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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Sachs fallen die beiden Dichtungsgattungen so gut zusammen, wie ehemals pba_323.002
bei Stricker. Und wie die Moral oft in ein Sprichwort ausläuft, pba_323.003
so kann jetzt auch umgekehrt das Sprichwort an die Spitze gestellt und pba_323.004
durch Fabeln und kleine Geschichten erläutert werden. Das ist die pba_323.005
Form, in welcher das sechzehnte Jahrhundert Lehrgedichte wie Freidanks pba_323.006
Bescheidenheit fortsetzt: allerlei didaktischer, anekdotischer, novellistischer pba_323.007
Stoff, Scherz und Ernst, Poesie und Prosa in buntem Wechsel an dem pba_323.008
Faden von Sprichwörtern, sprichwörtlichen Redensarten, auch wohl pba_323.009
selbstgemachten Sentenzen aufgereiht." -- Solche Sammlungen machten pba_323.010
Johann Agricola von Eisleben und Sebastian Franck.

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"Jndessen hatte sich die Unterhaltungslitteratur in Prosa längst pba_323.012
auf eigene Füße gestellt. Die mittelalterliche Masse von kleinen Erzählungen, pba_323.013
wie sie in den Predigten als Beispiele gebraucht worden pba_323.014
waren, sammelte Johannes Pauli in seinem Buche ,Schimpf und pba_323.015
Ernst', das 1522 erschien. Und die lateinischen, großenteils sehr unanständigen pba_323.016
Schwänke der Humanisten, eines Poggio, eines Bebel wurden die pba_323.017
Grundlage späterer deutscher Sammlungen, die aber auch aus mündlicher pba_323.018
Erzählung, aus Boccaccio und andern Quellen schöpften. Jn den Jahren pba_323.019
1555 bis 1563 traten nicht weniger als acht solcher Sammlungen mit pba_323.020
lockenden Titeln hervor: Wickrams ,Rollwagenbüchlein', Freys ,Gartengesellschaft', pba_323.021
Montanus ,Wegkürzer' und ,ander Theil der Gartengesellschaft', pba_323.022
Lindeners ,Katzipori' und ,Rastbüchlein', Schumanns ,Nachtbüchlein', pba_323.023
Kirchhofs ,Wendunmuth'."

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Eine ganz analoge Entwickelung wie die hier geschilderte vollzog pba_323.025
sich im dreizehnten Jahrhundert in Frankreich; nur mit dem höchst bedeutenden pba_323.026
Unterschiede, daß die altfranzösische Heiterkeit und Lust am pba_323.027
Fabulieren hier von früh an den Körper der Erzählung zum Hauptgegenstande pba_323.028
machte und ihn mit Glanz und Anmut zu schmücken wußte. pba_323.029
Wie die deutschen "Schwänke" geben die französischen "Fabliaux" ein pba_323.030
getreues Bild des bürgerlichen Lebens der Epoche; wie jene sind sie zur pba_323.031
Satire gegen Adel und Geistlichkeit geneigt, aber eben in der echt französischen pba_323.032
Weise, der es mit solcher Opposition mehr um ein jeu d'esprit pba_323.033
als um bitteren Ernst zu thun war.1 "Neckisch und beißend, aber pba_323.034
durchaus nicht scharf untersuchend, mehr geneigt, über ihre Gegner zu pba_323.035
lachen, als ihre Gründe zu widerlegen, unwiderstehlich zur Opposition pba_323.036
getrieben, ohne jedoch der Autorität entraten zu können, verspotteten pba_323.037
und neckten die Franzosen schon im Mittelalter die Priester, denen sie

1 pba_323.038
Vgl. hier und im folgenden Kreyssig, Gesch. d. französ. Nationallitteratur, pba_323.039
1866, S. 38 ff.

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Sachs fallen die beiden Dichtungsgattungen so gut zusammen, wie ehemals pba_323.002
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Johann Agricola von Eisleben und Sebastian Franck.

