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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Für die Abschilderung des Fehlerhaften und Deformen boten sich pba_252.002
in dem rings umgebenden täglichen Leben hundert- und tausendfach die pba_252.003
Vorbilder, umsomehr da man ohne viele künstlerische Wahl fast alle pba_252.004
Arten von Fehlern für die komische Dichtung verwenden zu dürfen pba_252.005
glaubte. Man gewann damit wenigstens eine relative Wahrheit und pba_252.006
einen höheren Grad von Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit der Erzählung; pba_252.007
ferner stellten sich leicht allerlei witzige Wendungen und mannigfache pba_252.008
satirische Anspielungen als Würze auch des an sich völlig Unschmackhaften pba_252.009
ein; endlich glaubte man durch Hervorhebung der Fehler, Untugenden pba_252.010
und Laster am besten dem großen Hauptzweck der Poesie, die pba_252.011
Menschen zur Besserung zu führen, dienen zu können und diesen Zweck pba_252.012
um so sicherer durch die ausdrückliche Beifügung der Moral und durch pba_252.013
möglichst grell hervorgehobene erbauliche oder rührende Züge von Rechtlichkeit, pba_252.014
Tugend und Edelmut zu erreichen.

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Zu einer Zeit, als alle Epik so gut wie ganz erstorben war, begann pba_252.016
auf dem so umschriebenen Gebiete ein fleißiger Anbau, zunächst in Versuchen pba_252.017
von geringem Umfange, dann aber auch in weiterer Ausführung, pba_252.018
und indem hierbei, durch die Muster des Auslands gefördert, die Technik pba_252.019
des Erzählens sich vervollkommnete und die Lust daran wuchs, begann pba_252.020
allmählich die Erzählung der Handlung als solche, wenn auch immer pba_252.021
noch an die moralisierende Tendenz geknüpft, über dieselbe die Oberhand pba_252.022
zu gewinnen, und man gelangte auf solche Art in der Epik zu einer pba_252.023
Kunstübung, die, wenn sie auch von der echten Poesie noch weit abstand, pba_252.024
doch viele wesentliche Vorzüge derselben in sich vereinigte. Auf dieser pba_252.025
Stufe stellt sich in den siebziger und achtziger Jahren die eigenartig aus pba_252.026
feinsinniger Beweglichkeit und einer gewissen, etwas altväterisch nüchternen, pba_252.027
Steifheit gemischte Erscheinung Wielands dar.



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XV.

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Die unvergleichliche Popularität Gellerts beruht auf seiner, im pba_252.030
Sinne der Zeit und ihres poetischen Standpunktes, überaus geschickten pba_252.031
Handhabung der komischen poetischen Erzählung, denn daß die pba_252.032
überwiegende Mehrzahl seiner Gedichte dieser Gattung zugehört und pba_252.033
nicht der eigentlichen Fabel, ist nach dem Vorhergehenden klar. Die pba_252.034
Gattung ist nicht neu: es ist die dem Geschmack der Zeit angepaßte pba_252.035
Einrichtung des alten "Schwankes" des Meistersängers Hans Sachs. pba_252.036
Zu Grunde liegt als Stoff das Material, das an Anekdoten und einzelnen pba_252.037
komischen Zügen, Apophthegmen, Geschichten sich jahrhundertelang

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Für die Abschilderung des Fehlerhaften und Deformen boten sich pba_252.002
in dem rings umgebenden täglichen Leben hundert- und tausendfach die pba_252.003
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Tugend und Edelmut zu erreichen.

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Zu einer Zeit, als alle Epik so gut wie ganz erstorben war, begann pba_252.016
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von geringem Umfange, dann aber auch in weiterer Ausführung, pba_252.018
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Stufe stellt sich in den siebziger und achtziger Jahren die eigenartig aus pba_252.026
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Die unvergleichliche Popularität Gellerts beruht auf seiner, im pba_252.030
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/270>, abgerufen am 02.05.2024.