Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

pba_393.001
allein um zur höchsten Auszeichnung zu gelangen, sondern um überhaupt pba_393.002
nur ihr Ziel nicht gänzlich zu verfehlen, an den Dichter die pba_393.003
Forderung eines besonders reichen Maßes von Welt- und Menschenkenntnis pba_393.004
und namentlich auch künstlerischer Einsicht erhebt; es gilt hier pba_393.005
die Farben besonders fein zu mischen und einen durch den bloßen genialen pba_393.006
Jnstinkt nicht leicht innezuhaltenden schmalen Weg zwischen den pba_393.007
absolut zu vermeidenden Extremen der beiden Hauptgattungen hindurch pba_393.008
zu finden.

pba_393.009
Daß Shakespeare sich der Theorie dieser Kunstgattung deutlich pba_393.010
bewußt war, scheint nicht nur die bewunderungswürdige Leichtigkeit pba_393.011
und Sicherheit, mit der er sich auf der gefährlichen Bahn bewegt, zu pba_393.012
beweisen, sondern auch durch die Symbolik seines "Sturmes" bezeugt pba_393.013
zu werden.

pba_393.014
Wie kaum eine andere Form möchte diese dem weisheits- und maßvollen pba_393.015
Schönheitssinn Goethes entsprochen haben, auch seiner tief gegründeten pba_393.016
Abneigung gegen die Heftigkeit und Schwere der specifisch pba_393.017
tragischen Affekte. Und welch ein Feld bot sie seiner unerreichten Kunst pba_393.018
dar, direkt durch die bezaubernde Darstellung des Schönen zu wirken! pba_393.019
Ob nicht, wenn Lessing dieses Gebiet principiell angegriffen und mit pba_393.020
seinem Scharfsinn und mit seiner Autorität die Gesetze dafür aufgestellt pba_393.021
hätte, die Theorie hier einmal recht sichtbar der Produktion zu Hülfe pba_393.022
gekommen wäre?

pba_393.023
Statt dessen blieb nicht einmal auf dem Felde der Theorie des pba_393.024
Tragischen die von ihm geschaffene Klarheit ungetrübt; und ein bedeutender pba_393.025
Anteil an dieser Trübung ist keinem Geringeren zuzuschreiben, pba_393.026
als dem gewaltigsten Tragiker der deutschen Dichtung, unserem großen pba_393.027
Schiller!



pba_393.028
XXI.

pba_393.029
Nach dieser Durchforschung des Mittelgebietes lassen sich nun die pba_393.030
Bestimmungen, durch welche es gegen die Bereiche der Tragödie und pba_393.031
der Komödie abgegrenzt wird, mit Sicherheit feststellen.

pba_393.032
Das auf jenem Mittelgebiet sich bewegende "Schauspiel" charakterisiert pba_393.033
sich als eine Mischung der in den Hauptgattungen wirksamen pba_393.034
Jngredienzen, doch so, daß es die streitenden Affekte in ein höheres pba_393.035
Lustgefühl auflöst, sich also, das Wort in weiterem Sinne genommen, pba_393.036
überwiegend dem Lustspiele zuneigt. Nicht die übermächtige Wucht des pba_393.037
Schicksals bringt es zur Darstellung und Empfindung, aber es läßt den

pba_393.001
allein um zur höchsten Auszeichnung zu gelangen, sondern um überhaupt pba_393.002
nur ihr Ziel nicht gänzlich zu verfehlen, an den Dichter die pba_393.003
Forderung eines besonders reichen Maßes von Welt- und Menschenkenntnis pba_393.004
und namentlich auch künstlerischer Einsicht erhebt; es gilt hier pba_393.005
die Farben besonders fein zu mischen und einen durch den bloßen genialen pba_393.006
Jnstinkt nicht leicht innezuhaltenden schmalen Weg zwischen den pba_393.007
absolut zu vermeidenden Extremen der beiden Hauptgattungen hindurch pba_393.008
zu finden.

pba_393.009
Daß Shakespeare sich der Theorie dieser Kunstgattung deutlich pba_393.010
bewußt war, scheint nicht nur die bewunderungswürdige Leichtigkeit pba_393.011
und Sicherheit, mit der er sich auf der gefährlichen Bahn bewegt, zu pba_393.012
beweisen, sondern auch durch die Symbolik seines „Sturmes“ bezeugt pba_393.013
zu werden.

