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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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gehörenden zweiten Hälfte der Definition sich überwiegend geltend gemacht pba_439.002
hat, gewährt keinerlei Schutz gegen die gerade hier die Reinheit pba_439.003
der tragischen Gattung am schwersten bedrohenden Ausartungen pba_439.004
und verfehlt daher ihren Zweck.
Je nachdem der pba_439.005
Nachdruck darauf gelegt wird, vor allem das Mitleid zu erregen oder pba_439.006
vornehmlich die Furchtempfindungen hervorzubringen, ist die Tragödie pba_439.007
dann dem Ueberwuchern der Rührung, des Jammervollen oder des pba_439.008
Fürchterlichen, Schrecklichen preisgegeben: in beiden Fällen muß sie pba_439.009
peinlich beengend und belastend wirken, statt erfreuend und erhebend. pba_439.010
Gerade gegen diese Gefahren aber kämpft die aristotelische Lehre am nachdrücklichsten pba_439.011
und höchst erfolgreich an.

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So soll nach des Aristoteles unvergleichlicher Theorie, die -- pba_439.013
wie es das Siegel einer musterhaften Definition ist -- zugleich die pba_439.014
Grunderfordernisse aller künstlerischen Wirkung in sich vereint, die pba_439.015
Tragödie beschaffen sein:

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Der Gattung nach soll sie Handlung nachahmen, und pba_439.017
zwar eine solche, die Furcht und Mitleid in Bewegung setzt,
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d. h. welche eine große und bedeutungsvolle Schicksalsentscheidung pba_439.019
in sich darstellt,
denn eine solche ist es, und zwar nur pba_439.020
eine solche,
die jene beiden Empfindungen im Verein hervorbringt; pba_439.021
sie konnte auf keine Weise prägnanter und deutlicher bezeichnet werden, pba_439.022
als daß in die Erzielung der Schicksalsempfindungen der pba_439.023
"Zweck der Tragödie" gesetzt wurde. Die Nachahmung erstrebt damit, pba_439.024
es den großen Schicksalen der Wirklichkeit gleichzuthun:

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Philosophischer aber als die Geschichte, geht die Kunst über die pba_439.026
Wirklichkeit hinaus! Das Beängstigende und Erschreckende, das pba_439.027
Niederdrückende und Herzzerreißende des Schicksalswaltens pba_439.028
im wirklichen Leben,
alles das in seinen tausendgestaltigen Erscheinungen pba_439.029
wird die tragische Nachahmung, wenn sie ihrem obersten Gesetz, pba_439.030
der Wahrheit, getreu bleiben will, zwar nicht den Ereignissen pba_439.031
nehmen können;
in seiner ganzen Wucht bringt sie es zur Entfaltung pba_439.032
und wirkt also durch Furcht und Mitleid:

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Doch bliebe sie dabei stehen, was wäre sie im besten Falle pba_439.034
anders als eine Wiederholung der entsetzlichen und traurigen Erschütterungen, pba_439.035
von denen das reale Leben genugsam und übergenug erfüllt pba_439.036
ist, und über die das Kunstwerk uns befreiend erheben soll?

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Hier tritt der Schlußsatz des Aristoteles ein: so hat der Dichter pba_439.038
den Furcht und Mitleid erregenden Handlungsstoff auszuwählen, zu pba_439.039
gestalten (sunistanai) und vermöge der dem tragischen Kunstwerk pba_439.040
eigenen künstlerischen Durchführung zu behandeln, daß durch An-

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gehörenden zweiten Hälfte der Definition sich überwiegend geltend gemacht pba_439.002
hat, gewährt keinerlei Schutz gegen die gerade hier die Reinheit pba_439.003
der tragischen Gattung am schwersten bedrohenden Ausartungen pba_439.004
und verfehlt daher ihren Zweck.
Je nachdem der pba_439.005
Nachdruck darauf gelegt wird, vor allem das Mitleid zu erregen oder pba_439.006
vornehmlich die Furchtempfindungen hervorzubringen, ist die Tragödie pba_439.007
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Gerade gegen diese Gefahren aber kämpft die aristotelische Lehre am nachdrücklichsten pba_439.011
und höchst erfolgreich an.

