Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_309.001 pba_309.018
auf den Kern der Handlung zu beschränken, auch nur für die Hauptpersonen Vollständigkeit pba_309.019 der sie betreffenden Mitteilungen zu erstreben. Und Jring gehört nicht pba_309.020 einmal zu diesen. Zu welchem Extrem cyklischer Stoffanhäufung würde das hier vermißte pba_309.021 Verfahren führen! 3) Wie viele Strophen des Gedichtes werden von Lachmann pba_309.022 erbarmungslos dem in Str. 1861, 3 enthaltenen "Widerspruche" geopfert, einem seiner pba_309.023 Hauptargumente gegen die einheitliche Komposition des Liedes! ,Ich was ein wenic pba_309.024 kindel, do Seifrit vlos den leip,' sagt dort Dankwart; und es ist natürlich eine Ungereimtheit, pba_309.025 daß er, Hagens Bruder, Chriemhildens Oheim, nach allem, was die früheren pba_309.026 Gesänge von ihm melden, bei Siegfrieds Ermordung im jugendlichen Knappenalter gestanden pba_309.027 haben soll. Vielmehr ist er schon zu jener Zeit als ein älterer Mann zu denken, pba_309.028 und seitdem sind zwanzig Jahre verflossen. Nun erwäge man aber unbefangen die pba_309.029 Situation! Dankwart ist genau von dem bevorstehenden Überfall der Heunen pba_309.030 unterrichtet (vgl. 1864, 65), er kennt alle Nebenumstände des Mordplanes und ist pba_309.031 auf den grimmigsten Kampf gefaßt. Höhnend ruft er, als er Blödel den Kopf heruntergeschlagen, pba_309.032 ihm nach: ,daz sei dein morgengabe zuo Nuodunges briute, der du mit pba_309.033 minne woldest phlegen. Man mac si morgen mehelen einem andern man: wil pba_309.034 er die brautmiete, dem wirt alsam getan.' Nun stelle man sich den graubärtigen, pba_309.035 grimmen Recken vor, dem von vorneherein und nun vollends nach allem, was geschehen pba_309.036 ist, nichts ferner liegt, als dem unvermeidlichen Kampf aus dem Wege zu gehen oder pba_309.037 gar sich persönlich zu exkulpieren, wie kann man aus seinem Munde die Worte ,ich pba_309.038 was ein wenic kindel, do Seifrit vlos den leip: ine weiz niht waz mir weizet des pba_309.039 künic Etzelen weip,' anders verstehen wie als offenbaren Spott, Hohn ins Angesicht pba_309.040 des Feindes! Und ebenso das folgende: ,so enwelt ir niht erwinden? so riwet pba_309.041 mich mein vlegen: daz waere baz gespart': wie kann man darin die höhnende pba_309.042 Jronie verkennen und jenen grimmigen Humor, der in solchen Lagen den Recken der pba_309.043 deutschen Volksepen eigentümlich ist! pba_309.001 pba_309.018
auf den Kern der Handlung zu beschränken, auch nur für die Hauptpersonen Vollständigkeit pba_309.019 der sie betreffenden Mitteilungen zu erstreben. Und Jring gehört nicht pba_309.020 einmal zu diesen. Zu welchem Extrem cyklischer Stoffanhäufung würde das hier vermißte pba_309.021 Verfahren führen! 3) Wie viele Strophen des Gedichtes werden von Lachmann pba_309.022 erbarmungslos dem in Str. 1861, 3 enthaltenen „Widerspruche“ geopfert, einem seiner pba_309.023 Hauptargumente gegen die einheitliche Komposition des Liedes! ‚Ich was ein wênic pba_309.024 kindel, do Sîfrit vlôs den lîp,‘ sagt dort Dankwart; und es ist natürlich eine Ungereimtheit, pba_309.025 daß er, Hagens Bruder, Chriemhildens Oheim, nach allem, was die früheren pba_309.026 Gesänge von ihm melden, bei Siegfrieds Ermordung im jugendlichen Knappenalter gestanden pba_309.027 haben soll. Vielmehr ist er schon zu jener Zeit als ein älterer Mann zu denken, pba_309.028 und seitdem sind zwanzig Jahre verflossen. Nun erwäge man aber unbefangen die pba_309.029 Situation! Dankwart ist genau von dem bevorstehenden Überfall der Heunen pba_309.030 unterrichtet (vgl. 1864, 65), er kennt alle Nebenumstände des Mordplanes und ist pba_309.031 auf den grimmigsten Kampf gefaßt. Höhnend ruft er, als er Blödel den Kopf heruntergeschlagen, pba_309.032 ihm nach: ‚daz sî dîn morgengâbe zuo Nuodunges briute, der du mit pba_309.033 minne woldest phlegen. Man mac si morgen mehelen einem andern man: wil pba_309.034 er die brûtmiete, dem wirt alsam getân.