pba_393.014
Wie kaum eine andere Form möchte diese dem weisheits- und maßvollen pba_393.015
Schönheitssinn Goethes entsprochen haben, auch seiner tief gegründeten pba_393.016
Abneigung gegen die Heftigkeit und Schwere der specifisch pba_393.017
tragischen Affekte. Und welch ein Feld bot sie seiner unerreichten Kunst pba_393.018
dar, direkt durch die bezaubernde Darstellung des Schönen zu wirken! pba_393.019
Ob nicht, wenn Lessing dieses Gebiet principiell angegriffen und mit pba_393.020
seinem Scharfsinn und mit seiner Autorität die Gesetze dafür aufgestellt pba_393.021
hätte, die Theorie hier einmal recht sichtbar der Produktion zu Hülfe pba_393.022
gekommen wäre?

pba_393.023
Statt dessen blieb nicht einmal auf dem Felde der Theorie des pba_393.024
Tragischen die von ihm geschaffene Klarheit ungetrübt; und ein bedeutender pba_393.025
Anteil an dieser Trübung ist keinem Geringeren zuzuschreiben, pba_393.026
als dem gewaltigsten Tragiker der deutschen Dichtung, unserem großen pba_393.027
Schiller!



pba_393.028
XXI.

pba_393.029
Nach dieser Durchforschung des Mittelgebietes lassen sich nun die pba_393.030
Bestimmungen, durch welche es gegen die Bereiche der Tragödie und pba_393.031
der Komödie abgegrenzt wird, mit Sicherheit feststellen.