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„Jndessen hatte sich die Unterhaltungslitteratur in Prosa längst pba_323.012
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Schwänke der Humanisten, eines Poggio, eines Bebel wurden die pba_323.017
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1555 bis 1563 traten nicht weniger als acht solcher Sammlungen mit pba_323.020
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Kirchhofs ‚Wendunmuth‘.“

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Eine ganz analoge Entwickelung wie die hier geschilderte vollzog pba_323.025
sich im dreizehnten Jahrhundert in Frankreich; nur mit dem höchst bedeutenden pba_323.026
Unterschiede, daß die altfranzösische Heiterkeit und Lust am pba_323.027
Fabulieren hier von früh an den Körper der Erzählung zum Hauptgegenstande pba_323.028
machte und ihn mit Glanz und Anmut zu schmücken wußte. pba_323.029
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1 pba_323.038
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[323/0341] pba_323.001 Sachs fallen die beiden Dichtungsgattungen so gut zusammen, wie ehemals pba_323.002 bei Stricker. Und wie die Moral oft in ein Sprichwort ausläuft, pba_323.003 so kann jetzt auch umgekehrt das Sprichwort an die Spitze gestellt und pba_323.004 durch Fabeln und kleine Geschichten erläutert werden. Das ist die pba_323.005 Form, in welcher das sechzehnte Jahrhundert Lehrgedichte wie Freidanks pba_323.006 Bescheidenheit fortsetzt: allerlei didaktischer, anekdotischer, novellistischer pba_323.007 Stoff, Scherz und Ernst, Poesie und Prosa in buntem Wechsel an dem pba_323.008 Faden von Sprichwörtern, sprichwörtlichen Redensarten, auch wohl pba_323.009 selbstgemachten Sentenzen aufgereiht.“ — Solche Sammlungen machten pba_323.010 Johann Agricola von Eisleben und Sebastian Franck. pba_323.011 „Jndessen hatte sich die Unterhaltungslitteratur in Prosa längst pba_323.012 auf eigene Füße gestellt. Die mittelalterliche Masse von kleinen Erzählungen, pba_323.013 wie sie in den Predigten als Beispiele gebraucht worden pba_323.014 waren, sammelte Johannes Pauli in seinem Buche ‚Schimpf und pba_323.015 Ernst‘, das 1522 erschien. Und die lateinischen, großenteils sehr unanständigen pba_323.016 Schwänke der Humanisten, eines Poggio, eines Bebel wurden die pba_323.017 Grundlage späterer deutscher Sammlungen, die aber auch aus mündlicher pba_323.018 Erzählung, aus Boccaccio und andern Quellen schöpften. Jn den Jahren pba_323.019 1555 bis 1563 traten nicht weniger als acht solcher Sammlungen mit pba_323.020 lockenden Titeln hervor: Wickrams ‚Rollwagenbüchlein‘, Freys ‚Gartengesellschaft‘, pba_323.021 Montanus ‚Wegkürzer‘ und ‚ander Theil der Gartengesellschaft‘, pba_323.022 Lindeners ‚Katzipori‘ und ‚Rastbüchlein‘, Schumanns ‚Nachtbüchlein‘, pba_323.023 Kirchhofs ‚Wendunmuth‘.“ pba_323.024 Eine ganz analoge Entwickelung wie die hier geschilderte vollzog pba_323.025 sich im dreizehnten Jahrhundert in Frankreich; nur mit dem höchst bedeutenden pba_323.026 Unterschiede, daß die altfranzösische Heiterkeit und Lust am pba_323.027 Fabulieren hier von früh an den Körper der Erzählung zum Hauptgegenstande pba_323.028 machte und ihn mit Glanz und Anmut zu schmücken wußte. pba_323.029 Wie die deutschen „Schwänke“ geben die französischen „Fabliaux“ ein pba_323.030 getreues Bild des bürgerlichen Lebens der Epoche; wie jene sind sie zur pba_323.031 Satire gegen Adel und Geistlichkeit geneigt, aber eben in der echt französischen pba_323.032 Weise, der es mit solcher Opposition mehr um ein jeu d'esprit pba_323.033 als um bitteren Ernst zu thun war. 1 „Neckisch und beißend, aber pba_323.034 durchaus nicht scharf untersuchend, mehr geneigt, über ihre Gegner zu pba_323.035 lachen, als ihre Gründe zu widerlegen, unwiderstehlich zur Opposition pba_323.036 getrieben, ohne jedoch der Autorität entraten zu können, verspotteten pba_323.037 und neckten die Franzosen schon im Mittelalter die Priester, denen sie 1 pba_323.038 Vgl. hier und im folgenden Kreyssig, Gesch. d. französ. Nationallitteratur, pba_323.039 1866, S. 38 ff.

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/341>, abgerufen am 25.11.2024.