen Empfindungen bei Überladung pba_440.018
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" -- andererseits den milderen aphosiosis = ihnen pba_440.019
beschwichtigend gerecht werden
"; zur Erklärung beider aber fügt pba_440.020
er hinzu: ai aphosioseis ouk en uperbolais eisin, all' en sunestalmenais pba_440.021
energeiais = "solche Beschwichtigung liegt nicht in ihrem pba_440.022
Übermaß,
sondern in der Einschränkung ihrer Bethätigungen".1

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Hier ist nun auch der Ort der viel berufenen musikalischen pba_440.024
Katharsis
zu gedenken, von der die aristotelische Politik handelt, und pba_440.025
aus welcher Bernays seine mißverständliche Auffassung abgeleitet hat. pba_440.026
Aristoteles untersucht an der Stelle das Wesen der Musik hinsichtlich pba_440.027
ihrer Anwendbarkeit für die Erziehung und für noch andere, weiter pba_440.028
gehende Zwecke des Gesetzgebers; er unterscheidet zu diesem Behufe pba_440.029
ethische, die sittliche Kraft spannende, praktische, die Seele zum pba_440.030
Handeln aufregende, und enthusiastische, die Begeisterung weckende, pba_440.031
Lieder. Diesen letzteren schreibt er die Kraft zu, "gleichsam eine pba_440.032
Katharsis
" im Gemüt zu bewirken, und begründet diese Ansicht fol-

1 pba_440.033
Vgl. hierzu den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrb. pba_440.034
für klass. Phil., 1875, S. 96 ff. Jn demselben Sinne sagt Proklos von den Schauspielen, pba_440.035
daß sie die Möglichkeit gewährten: emmetros apopimplanai ta pathe kai pba_440.036
apoplesantas energa pros ten paideian ekhein (1486a 31), d. h. also: "daß man pba_440.037
durch die Schauspiele in den Stand gesetzt werde, den Empfindungen im rechten pba_440.038
Maße Spielraum zu gewähren
und sie solcherweise für die sittliche Bildung in pba_440.039
Thätigkeit zu erhalten.
" Also nicht solle man "von ihnen entladen" werden, pba_440.040
sondern sie sollen in der rechten Weise erregt und lebendig erhalten werden!

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lage, Komposition und Abschluß es die Kraft erhalte, das
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in seinem Verlauf unvermeidlich hier und dort erzeugte Übermaß pba_440.003
der einen und der andern tragischen Empfindung durch seine Gesamtwirkung pba_440.004
hinwegzuläutern, die Schicksalsempfindungen pba_440.005
davon befreiend zu entlasten,
dem Hörer somit die Möglichkeit, pba_440.006
Bereitschaft
(δύναμις) herzustellen, daß er der reinen Schicksalsempfindungen pba_440.007
sich erfreue.

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Ein späterer Gegner des Aristoteles, den wunderlicherweise Bernays pba_440.009
als Zeugen für seine Theorie heranzieht, der Neuplatoniker Proklos, pba_440.010
hat für diese Wirkung der Tragödie, also für die Katharsis, den synonymen pba_440.011
Ausdruck: τὰς κινήσεις τῶν παθῶν ἐμμελῶς ἀναστέλλειν pba_440.012
d. h. „die Bewegungen der betreffenden Empfindungen in harmonischer pba_440.013
Weise herabmindern, zur Harmonie zurückführen“. Und zu noch pba_440.014
stärkerer Bestätigung: Proklos wandte für die aristotelische Katharsis pba_440.015
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— διαμηχανᾶσδαι τῶν παθῶν τούτων ἀπεράσεις τινάς d. h. pba_440.017
„für gewisse Mittel sorgen, die diesen Empfindungen bei Überladung pba_440.018
Abhülfe schaffen
“ — andererseits den milderen ἀφοσίωσις = ihnen pba_440.019
beschwichtigend gerecht werden
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er hinzu: αἱ ἀφοσιώσεις οὐκ ἐν ὑπερβολαῖς εἰσὶν, ἀλλ' ἐν συνεσταλμέναις pba_440.021
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Übermaß,
sondern in der Einschränkung ihrer Bethätigungen“.1

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Hier ist nun auch der Ort der viel berufenen musikalischen pba_440.024
Katharsis
zu gedenken, von der die aristotelische Politik handelt, und pba_440.025
aus welcher Bernays seine mißverständliche Auffassung abgeleitet hat. pba_440.026
Aristoteles untersucht an der Stelle das Wesen der Musik hinsichtlich pba_440.027
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“ im Gemüt zu bewirken, und begründet diese Ansicht fol-

1 pba_440.033
Vgl. hierzu den oben citierten Aufsatz des Verfassers in Fleckeisens Jahrb. pba_440.034
für klass. Phil., 1875, S. 96 ff. Jn demselben Sinne sagt Proklos von den Schauspielen, pba_440.035
daß sie die Möglichkeit gewährten: ἐμμέτρως ἀποπιμπλάναι τὰ πάθη καὶ pba_440.036
ἀποπλήσαντας ἐνεργὰ πρὸς τὴν παιδείαν ἔχειν (1486a 31), d. h. also: „daß man pba_440.037
durch die Schauspiele in den Stand gesetzt werde, den Empfindungen im rechten pba_440.038
Maße Spielraum zu gewähren
und sie solcherweise für die sittliche Bildung in pba_440.039
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/458>, abgerufen am 04.05.2024.