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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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überflüssigen Stoffes die Reinigung, die Katharsis, sich pba_438.002
vollzieht. Was
durch die Katharsis von ihnen ausgeschieden wird, pba_438.003
nämlich alle die fehlerhaften Beimischungen, durch die ihre richtige, gesunde pba_438.004
Beschaffenheit -- in welcher allein sie der Anlage und Bestimmung pba_438.005
der Seele entsprechen, demgemäß also Freude, Hedone, bewirken und pba_438.006
damit ein würdiges Ziel der Kunstbestrebung bilden -- getrübt, und pba_438.007
zwar sowohl nach der Seite des Zuviel als nach der des Zuwenig, getrübt pba_438.008
wird. Derjenige, welcher die Katharsis erfährt, an dem sie sich vollzieht, pba_438.009
ist in beiden Fällen, in dem eigentlichen wie dem uneigentlichen, pba_438.010
nur vergleichsweise so bezeichneten, der Mensch; bei der körperlichen pba_438.011
Katharsis wäre es überflüssig, das Organ zu bezeichnen, an welchem pba_438.012
sich die Katharsis vollzieht, da dasselbe entweder von selbst angezeigt ist, pba_438.013
oder da sich in andern Fällen die Katharsis auf den ganzen Organismus pba_438.014
bezieht: dagegen war es bei dieser Übertragung des Katharsisbegriffes pba_438.015
auf ein ganz fremdes Gebiet unumgänglich erforderlich, den pba_438.016
psychologischen Vorgang zu bezeichnen, auf welchen der Vergleich pba_438.017
der kathartischen Wirkung seine Anwendung finden soll. Denn die Pathe pba_438.018
der Furcht und des Mitleids sind Vorgänge, Bewegungsvorgänge pba_438.019
innerhalb der Seele, die durch Erregung -- Sollicitation ist ein Ausdruck, pba_438.020
der sehr mit Unrecht von gewissen physiologischen Vorgängen auf pba_438.021
das psychologische Gebiet übertragen ist -- doch eben hervorgebracht, pba_438.022
nicht fortgeschafft
werden: sollte aber nach übermäßiger Erregung pba_438.023
derselben eine zeitweilige Erschlaffung und dadurch herabgeminderte pba_438.024
Neigung, sich aufs neue ihnen hinzugeben, erzielt werden, so wäre das pba_438.025
ja wieder eine Wirkung, die mit der Tragödie als Tragödie, mit pba_438.026
ihrer Organisation, nicht das Mindeste zu thun hätte, von der in ihrer pba_438.027
Definition zu reden aber der Gipfel der Verkehrtheit wäre. Zu was pba_438.028
für propädeutischen, paränetischen, ja auch medizinischen, psychiatrischen pba_438.029
oder sonst irgendwie tendenziösen Anwendungen kann nicht ein Kunstwerk, pba_438.030
und namentlich ein poetisches, unter Umständen sich geeignet pba_438.031
erweisen, was alles doch das Wesen der Kunst ganz unberührt läßt.

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Wird dagegen -- wie es das gesamte psychologisch-ethische System pba_438.033
des Aristoteles verlangt -- die Katharsis als eine an den Empfindungsvorgängen pba_438.034
sich vollziehende Ausscheidung dessen gefaßt, was ihnen pba_438.035
Störendes sich beizumischen beginnt, so stellt sich der Schluß der pba_438.036
aristotelischen Definition als ihr wesentlichster Bestandteil pba_438.037
heraus.
Die Forderung, daß die Tragödie eine Furcht und Mitleid pba_438.038
erregende Handlung nachahme, die bei der Bernaysschen Auffassung pba_438.039
allein übrig bleibt und die seit der Erneuerung der aristotelischen Lehre pba_438.040
auch thatsächlich in dieser Lostrennung von der ihr so notwendig zu-

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überflüssigen Stoffes die Reinigung, die Katharsis, sich pba_438.002
vollzieht. Was
durch die Katharsis von ihnen ausgeschieden wird, pba_438.003
nämlich alle die fehlerhaften Beimischungen, durch die ihre richtige, gesunde pba_438.004
Beschaffenheit — in welcher allein sie der Anlage und Bestimmung pba_438.005
der Seele entsprechen, demgemäß also Freude, Hedone, bewirken und pba_438.006
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zwar sowohl nach der Seite des Zuviel als nach der des Zuwenig, getrübt pba_438.008
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ist in beiden Fällen, in dem eigentlichen wie dem uneigentlichen, pba_438.010
nur vergleichsweise so bezeichneten, der Mensch; bei der körperlichen pba_438.011
Katharsis wäre es überflüssig, das Organ zu bezeichnen, an welchem pba_438.012
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auf ein ganz fremdes Gebiet unumgänglich erforderlich, den pba_438.016
psychologischen Vorgang zu bezeichnen, auf welchen der Vergleich pba_438.017
der kathartischen Wirkung seine Anwendung finden soll. Denn die Pathe pba_438.018
der Furcht und des Mitleids sind Vorgänge, Bewegungsvorgänge pba_438.019
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der sehr mit Unrecht von gewissen physiologischen Vorgängen auf pba_438.021
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nicht fortgeschafft
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Definition zu reden aber der Gipfel der Verkehrtheit wäre. Zu was pba_438.028
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und namentlich ein poetisches, unter Umständen sich geeignet pba_438.031
erweisen, was alles doch das Wesen der Kunst ganz unberührt läßt.