‘ Nun stelle man sich den graubärtigen, pba_309.035 grimmen Recken vor, dem von vorneherein und nun vollends nach allem, was geschehen pba_309.036 ist, nichts ferner liegt, als dem unvermeidlichen Kampf aus dem Wege zu gehen oder pba_309.037 gar sich persönlich zu exkulpieren, wie kann man aus seinem Munde die Worte ‚ich pba_309.038 was ein wênic kindel, dô Sîfrit vlôs den lîp: ine weiz niht waz mir wîzet des pba_309.039 künic Etzelen wîp,‘ anders verstehen wie als offenbaren Spott, Hohn ins Angesicht pba_309.040 des Feindes! Und ebenso das folgende: ‚so enwelt ir niht erwinden? sô riwet pba_309.041 mich mîn vlêgen: daz waere baz gespart‘: wie kann man darin die höhnende pba_309.042 Jronie verkennen und jenen grimmigen Humor, der in solchen Lagen den Recken der pba_309.043 deutschen Volksepen eigentümlich ist! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0327" n="309"/><lb n="pba_309.001"/> einer der romantischen Poesie verwandten, überwiegend äußerlichen Behandlungsweise <lb n="pba_309.002"/> verfielen. Ein schneller Verfall war für diese ganze <lb n="pba_309.003"/> Dichtung eine unabwendbare innere Notwendigkeit, da die gesamte <lb n="pba_309.004"/> Romantik auf dem irrealen Boden der Phantastik steht. Schon betreffs <lb n="pba_309.005"/> der wirklichen Lebensverhältnisse zur Zeit der Blüte jener Poesie zeigt <lb n="pba_309.006"/> sich die Herrschaft der Phantasie, die dem spezifisch romantischen Ethos <lb n="pba_309.007"/> entspringt, in der Standesexclusivität der ritterlichen Gesellschaft, in der <lb n="pba_309.008"/> Negation zahlreicher natürlicher Rechte, auf der ihre Existenz beruht, <lb n="pba_309.009"/> und in der Willkürlichkeit ihrer Sitte und ihres Ehrbegriffes. Jn der <lb n="pba_309.010"/> Dichtung mußte diese Phantastik eine schrankenlose Steigerung nach der <lb n="pba_309.011"/> Seite des dem romantischen Ethos Verwandten, Erwünschten erfahren, <lb n="pba_309.012"/> und eine ungemessene Produktion mußte nach dieser Richtung sich entfalten. <lb n="pba_309.013"/> Unter dem doppelt fördernden Einfluß der kirchlichen Mystik <lb n="pba_309.014"/> und der zunehmenden Verbindung mit dem Orient erlangte das dieser <lb n="pba_309.015"/> Stimmung und Gesinnungsweise dienstbare Wunder, welches alle äußeren <lb n="pba_309.016"/> Hindernisse der Phantasie aufhebt, eine so ausgedehnte Herrschaft, daß <lb n="pba_309.017"/> es geradezu die Wirklichkeit, Natur und ihre Gesetze verdrängt und sich <note xml:id="pba_308_1b" prev="#pba_308_1a" place="foot" n="1"><lb n="pba_309.018"/> auf den Kern der Handlung zu beschränken, auch nur für die Hauptpersonen Vollständigkeit <lb n="pba_309.019"/> der sie betreffenden Mitteilungen zu erstreben. 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einer der romantischen Poesie verwandten, überwiegend äußerlichen Behandlungsweise pba_309.002
verfielen. Ein schneller Verfall war für diese ganze pba_309.003
Dichtung eine unabwendbare innere Notwendigkeit, da die gesamte pba_309.004
