Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_146.001 pba_146.031 1 pba_146.033
Man denke z. B. an das Ethos der Andacht, welches, seiner eigentlichen Natur pba_146.034 nach in allmählicher Entwickelung erwachsen, der Seele als dauernder Besitz angehört pba_146.035 und gleichwohl doch auch durch Erregung der Empfindungen und Vorführung der pba_146.036 Vernunftbegriffe, auf denen sie beruht, momentan, ja plötzlich hervorgerufen werden pba_146.037 kann; ebenso Großmut, Ehrfurcht, Hingebung u. s. f., sie können als Regungen pba_146.038 -- wie der deutsche Sprachgebrauch sie in diesem Falle bezeichnet -- zeitweilig und pba_146.039 momentan auch in Gemütern auftreten, welche diesen ethischen Dispositionen pba_146.040 für gewöhnlich verschlossen sind. pba_146.001 pba_146.031 1 pba_146.033
Man denke z. B. an das Ethos der Andacht, welches, seiner eigentlichen Natur pba_146.034 nach in allmählicher Entwickelung erwachsen, der Seele als dauernder Besitz angehört pba_146.035 und gleichwohl doch auch durch Erregung der Empfindungen und Vorführung der pba_146.036 Vernunftbegriffe, auf denen sie beruht, momentan, ja plötzlich hervorgerufen werden pba_146.037 kann; ebenso Großmut, Ehrfurcht, Hingebung u. s. f., sie können als Regungen pba_146.038 — wie der deutsche Sprachgebrauch sie in diesem Falle bezeichnet — zeitweilig und pba_146.039 momentan auch in Gemütern auftreten, welche diesen ethischen Dispositionen pba_146.040 für gewöhnlich verschlossen sind. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0164" n="146"/><lb n="pba_146.001"/> und Richtung bildet sich im Verlauf normaler Lebensdauer eine bestimmte, <lb n="pba_146.002"/> stehende, im ganzen und großen dauernd mit sich selbst übereinstimmende <lb n="pba_146.003"/> Beschaffenheit der so modifizierten Pathe — Empfindungen — <lb n="pba_146.004"/> heraus, ein <hi rendition="#g">bleibendes Verhalten</hi> also (<foreign xml:lang="grc">ἕξις</foreign>), welches ein Produkt <lb n="pba_146.005"/> der Thätigkeit beider Teile der Seele, des vernunftlosen und vernünftigen <lb n="pba_146.006"/> (<foreign xml:lang="grc">ἄλογον</foreign> und <foreign xml:lang="grc">λόγον ἔχον</foreign>) ist, somit also <hi rendition="#g">eine individuell verschiedene <lb n="pba_146.007"/> Beschaffenheit der gesamten Seele.</hi> Denn dieser Vorgang <lb n="pba_146.008"/> findet nicht in Bezug auf nur eine oder mehrere Empfindungen <lb n="pba_146.009"/> statt, sondern er betrifft ihre Gesamtheit, sowohl in ihrem gegenseitigen <lb n="pba_146.010"/> Verhalten, wo der zu hohe Grad der einen oft den zu geringen der <lb n="pba_146.011"/> andern bedingt, als auch in dem besondern Verhältnis einer jeden von <lb n="pba_146.012"/> ihnen zu der regulierenden Vernunft. Dieser Gesamtzustand der Seele, <lb n="pba_146.013"/> welcher je nach der Art seiner Zusammensetzung und, je nachdem er als <lb n="pba_146.014"/> dauernder Zustand oder zeitweilig vorhanden ist — denn es können <lb n="pba_146.015"/> durch Mitwirkung außergewöhnlicher Empfindungsweisen und damit sich <lb n="pba_146.016"/> kombinierender Vernunftvorstellungen natürlich derartige Zustände auch <lb n="pba_146.017"/> als vereinzelte und vorübergehende vorkommen<note xml:id="pba_146_1" place="foot" n="1"><lb n="pba_146.033"/> Man denke z. B. an das Ethos der <hi rendition="#g">Andacht,</hi> welches, seiner eigentlichen Natur <lb n="pba_146.034"/> nach in allmählicher Entwickelung erwachsen, der Seele als dauernder Besitz angehört <lb n="pba_146.035"/> und gleichwohl doch auch durch Erregung der Empfindungen und Vorführung der <lb n="pba_146.036"/> Vernunftbegriffe, auf denen sie beruht, momentan, ja plötzlich hervorgerufen werden <lb n="pba_146.037"/> kann; ebenso <hi rendition="#g">Großmut, Ehrfurcht, Hingebung</hi> u. s. f., sie können als <hi rendition="#g">Regungen</hi> <lb n="pba_146.038"/> — wie der deutsche Sprachgebrauch sie in diesem Falle bezeichnet — zeitweilig und <lb n="pba_146.039"/> momentan auch in Gemütern auftreten, welche diesen <hi rendition="#g">ethischen Dispositionen</hi> <lb n="pba_146.040"/> für gewöhnlich verschlossen sind.