pba_208.001 der Kern der Mythe und Sage, das Lebenselement der epischen und pba_208.002 dramatischen Dichtung. Von einem höhern Standpunkt betrachtet, erscheint pba_208.003 die epische Volkspoesie nun nicht mehr getrennt von der Geschichte, pba_208.004 sondern mit ihrer inneren Wahrheit eins, eng verbunden mit pba_208.005 Volksgeschichte und Religion. Mit beiden hat sie gemeinsame pba_208.006 Wurzeln; mit andern Worten: ihre Entstehung fällt in die Zeit, da im pba_208.007 Bewußtsein sich feste und bestimmte Vorstellungen herausbilden von den pba_208.008 ewigen Ordnungen der Natur und den unerschütterlichen Gesetzen des pba_208.009 Lebens, in welchen beiden das Walten höherer Mächte erkannt wird, pba_208.010 mögen diese nun einen Namen haben, welchen sie wollen. Jn der Volksreligion pba_208.011 sammeln sich diese Vorstellungen, die älteste Geschichte besteht in pba_208.012 den sagenhaften Überlieferungen, welche wie krystallinische Gebilde sich pba_208.013 zusammenfügen, indem um den festen Kern jener Vorstellungen sich die pba_208.014 Erinnerungen aller der Begebnisse und Schicksale ordnen, welche jenen pba_208.015 Vorstellungen entsprechen und gleichsam ihre Erfüllung zeigen, und pba_208.016 aller der Gemütszustände und Handlungen, in welchen die nationale pba_208.017 Eigenart nach der Summe ihrer Besonderheit an jenen Begebnissen und pba_208.018 Schicksalen sich thätig und leidend, bestimmend und bestimmt, erweist. pba_208.019 Hier ist älteste Geschichte und älteste Poesie in unauflöslicher Verbindung, pba_208.020 um sodann in den Zeiten klareren Bewußtseins mit dem erwachenden pba_208.021 Vermögen der Abstraktion sich für immer zu scheiden. Jn dieser Entstehungsart pba_208.022 und inhaltlichen Beschaffenheit liegt das Unerfindbarepba_208.023 aller jener alten echten Epen und der ihnen entstammenden dramatischen pba_208.024 Stoffe und das Unnachahmliche der Volkspoesie.
pba_208.025 Was ist das Gemeinsame, das aus der gesamten Nationalpoesie so pba_208.026 gewaltig zu uns redet? Es kann nicht treffender bezeichnet werden als pba_208.027 mit den Worten eines unsrer größesten Altertumskenner, da er in einer pba_208.028 Art poetischer Fiction sich in die "Gedanken hineinversetzt, mit denen pba_208.029 ein Jüngling aus der Sokratischen Umgebung -- einer von denen, die pba_208.030 durch ihn aus dem gebildeten Volksglauben nicht sowohl hinausgeführt, pba_208.031 wohl aber darin befestigt waren -- seinen Schmerz über den hingeschiedenen pba_208.032 Sokrates tröstete":1
pba_208.033 "Eines Tages schritt er unter mancherlei Gedanken am Jlissus hin, pba_208.034 plötzlich aber stand er vor einem Baume still, der mit seinen seltenen pba_208.035 großen Blättern und Ästen sich herrlich umherbreitete. War es Zufall, pba_208.036 war es halb bewußte Absicht, was ihn diesen Weg geführt: es war jene pba_208.037 Platane, welche, seitdem Sokrates dort dem Phädrus die Naturgeschichte pba_208.038 der Seele entwickelt, im Kreise der Sokratischen Jünger und Freunde
1pba_208.039 S. Lehrs a. a. O. am Schlusse des Aufsatzes: "Die Horen", S. 90 u. 91.
pba_208.001 der Kern der Mythe und Sage, das Lebenselement der epischen und pba_208.002 dramatischen Dichtung. Von einem höhern Standpunkt betrachtet, erscheint pba_208.003 die epische Volkspoesie nun nicht mehr getrennt von der Geschichte, pba_208.004 sondern mit ihrer inneren Wahrheit eins, eng verbunden mit pba_208.005 Volksgeschichte und Religion. Mit beiden hat sie gemeinsame pba_208.006 Wurzeln; mit andern Worten: ihre Entstehung fällt in die Zeit, da im pba_208.007 Bewußtsein sich feste und bestimmte Vorstellungen herausbilden von den pba_208.008 ewigen Ordnungen der Natur und den unerschütterlichen Gesetzen des pba_208.009 Lebens, in welchen beiden das Walten höherer Mächte erkannt wird, pba_208.010 mögen diese nun einen Namen haben, welchen sie wollen. Jn der Volksreligion pba_208.011 sammeln sich diese Vorstellungen, die älteste Geschichte besteht in pba_208.012 den sagenhaften Überlieferungen, welche wie krystallinische Gebilde sich pba_208.013 zusammenfügen, indem um den festen Kern jener Vorstellungen sich die pba_208.014 Erinnerungen aller der Begebnisse und Schicksale ordnen, welche jenen pba_208.015 Vorstellungen entsprechen und gleichsam ihre Erfüllung zeigen, und pba_208.016 aller der Gemütszustände und Handlungen, in welchen die nationale pba_208.017 Eigenart nach der Summe ihrer Besonderheit an jenen Begebnissen und pba_208.018 Schicksalen sich thätig und leidend, bestimmend und bestimmt, erweist. pba_208.019 Hier ist älteste Geschichte und älteste Poesie in unauflöslicher Verbindung, pba_208.020 um sodann in den Zeiten klareren Bewußtseins mit dem erwachenden pba_208.021 Vermögen der Abstraktion sich für immer zu scheiden. Jn dieser Entstehungsart pba_208.022 und inhaltlichen Beschaffenheit liegt das Unerfindbarepba_208.023 aller jener alten echten Epen und der ihnen entstammenden dramatischen pba_208.024 Stoffe und das Unnachahmliche der Volkspoesie.
pba_208.025 Was ist das Gemeinsame, das aus der gesamten Nationalpoesie so pba_208.026 gewaltig zu uns redet? Es kann nicht treffender bezeichnet werden als pba_208.027 mit den Worten eines unsrer größesten Altertumskenner, da er in einer pba_208.028 Art poetischer Fiction sich in die „Gedanken hineinversetzt, mit denen pba_208.029 ein Jüngling aus der Sokratischen Umgebung — einer von denen, die pba_208.030 durch ihn aus dem gebildeten Volksglauben nicht sowohl hinausgeführt, pba_208.031 wohl aber darin befestigt waren — seinen Schmerz über den hingeschiedenen pba_208.032 Sokrates tröstete“:1
pba_208.033 „Eines Tages schritt er unter mancherlei Gedanken am Jlissus hin, pba_208.034 plötzlich aber stand er vor einem Baume still, der mit seinen seltenen pba_208.035 großen Blättern und Ästen sich herrlich umherbreitete. War es Zufall, pba_208.036 war es halb bewußte Absicht, was ihn diesen Weg geführt: es war jene pba_208.037 Platane, welche, seitdem Sokrates dort dem Phädrus die Naturgeschichte pba_208.038 der Seele entwickelt, im Kreise der Sokratischen Jünger und Freunde
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der Kern der Mythe und Sage, das Lebenselement der epischen und pba_208.002
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Was ist das Gemeinsame, das aus der gesamten Nationalpoesie so pba_208.026
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S. Lehrs a. a. O. am Schlusse des Aufsatzes: „Die Horen“, S. 90 u. 91.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/226>, abgerufen am 24.11.2024.
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