Romantik auf dem irrealen Boden der Phantastik steht. Schon betreffs pba_309.005
der wirklichen Lebensverhältnisse zur Zeit der Blüte jener Poesie zeigt pba_309.006
sich die Herrschaft der Phantasie, die dem spezifisch romantischen Ethos pba_309.007
entspringt, in der Standesexclusivität der ritterlichen Gesellschaft, in der pba_309.008
Negation zahlreicher natürlicher Rechte, auf der ihre Existenz beruht, pba_309.009
und in der Willkürlichkeit ihrer Sitte und ihres Ehrbegriffes. Jn der pba_309.010
Dichtung mußte diese Phantastik eine schrankenlose Steigerung nach der pba_309.011
Seite des dem romantischen Ethos Verwandten, Erwünschten erfahren, pba_309.012
und eine ungemessene Produktion mußte nach dieser Richtung sich entfalten. pba_309.013
Unter dem doppelt fördernden Einfluß der kirchlichen Mystik pba_309.014
und der zunehmenden Verbindung mit dem Orient erlangte das dieser pba_309.015
Stimmung und Gesinnungsweise dienstbare Wunder, welches alle äußeren pba_309.016
Hindernisse der Phantasie aufhebt, eine so ausgedehnte Herrschaft, daß pba_309.017
es geradezu die Wirklichkeit, Natur und ihre Gesetze verdrängt und sich 1
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auf den Kern der Handlung zu beschränken, auch nur für die Hauptpersonen Vollständigkeit pba_309.019
der sie betreffenden Mitteilungen zu erstreben. Und Jring gehört nicht pba_309.020
einmal zu diesen. Zu welchem Extrem cyklischer Stoffanhäufung würde das hier vermißte pba_309.021
Verfahren führen! 3) Wie viele Strophen des Gedichtes werden von Lachmann pba_309.022
erbarmungslos dem in Str. 1861, 3 enthaltenen „Widerspruche“ geopfert, einem seiner pba_309.023
Hauptargumente gegen die einheitliche Komposition des Liedes! ‚Ich was ein wênic pba_309.024
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daß er, Hagens Bruder, Chriemhildens Oheim, nach allem, was die früheren pba_309.026
Gesänge von ihm melden, bei Siegfrieds Ermordung im jugendlichen Knappenalter gestanden pba_309.027
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und seitdem sind zwanzig Jahre verflossen. Nun erwäge man aber unbefangen die pba_309.029
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unterrichtet (vgl. 1864, 65), er kennt alle Nebenumstände des Mordplanes und ist pba_309.031
auf den grimmigsten Kampf gefaßt. Höhnend ruft er, als er Blödel den Kopf heruntergeschlagen, pba_309.032
ihm nach: ‚daz sî dîn morgengâbe zuo Nuodunges briute, der du mit pba_309.033
minne woldest phlegen. Man mac si morgen mehelen einem andern man: wil pba_309.034
er die brûtmiete, dem wirt alsam getân.‘ Nun stelle man sich den graubärtigen, pba_309.035
grimmen Recken vor, dem von vorneherein und nun vollends nach allem, was geschehen pba_309.036
ist, nichts ferner liegt, als dem unvermeidlichen Kampf aus dem Wege zu gehen oder pba_309.037
gar sich persönlich zu exkulpieren, wie kann man aus seinem Munde die Worte ‚ich pba_309.038
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künic Etzelen wîp,‘ anders verstehen wie als offenbaren Spott, Hohn ins Angesicht pba_309.040
des Feindes! Und ebenso das folgende: ‚so enwelt ir niht erwinden? sô riwet pba_309.041
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Jronie verkennen und jenen grimmigen Humor, der in solchen Lagen den Recken der pba_309.043
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Zitationshilfe: | Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/327>, abgerufen am 16.02.2025. |