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So soll nach des Aristoteles unvergleichlicher Theorie, die — pba_439.013
wie es das Siegel einer musterhaften Definition ist — zugleich die pba_439.014
Grunderfordernisse aller künstlerischen Wirkung in sich vereint, die pba_439.015
Tragödie beschaffen sein:

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Der Gattung nach soll sie Handlung nachahmen, und pba_439.017
zwar eine solche, die Furcht und Mitleid in Bewegung setzt,
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d. h. welche eine große und bedeutungsvolle Schicksalsentscheidung pba_439.019
in sich darstellt,
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eine solche,
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sie konnte auf keine Weise prägnanter und deutlicher bezeichnet werden, pba_439.022
als daß in die Erzielung der Schicksalsempfindungen der pba_439.023
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es den großen Schicksalen der Wirklichkeit gleichzuthun:

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Philosophischer aber als die Geschichte, geht die Kunst über die pba_439.026
Wirklichkeit hinaus! Das Beängstigende und Erschreckende, das pba_439.027
Niederdrückende und Herzzerreißende des Schicksalswaltens pba_439.028
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alles das in seinen tausendgestaltigen Erscheinungen pba_439.029
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Doch bliebe sie dabei stehen, was wäre sie im besten Falle pba_439.034
anders als eine Wiederholung der entsetzlichen und traurigen Erschütterungen, pba_439.035
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Hier tritt der Schlußsatz des Aristoteles ein: so hat der Dichter pba_439.038
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[439/0457] pba_439.001 gehörenden zweiten Hälfte der Definition sich überwiegend geltend gemacht pba_439.002 hat, gewährt keinerlei Schutz gegen die gerade hier die Reinheit pba_439.003 der tragischen Gattung am schwersten bedrohenden Ausartungen pba_439.004 und verfehlt daher ihren Zweck. Je nachdem der pba_439.005 Nachdruck darauf gelegt wird, vor allem das Mitleid zu erregen oder pba_439.006 vornehmlich die Furchtempfindungen hervorzubringen, ist die Tragödie pba_439.007 dann dem Ueberwuchern der Rührung, des Jammervollen oder des pba_439.008 Fürchterlichen, Schrecklichen preisgegeben: in beiden Fällen muß sie pba_439.009 peinlich beengend und belastend wirken, statt erfreuend und erhebend. pba_439.010 Gerade gegen diese Gefahren aber kämpft die aristotelische Lehre am nachdrücklichsten pba_439.011 und höchst erfolgreich an. pba_439.012 So soll nach des Aristoteles unvergleichlicher Theorie, die — pba_439.013 wie es das Siegel einer musterhaften Definition ist — zugleich die pba_439.014 Grunderfordernisse aller künstlerischen Wirkung in sich vereint, die pba_439.015 Tragödie beschaffen sein: pba_439.016 Der Gattung nach soll sie Handlung nachahmen, und pba_439.017 zwar eine solche, die Furcht und Mitleid in Bewegung setzt, pba_439.018 d. h. welche eine große und bedeutungsvolle Schicksalsentscheidung pba_439.019 in sich darstellt, denn eine solche ist es, und zwar nur pba_439.020 eine solche, die jene beiden Empfindungen im Verein hervorbringt; pba_439.021 sie konnte auf keine Weise prägnanter und deutlicher bezeichnet werden, pba_439.022 als daß in die Erzielung der Schicksalsempfindungen der pba_439.023 „Zweck der Tragödie“ gesetzt wurde. Die Nachahmung erstrebt damit, pba_439.024 es den großen Schicksalen der Wirklichkeit gleichzuthun: pba_439.025 Philosophischer aber als die Geschichte, geht die Kunst über die pba_439.026 Wirklichkeit hinaus! Das Beängstigende und Erschreckende, das pba_439.027 Niederdrückende und Herzzerreißende des Schicksalswaltens pba_439.028 im wirklichen Leben, alles das in seinen tausendgestaltigen Erscheinungen pba_439.029 wird die tragische Nachahmung, wenn sie ihrem obersten Gesetz, pba_439.030 der Wahrheit, getreu bleiben will, zwar nicht den Ereignissen pba_439.031 nehmen können; in seiner ganzen Wucht bringt sie es zur Entfaltung pba_439.032 und wirkt also durch Furcht und Mitleid: pba_439.033 Doch bliebe sie dabei stehen, was wäre sie im besten Falle pba_439.034 anders als eine Wiederholung der entsetzlichen und traurigen Erschütterungen, pba_439.035 von denen das reale Leben genugsam und übergenug erfüllt pba_439.036 ist, und über die das Kunstwerk uns befreiend erheben soll? pba_439.037 Hier tritt der Schlußsatz des Aristoteles ein: so hat der Dichter pba_439.038 den Furcht und Mitleid erregenden Handlungsstoff auszuwählen, zu pba_439.039 gestalten (συνιστάναι) und vermöge der dem tragischen Kunstwerk pba_439.040 eigenen künstlerischen Durchführung zu behandeln, daß durch An-

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/457>, abgerufen am 23.11.2024.