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Wird dagegen — wie es das gesamte psychologisch-ethische System pba_438.033
des Aristoteles verlangt — die Katharsis als eine an den Empfindungsvorgängen pba_438.034
sich vollziehende Ausscheidung dessen gefaßt, was ihnen pba_438.035
Störendes sich beizumischen beginnt, so stellt sich der Schluß der pba_438.036
aristotelischen Definition als ihr wesentlichster Bestandteil pba_438.037
heraus.
Die Forderung, daß die Tragödie eine Furcht und Mitleid pba_438.038
erregende Handlung nachahme, die bei der Bernaysschen Auffassung pba_438.039
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[438/0456] pba_438.001 überflüssigen Stoffes die Reinigung, die Katharsis, sich pba_438.002 vollzieht. Was durch die Katharsis von ihnen ausgeschieden wird, pba_438.003 nämlich alle die fehlerhaften Beimischungen, durch die ihre richtige, gesunde pba_438.004 Beschaffenheit — in welcher allein sie der Anlage und Bestimmung pba_438.005 der Seele entsprechen, demgemäß also Freude, Hedone, bewirken und pba_438.006 damit ein würdiges Ziel der Kunstbestrebung bilden — getrübt, und pba_438.007 zwar sowohl nach der Seite des Zuviel als nach der des Zuwenig, getrübt pba_438.008 wird. Derjenige, welcher die Katharsis erfährt, an dem sie sich vollzieht, pba_438.009 ist in beiden Fällen, in dem eigentlichen wie dem uneigentlichen, pba_438.010 nur vergleichsweise so bezeichneten, der Mensch; bei der körperlichen pba_438.011 Katharsis wäre es überflüssig, das Organ zu bezeichnen, an welchem pba_438.012 sich die Katharsis vollzieht, da dasselbe entweder von selbst angezeigt ist, pba_438.013 oder da sich in andern Fällen die Katharsis auf den ganzen Organismus pba_438.014 bezieht: dagegen war es bei dieser Übertragung des Katharsisbegriffes pba_438.015 auf ein ganz fremdes Gebiet unumgänglich erforderlich, den pba_438.016 psychologischen Vorgang zu bezeichnen, auf welchen der Vergleich pba_438.017 der kathartischen Wirkung seine Anwendung finden soll. Denn die Pathe pba_438.018 der Furcht und des Mitleids sind Vorgänge, Bewegungsvorgänge pba_438.019 innerhalb der Seele, die durch Erregung — Sollicitation ist ein Ausdruck, pba_438.020 der sehr mit Unrecht von gewissen physiologischen Vorgängen auf pba_438.021 das psychologische Gebiet übertragen ist — doch eben hervorgebracht, pba_438.022 nicht fortgeschafft werden: sollte aber nach übermäßiger Erregung pba_438.023 derselben eine zeitweilige Erschlaffung und dadurch herabgeminderte pba_438.024 Neigung, sich aufs neue ihnen hinzugeben, erzielt werden, so wäre das pba_438.025 ja wieder eine Wirkung, die mit der Tragödie als Tragödie, mit pba_438.026 ihrer Organisation, nicht das Mindeste zu thun hätte, von der in ihrer pba_438.027 Definition zu reden aber der Gipfel der Verkehrtheit wäre. Zu was pba_438.028 für propädeutischen, paränetischen, ja auch medizinischen, psychiatrischen pba_438.029 oder sonst irgendwie tendenziösen Anwendungen kann nicht ein Kunstwerk, pba_438.030 und namentlich ein poetisches, unter Umständen sich geeignet pba_438.031 erweisen, was alles doch das Wesen der Kunst ganz unberührt läßt. pba_438.032 Wird dagegen — wie es das gesamte psychologisch-ethische System pba_438.033 des Aristoteles verlangt — die Katharsis als eine an den Empfindungsvorgängen pba_438.034 sich vollziehende Ausscheidung dessen gefaßt, was ihnen pba_438.035 Störendes sich beizumischen beginnt, so stellt sich der Schluß der pba_438.036 aristotelischen Definition als ihr wesentlichster Bestandteil pba_438.037 heraus. Die Forderung, daß die Tragödie eine Furcht und Mitleid pba_438.038 erregende Handlung nachahme, die bei der Bernaysschen Auffassung pba_438.039 allein übrig bleibt und die seit der Erneuerung der aristotelischen Lehre pba_438.040 auch thatsächlich in dieser Lostrennung von der ihr so notwendig zu-

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/456>, abgerufen am 22.11.2024.