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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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plikationen und sodann der selbst der höchsten Kraft und dem stärksten pba_338.002
Willen gesellten Fehler und Mängel an Einsicht, Klugheit, Besonnenheit; pba_338.003
gerade diese entscheiden vornehmlich den äußern Erfolg.

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Jmmer also bleibt die für die dichterische Technik ungemein wichtige pba_338.005
Frage zu beantworten: sind Handlungen von reiner moralischer pba_338.006
Güte mit glücklichem Ausgange für die Nachahmung pba_338.007
geeignet? Und wenn sie es nicht sind, welches sind die pba_338.008
Gründe dafür?

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Man sollte glauben, daß, wenn solche Handlungen aus einer entsprechenden pba_338.010
Empfindungs- und Gesinnungsweise hervorgehen, nicht aus pba_338.011
einem der entgegenstehenden Neigung mühsam abgerungenen Entschlusse, pba_338.012
sie auch in der Nachahmung erfreulich wirken müßten; und wären sie pba_338.013
obenein nun auch noch für die Handelnden die Quelle ihres Glückes, pba_338.014
so müßte die wohlgefällige Befriedigung sich nur noch steigern. Befragt pba_338.015
man nun zunächst die Erfahrung, so lautet die Antwort insofern völlig pba_338.016
bestätigend, als eine eigene dramatische Gattung offenbar diesen Reflexionen pba_338.017
ihren Ursprung verdankt, die Jahrhunderte hindurch sich unter pba_338.018
großem und allgemeinem Beifall behauptet hat: das sogenannte Schäferspiel pba_338.019
und die ihm verwandten dramatischen Arten. Andrerseits jedoch pba_338.020
lehrt die Erfahrung, daß der Geschmack diese idyllischen Darstellungen pba_338.021
schöner Empfindungen, edler Gesinnungen und tugendhafter Entschlüsse pba_338.022
seit langem entschieden verworfen hat, und daß die dramatische Kunst, pba_338.023
wie es scheint, keineswegs sich bestrebt gezeigt hat, einen Ersatz dafür pba_338.024
zu schaffen.

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Ferner: sollte, was dem Epos gestattet ist, dem Drama verschlossen pba_338.026
sein? Sollte es für das Jdyll, welches die höchsten dichterischen Leistungen pba_338.027
aufweist, in der dramatischen Dichtung etwas Entsprechendes pba_338.028
nicht geben, ein Stoff, wie Goethes "Hermann und Dorothea" für die pba_338.029
Bühne ganz undenkbar sein?

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Die Frage ist, ihrer Bedeutsamkeit entsprechend, sehr kompliziert, pba_338.031
und es wird erforderlich sein, sie in ihre einfachen Bestandteile auseinanderzulegen.

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Handlungen, die aus absolut vollkommenen Empfindungen, pba_338.034
Gesinnungen und Entschlüssen
hervorgehen, sind pba_338.035
menschlich unwahr, also von jeder Art der Nachahmung auszuschließen.

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Dagegen sind Handlungen sehr wohl denkbar, die von einer einzelnen pba_338.038
absolut richtigen Empfindung,
wie der Moment sie pba_338.039
eingibt, diktiert werden. Aber, wie sie sittlich ohne Wert sind, da der pba_338.040
nächste Moment eine andere, ja die entgegengesetzte Empfindung hervor-

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Willen gesellten Fehler und Mängel an Einsicht, Klugheit, Besonnenheit; pba_338.003
gerade diese entscheiden vornehmlich den äußern Erfolg.

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Jmmer also bleibt die für die dichterische Technik ungemein wichtige pba_338.005
Frage zu beantworten: sind Handlungen von reiner moralischer pba_338.006
Güte mit glücklichem Ausgange für die Nachahmung pba_338.007
geeignet? Und wenn sie es nicht sind, welches sind die pba_338.008
Gründe dafür?

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Man sollte glauben, daß, wenn solche Handlungen aus einer entsprechenden pba_338.010
Empfindungs- und Gesinnungsweise hervorgehen, nicht aus pba_338.011
einem der entgegenstehenden Neigung mühsam abgerungenen Entschlusse, pba_338.012
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und die ihm verwandten dramatischen Arten. Andrerseits jedoch pba_338.020
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wie es scheint, keineswegs sich bestrebt gezeigt hat, einen Ersatz dafür pba_338.024
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Ferner: sollte, was dem Epos gestattet ist, dem Drama verschlossen pba_338.026
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aufweist, in der dramatischen Dichtung etwas Entsprechendes pba_338.028
nicht geben, ein Stoff, wie Goethes „Hermann und Dorothea“ für die pba_338.029
Bühne ganz undenkbar sein?

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Die Frage ist, ihrer Bedeutsamkeit entsprechend, sehr kompliziert, pba_338.031
und es wird erforderlich sein, sie in ihre einfachen Bestandteile auseinanderzulegen.

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menschlich unwahr, also von jeder Art der Nachahmung auszuschließen.

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Dagegen sind Handlungen sehr wohl denkbar, die von einer einzelnen pba_338.038
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/356>, abgerufen am 04.05.2024.