pba_171.001 zu bringen! Wie unmittelbar mußte aus solcher Nutzanwendung die pba_171.002 satirische Vergleichung der Tiere und ihres Treibens mit wirklichen pba_171.003 Verhältnissen und Personen folgen! Auf diese Weise erhielt die Fabel pba_171.004 eine neue Gestalt: sie wurde didaktischen und satirischen Zwecken unterthan pba_171.005 gemacht; und eine neue Verwendung: sie wurde ein wirksames pba_171.006 Kunstmittel der Rhetorik. Auf ihre äußere Form übte dieses neue Gestaltungsprincip pba_171.007 die Wirkung, daß aus der Nachahmung der Handlung pba_171.008 alles entfernt werden mußte, was nicht dem Erkenntniszweck des Erfahrungs- pba_171.009 oder Lehrsatzes dienstbar oder was nicht der satirischen Tendenz pba_171.010 förderlich war: sie mußte also in ungebundener Rede auftreten und auf pba_171.011 die knappste Kürze reduciert werden, da ohne Zweifel der Erkenntniszweck pba_171.012 am besten erreicht wird, wenn nichts als das für ihn Wesentliche mitgeteilt pba_171.013 wird.
pba_171.014 Dies ist das Wesen und die Form der sogenannten äsopischenpba_171.015 Fabel. Für sie hat also die Lessingsche Definition eine gewisse Berechtigung; pba_171.016 aber man vergesse nicht, doch nur insofern, als diese pba_171.017 äsopische Fabel eben ihrer Form nach nicht mehr zur Poesie pba_171.018 gehört. Jnsofern umgekehrt selbst dieser Form der echten Fabel unzerstörbar pba_171.019 ein poetischer Kern innewohnt -- eben das Element der pba_171.020 inneren Handlung, in welchem ihr Wesen beruht -- trifft die Lessingsche pba_171.021 Definition aber ebensowenig zu, als sie die poetische Form der Fabel pba_171.022 ahnen läßt. Diese Definition läßt sich allenfalls den vorhandenen guten pba_171.023 äsopischen Fabeln anpassen, aber ganz ebenso den allerschlechtesten, seichtesten pba_171.024 Erfindungen, sie trifft das Wesen der Sache so wenig, daß sie pba_171.025 diejenigen, welche sie zur Richtschnur nähmen, nicht vor den gröbsten pba_171.026 Mißgriffen schützen würde.
pba_171.027 Überall steht in der Tierdichtung das epische Element, ihre eigentliche pba_171.028 Kraft, mit dem lehrhaften und satirischen in umgekehrtem Verhältnis. pba_171.029 Jn voller Frische und epischer Breite, in ihrer ganzen ursprünglichen pba_171.030 Naivetät und gegenständlichen Bestimmtheit hat sich die Tiersage nur pba_171.031 im Mittelalter ausgestaltet, vor allem in unserem deutschen "Reineke"; pba_171.032 die Satire hat hier nur in ganz geringem Maße und völlig episodisch pba_171.033 Eingang gefunden. Dagegen herrscht in den nachgeahmten Kunstdichtungen pba_171.034 des sechzehnten Jahrhunderts, eines Spangenberg und Rollenhagen,pba_171.035 schon das umgekehrte Verhältnis; das Ganze ist von lehrhaft allegorischer pba_171.036 Tendenz beherrscht und nicht selten überwuchert das gelehrte, didaktischsatirische pba_171.037 Beiwerk auch die epische Darstellung des Einzelnen. Jn der pba_171.038 eigentlich sogenannten Tierfabel ist die epische Haltung, die, im Mittelalter pba_171.039 z. B. bei Boner, für diese Dichtnngsart die herrschende ist, auch pba_171.040 noch im sechzehnten Jahrhundert bei einem Erasmus Alberus und
pba_171.001 zu bringen! Wie unmittelbar mußte aus solcher Nutzanwendung die pba_171.002 satirische Vergleichung der Tiere und ihres Treibens mit wirklichen pba_171.003 Verhältnissen und Personen folgen! Auf diese Weise erhielt die Fabel pba_171.004 eine neue Gestalt: sie wurde didaktischen und satirischen Zwecken unterthan pba_171.005 gemacht; und eine neue Verwendung: sie wurde ein wirksames pba_171.006 Kunstmittel der Rhetorik. Auf ihre äußere Form übte dieses neue Gestaltungsprincip pba_171.007 die Wirkung, daß aus der Nachahmung der Handlung pba_171.008 alles entfernt werden mußte, was nicht dem Erkenntniszweck des Erfahrungs- pba_171.009 oder Lehrsatzes dienstbar oder was nicht der satirischen Tendenz pba_171.010 förderlich war: sie mußte also in ungebundener Rede auftreten und auf pba_171.011 die knappste Kürze reduciert werden, da ohne Zweifel der Erkenntniszweck pba_171.012 am besten erreicht wird, wenn nichts als das für ihn Wesentliche mitgeteilt pba_171.013 wird.
pba_171.014 Dies ist das Wesen und die Form der sogenannten äsopischenpba_171.015 Fabel. Für sie hat also die Lessingsche Definition eine gewisse Berechtigung; pba_171.016 aber man vergesse nicht, doch nur insofern, als diese pba_171.017 äsopische Fabel eben ihrer Form nach nicht mehr zur Poesie pba_171.018 gehört. Jnsofern umgekehrt selbst dieser Form der echten Fabel unzerstörbar pba_171.019 ein poetischer Kern innewohnt — eben das Element der pba_171.020 inneren Handlung, in welchem ihr Wesen beruht — trifft die Lessingsche pba_171.021 Definition aber ebensowenig zu, als sie die poetische Form der Fabel pba_171.022 ahnen läßt. Diese Definition läßt sich allenfalls den vorhandenen guten pba_171.023 äsopischen Fabeln anpassen, aber ganz ebenso den allerschlechtesten, seichtesten pba_171.024 Erfindungen, sie trifft das Wesen der Sache so wenig, daß sie pba_171.025 diejenigen, welche sie zur Richtschnur nähmen, nicht vor den gröbsten pba_171.026 Mißgriffen schützen würde.
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Dies ist das Wesen und die Form der sogenannten äsopischen pba_171.015
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aber man vergesse nicht, doch nur insofern, als diese pba_171.017
äsopische Fabel eben ihrer Form nach nicht mehr zur Poesie pba_171.018
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/189>, abgerufen am 28.11.2024.
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