pba_232.001 arger Mißgriff auf diesen Gebieten eine Quelle des Lächerlichen, und pba_232.002 zwar um so reicher fließend, je mehr der Urteilende wissend und geschickt pba_232.003 ist, dagegen ganz verschlossen für den Unwissenden und Ungeschickten. pba_232.004 Ferner wird die lächerliche Wirkung durch jede ihr anhaftende Schädlichkeit pba_232.005 oder Schmerzlichkeit objektiv aufgehoben oder sie wird subjektiv beeinträchtigt, pba_232.006 wenn sie dem Einzelnen für seine Person sich derartig fühlbar pba_232.007 macht; und endlich wird das Lächerliche selbst in solchem Falle wieder pba_232.008 hergestellt, sobald der Fall losgelöst von allen andern Beziehungen ganz pba_232.009 allein unter dem Gesichtspunkte des Mangels an Wissen und Geschick pba_232.010 vorgetragen wird. Weil nun aber von einem Defekt nur da die Rede pba_232.011 sein kann, wo man ein Recht hat Vollständigkeit vorauszusetzen, von pba_232.012 einer Fehlerhaftigkeit (amartema), also nur, wo man Richtigkeit,pba_232.013 von einer Deformität (aiskhos) nur, wo man Uebereinstimmungpba_232.014 mit Recht erwartet -- (bei einem Kinde ist Mangel an Wissen und pba_232.015 Sitte kein Fehler, bei einem seiner Gattung gemäß geformten Naturdinge pba_232.016 das unsern Schönheitsbegriffen Widersprechende keine Deformität,pba_232.017 nur mit Unrecht "Häßlichkeit" genannt nach einer dem Wesen pba_232.018 des Dinges ganz fremden Analogie!) --, so ist von den modernen Erklärern pba_232.019 in diese eine dem Begriff notwendig anhaftende Eigenschaft das pba_232.020 Wesen des Begriffes selbst gesetzt, indem man das Lächerliche durchweg pba_232.021 als einen Kontrast definierte, entweder wie Lessing als einen Kontrast pba_232.022 von "Mangel und Realität",1 oder wie Goethe als einen "sittlichen" pba_232.023 Kontrast, wo "sittlich" wohl die Sphäre des Bewußten und pba_232.024 Verantwortlichen bezeichnen soll, oder wie Kant als die "plötzliche pba_232.025 Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts."2 Alle pba_232.026 diese Zusätze und Einschränkungen gehören also nicht zu dem Grundwesen pba_232.027 des Lächerlichen: ein andres ist es, daß unter den Mitteln das Fehlerhafte pba_232.028 und Deforme als solches darzustellen die Hinzufügung einer pba_232.029 Kontrastvorstellung allerdings zu den wirksamsten gehört; das Grundwesen pba_232.030 des Lächerlichen jedoch liegt lediglich in dem Fehlerhaften und pba_232.031 Deformen, das ohne alle Beimischung als solches sich dem Urteil darbietet.
pba_232.032 So ist die Schwäche an sich nicht lächerlich, weil sie da, wo sie pba_232.033 naturgemäß ist, nicht als Fehler erscheint; aber die bloße Körperschwäche pba_232.034 bildet unter Leuten, bei denen Körperkraft ein naturgemäßes und wesentliches pba_232.035 Erfordernis ist, allerdings schon einen Grund der Lächerlichkeit. pba_232.036 An sich ist die Unkenntnis, z. B. des römischen Kalenders, nichts Lächerliches, pba_232.037 bei einem Altertumsforscher jedoch wäre sie ein Fehler und deshalb
1pba_232.038 Vgl. Dramaturgie Nr. 28.
2pba_232.039 S. Kant Bd. IV (ed. Rosenkranz). Kritik der Urteilskraft S. 207.