pba_393.032
Das auf jenem Mittelgebiet sich bewegende „Schauspiel“ charakterisiert pba_393.033
sich als eine Mischung der in den Hauptgattungen wirksamen pba_393.034
Jngredienzen, doch so, daß es die streitenden Affekte in ein höheres pba_393.035
Lustgefühl auflöst, sich also, das Wort in weiterem Sinne genommen, pba_393.036
überwiegend dem Lustspiele zuneigt. Nicht die übermächtige Wucht des pba_393.037
Schicksals bringt es zur Darstellung und Empfindung, aber es läßt den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0411" n="393"/><lb n="pba_393.001"/>
allein um zur höchsten Auszeichnung zu gelangen, sondern um überhaupt <lb n="pba_393.002"/>
nur ihr Ziel nicht gänzlich zu verfehlen, an den Dichter die <lb n="pba_393.003"/>
Forderung eines besonders reichen Maßes von Welt- und Menschenkenntnis <lb n="pba_393.004"/>
und namentlich auch künstlerischer Einsicht erhebt; es gilt hier <lb n="pba_393.005"/>
die Farben besonders fein zu mischen und einen durch den bloßen genialen <lb n="pba_393.006"/>
Jnstinkt nicht leicht innezuhaltenden schmalen Weg zwischen den <lb n="pba_393.007"/>
absolut zu vermeidenden Extremen der beiden Hauptgattungen hindurch <lb n="pba_393.008"/>
zu finden.</p>
        <p><lb n="pba_393.009"/>
Daß <hi rendition="#g">Shakespeare</hi> sich der Theorie dieser Kunstgattung deutlich <lb n="pba_393.010"/>
bewußt war, scheint nicht nur die bewunderungswürdige Leichtigkeit <lb n="pba_393.011"/>
und Sicherheit, mit der er sich auf der gefährlichen Bahn bewegt, zu <lb n="pba_393.012"/>
beweisen, sondern auch durch die Symbolik seines &#x201E;Sturmes&#x201C; bezeugt <lb n="pba_393.013"/>
zu werden.</p>
        <p><lb n="pba_393.014"/>
Wie kaum eine andere Form möchte diese dem weisheits- und maßvollen <lb n="pba_393.015"/>
Schönheitssinn <hi rendition="#g">Goethes</hi> entsprochen haben, auch seiner tief gegründeten <lb n="pba_393.016"/>
Abneigung gegen die Heftigkeit und Schwere der specifisch <lb n="pba_393.017"/>
tragischen Affekte. Und welch ein Feld bot sie seiner unerreichten Kunst <lb n="pba_393.018"/>
dar, direkt durch die bezaubernde Darstellung des Schönen zu wirken! <lb n="pba_393.019"/>
Ob nicht, wenn <hi rendition="#g">Lessing</hi> dieses Gebiet principiell angegriffen und mit <lb n="pba_393.020"/>
seinem Scharfsinn und mit seiner Autorität die Gesetze dafür aufgestellt <lb n="pba_393.021"/>
hätte, die Theorie hier einmal recht sichtbar der Produktion zu Hülfe <lb n="pba_393.022"/>
gekommen wäre?</p>
        <p><lb n="pba_393.023"/>
Statt dessen blieb nicht einmal auf dem Felde der Theorie des <lb n="pba_393.024"/>
Tragischen die von ihm geschaffene Klarheit ungetrübt; und ein bedeutender <lb n="pba_393.025"/>
Anteil an dieser Trübung ist keinem Geringeren zuzuschreiben, <lb n="pba_393.026"/>
als dem gewaltigsten Tragiker der deutschen Dichtung, unserem großen <lb n="pba_393.027"/> <hi rendition="#g">Schiller!</hi></p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <lb n="pba_393.028"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#c">XXI.</hi> </head>
        <p><lb n="pba_393.029"/>
Nach dieser Durchforschung des Mittelgebietes lassen sich nun die <lb n="pba_393.030"/>
Bestimmungen, durch welche es gegen die Bereiche der Tragödie und <lb n="pba_393.031"/>
der Komödie abgegrenzt wird, mit Sicherheit feststellen.</p>
        <p><lb n="pba_393.032"/>
Das auf jenem Mittelgebiet sich bewegende &#x201E;<hi rendition="#g">Schauspiel</hi>&#x201C; charakterisiert <lb n="pba_393.033"/>
sich als eine Mischung der in den Hauptgattungen wirksamen <lb n="pba_393.034"/>
Jngredienzen, doch so, daß es die streitenden Affekte in ein höheres <lb n="pba_393.035"/>
Lustgefühl auflöst, sich also, das Wort in weiterem Sinne genommen, <lb n="pba_393.036"/>
überwiegend dem Lustspiele zuneigt. Nicht die übermächtige Wucht des <lb n="pba_393.037"/>
Schicksals bringt es zur Darstellung und Empfindung, aber es läßt den
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[393/0411] pba_393.001 allein um zur höchsten Auszeichnung zu gelangen, sondern um überhaupt pba_393.002 nur ihr Ziel nicht gänzlich zu verfehlen, an den Dichter die pba_393.003 Forderung eines besonders reichen Maßes von Welt- und Menschenkenntnis pba_393.004 und namentlich auch künstlerischer Einsicht erhebt; es gilt hier pba_393.005 die Farben besonders fein zu mischen und einen durch den bloßen genialen pba_393.006 Jnstinkt nicht leicht innezuhaltenden schmalen Weg zwischen den pba_393.007 absolut zu vermeidenden Extremen der beiden Hauptgattungen hindurch pba_393.008 zu finden. pba_393.009 Daß Shakespeare sich der Theorie dieser Kunstgattung deutlich pba_393.010 bewußt war, scheint nicht nur die bewunderungswürdige Leichtigkeit pba_393.011 und Sicherheit, mit der er sich auf der gefährlichen Bahn bewegt, zu pba_393.012 beweisen, sondern auch durch die Symbolik seines „Sturmes“ bezeugt pba_393.013 zu werden. pba_393.014 Wie kaum eine andere Form möchte diese dem weisheits- und maßvollen pba_393.015 Schönheitssinn Goethes entsprochen haben, auch seiner tief gegründeten pba_393.016 Abneigung gegen die Heftigkeit und Schwere der specifisch pba_393.017 tragischen Affekte. Und welch ein Feld bot sie seiner unerreichten Kunst pba_393.018 dar, direkt durch die bezaubernde Darstellung des Schönen zu wirken! pba_393.019 Ob nicht, wenn Lessing dieses Gebiet principiell angegriffen und mit pba_393.020 seinem Scharfsinn und mit seiner Autorität die Gesetze dafür aufgestellt pba_393.021 hätte, die Theorie hier einmal recht sichtbar der Produktion zu Hülfe pba_393.022 gekommen wäre? pba_393.023 Statt dessen blieb nicht einmal auf dem Felde der Theorie des pba_393.024 Tragischen die von ihm geschaffene Klarheit ungetrübt; und ein bedeutender pba_393.025 Anteil an dieser Trübung ist keinem Geringeren zuzuschreiben, pba_393.026 als dem gewaltigsten Tragiker der deutschen Dichtung, unserem großen pba_393.027 Schiller! pba_393.028 XXI. pba_393.029 Nach dieser Durchforschung des Mittelgebietes lassen sich nun die pba_393.030 Bestimmungen, durch welche es gegen die Bereiche der Tragödie und pba_393.031 der Komödie abgegrenzt wird, mit Sicherheit feststellen. pba_393.032 Das auf jenem Mittelgebiet sich bewegende „Schauspiel“ charakterisiert pba_393.033 sich als eine Mischung der in den Hauptgattungen wirksamen pba_393.034 Jngredienzen, doch so, daß es die streitenden Affekte in ein höheres pba_393.035 Lustgefühl auflöst, sich also, das Wort in weiterem Sinne genommen, pba_393.036 überwiegend dem Lustspiele zuneigt. Nicht die übermächtige Wucht des pba_393.037 Schicksals bringt es zur Darstellung und Empfindung, aber es läßt den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/411
Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/411>, abgerufen am 23.11.2024.