pba_232.001 arger Mißgriff auf diesen Gebieten eine Quelle des Lächerlichen, und pba_232.002 zwar um so reicher fließend, je mehr der Urteilende wissend und geschickt pba_232.003 ist, dagegen ganz verschlossen für den Unwissenden und Ungeschickten. pba_232.004 Ferner wird die lächerliche Wirkung durch jede ihr anhaftende Schädlichkeit pba_232.005 oder Schmerzlichkeit objektiv aufgehoben oder sie wird subjektiv beeinträchtigt, pba_232.006 wenn sie dem Einzelnen für seine Person sich derartig fühlbar pba_232.007 macht; und endlich wird das Lächerliche selbst in solchem Falle wieder pba_232.008 hergestellt, sobald der Fall losgelöst von allen andern Beziehungen ganz pba_232.009 allein unter dem Gesichtspunkte des Mangels an Wissen und Geschick pba_232.010 vorgetragen wird. Weil nun aber von einem Defekt nur da die Rede pba_232.011 sein kann, wo man ein Recht hat Vollständigkeit vorauszusetzen, von pba_232.012 einer Fehlerhaftigkeit (ἁμάρτημα), also nur, wo man Richtigkeit,pba_232.013 von einer Deformität (αἶσχος) nur, wo man Uebereinstimmungpba_232.014 mit Recht erwartet — (bei einem Kinde ist Mangel an Wissen und pba_232.015 Sitte kein Fehler, bei einem seiner Gattung gemäß geformten Naturdinge pba_232.016 das unsern Schönheitsbegriffen Widersprechende keine Deformität,pba_232.017 nur mit Unrecht „Häßlichkeit“ genannt nach einer dem Wesen pba_232.018 des Dinges ganz fremden Analogie!) —, so ist von den modernen Erklärern pba_232.019 in diese eine dem Begriff notwendig anhaftende Eigenschaft das pba_232.020 Wesen des Begriffes selbst gesetzt, indem man das Lächerliche durchweg pba_232.021 als einen Kontrast definierte, entweder wie Lessing als einen Kontrast pba_232.022 von „Mangel und Realität“,1 oder wie Goethe als einen „sittlichen“ pba_232.023 Kontrast, wo „sittlich“ wohl die Sphäre des Bewußten und pba_232.024 Verantwortlichen bezeichnen soll, oder wie Kant als die „plötzliche pba_232.025 Verwandlung einer gespannten Erwartung in Nichts.“2 Alle pba_232.026 diese Zusätze und Einschränkungen gehören also nicht zu dem Grundwesen pba_232.027 des Lächerlichen: ein andres ist es, daß unter den Mitteln das Fehlerhafte pba_232.028 und Deforme als solches darzustellen die Hinzufügung einer pba_232.029 Kontrastvorstellung allerdings zu den wirksamsten gehört; das Grundwesen pba_232.030 des Lächerlichen jedoch liegt lediglich in dem Fehlerhaften und pba_232.031 Deformen, das ohne alle Beimischung als solches sich dem Urteil darbietet.
pba_232.032 So ist die Schwäche an sich nicht lächerlich, weil sie da, wo sie pba_232.033 naturgemäß ist, nicht als Fehler erscheint; aber die bloße Körperschwäche pba_232.034 bildet unter Leuten, bei denen Körperkraft ein naturgemäßes und wesentliches pba_232.035 Erfordernis ist, allerdings schon einen Grund der Lächerlichkeit. pba_232.036 An sich ist die Unkenntnis, z. B. des römischen Kalenders, nichts Lächerliches, pba_232.037 bei einem Altertumsforscher jedoch wäre sie ein Fehler und deshalb
1pba_232.038 Vgl. Dramaturgie Nr. 28.
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arger Mißgriff auf diesen Gebieten eine Quelle des Lächerlichen, und pba_232.002
zwar um so reicher fließend, je mehr der Urteilende wissend und geschickt pba_232.003
ist, dagegen ganz verschlossen für den Unwissenden und Ungeschickten. pba_232.004
Ferner wird die lächerliche Wirkung durch jede ihr anhaftende Schädlichkeit pba_232.005
oder Schmerzlichkeit objektiv aufgehoben oder sie wird subjektiv beeinträchtigt, pba_232.006
wenn sie dem Einzelnen für seine Person sich derartig fühlbar pba_232.007
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allein unter dem Gesichtspunkte des Mangels an Wissen und Geschick pba_232.010
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einer Fehlerhaftigkeit (ἁμάρτημα), also nur, wo man Richtigkeit, pba_232.013
von einer Deformität (αἶσχος) nur, wo man Uebereinstimmung pba_232.014
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So ist die Schwäche an sich nicht lächerlich, weil sie da, wo sie pba_232.033
naturgemäß ist, nicht als Fehler erscheint; aber die bloße Körperschwäche pba_232.034
bildet unter Leuten, bei denen Körperkraft ein naturgemäßes und wesentliches pba_232.035
Erfordernis ist, allerdings schon einen Grund der Lächerlichkeit. pba_232.036
An sich ist die Unkenntnis, z. B. des römischen Kalenders, nichts Lächerliches, pba_232.037
bei einem Altertumsforscher jedoch wäre sie ein Fehler und deshalb
1 pba_232.038
Vgl. Dramaturgie Nr. 28.
2 pba_232.039
S. Kant Bd. IV (ed. Rosenkranz). Kritik der Urteilskraft S. 207.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/250>, abgerufen am 09.11.2024.
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