</note> —, unendlich zahlreiche <lb n="pba_146.018"/> Modifikationen aufweist, den wir daher im Deutschen bald <hi rendition="#g">Seelenbeschaffenheit,</hi> <lb n="pba_146.019"/> bald <hi rendition="#g">Seelenzustand, Gemütsart,</hi> auch <hi rendition="#g">Seelenstimmung</hi> <lb n="pba_146.020"/> nennen müssen, ist es, den die Griechen mit dem <hi rendition="#g">einen</hi> <lb n="pba_146.021"/> Namen des „<hi rendition="#g">Ethos</hi>“ bezeichneten. Es geht aus der Natur dieses Begriffes <lb n="pba_146.022"/> hervor, muß aber wegen eines eingebürgerten fälschlichen Gebrauches <lb n="pba_146.023"/> dieses griechischen Terminus immer von neuem erinnert werden, <lb n="pba_146.024"/> daß darunter keineswegs, wie es mit dem lateinischen Ausdruck <hi rendition="#g">Moral</hi> <lb n="pba_146.025"/> geschieht, allein die <hi rendition="#g">sittlich richtige</hi> Beschaffenheit der Seele oder gar <lb n="pba_146.026"/> des Handelns verstanden werde, sondern daß der Ausdruck jedwede <lb n="pba_146.027"/> Gesamtbeschaffenheit der Seele, jedweden aus verschiedenen Empfindungskräften <lb n="pba_146.028"/> kombinierten, in dieser oder jener Art, bedeutend oder auch <lb n="pba_146.029"/> geringer durch Vernunfteinflüsse modifizierten, dauernden oder auch nur <lb n="pba_146.030"/> vorübergehenden Seelenzustand bedeuten kann.</p> <p><lb n="pba_146.031"/> Welch einen großen und wichtigen Einfluß neben und mit dem <lb n="pba_146.032"/> Pathos, das ja immer für den einzelnen Fall seine an und für sich </p> </div> </body> </text> </TEI> [146/0164]
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und Richtung bildet sich im Verlauf normaler Lebensdauer eine bestimmte, pba_146.002
stehende, im ganzen und großen dauernd mit sich selbst übereinstimmende pba_146.003
Beschaffenheit der so modifizierten Pathe — Empfindungen — pba_146.004
heraus, ein bleibendes Verhalten also (ἕξις), welches ein Produkt pba_146.005
der Thätigkeit beider Teile der Seele, des vernunftlosen und vernünftigen pba_146.006
(ἄλογον und λόγον ἔχον) ist, somit also eine individuell verschiedene pba_146.007
Beschaffenheit der gesamten Seele. Denn dieser Vorgang pba_146.008
findet nicht in Bezug auf nur eine oder mehrere Empfindungen pba_146.009
statt, sondern er betrifft ihre Gesamtheit, sowohl in ihrem gegenseitigen pba_146.010
Verhalten, wo der zu hohe Grad der einen oft den zu geringen der pba_146.011
andern bedingt, als auch in dem besondern Verhältnis einer jeden von pba_146.012
ihnen zu der regulierenden Vernunft. Dieser Gesamtzustand der Seele, pba_146.013
welcher je nach der Art seiner Zusammensetzung und, je nachdem er als pba_146.014
dauernder Zustand oder zeitweilig vorhanden ist — denn es können pba_146.015
durch Mitwirkung außergewöhnlicher Empfindungsweisen und damit sich pba_146.016
kombinierender Vernunftvorstellungen natürlich derartige Zustände auch pba_146.017
als vereinzelte und vorübergehende vorkommen 1 —, unendlich zahlreiche pba_146.018
Modifikationen aufweist, den wir daher im Deutschen bald Seelenbeschaffenheit, pba_146.019
bald Seelenzustand, Gemütsart, auch Seelenstimmung pba_146.020
nennen müssen, ist es, den die Griechen mit dem einen pba_146.021
Namen des „Ethos“ bezeichneten. Es geht aus der Natur dieses Begriffes pba_146.022
hervor, muß aber wegen eines eingebürgerten fälschlichen Gebrauches pba_146.023
dieses griechischen Terminus immer von neuem erinnert werden, pba_146.024
daß darunter keineswegs, wie es mit dem lateinischen Ausdruck Moral pba_146.025
geschieht, allein die sittlich richtige Beschaffenheit der Seele oder gar pba_146.026
des Handelns verstanden werde, sondern daß der Ausdruck jedwede pba_146.027
Gesamtbeschaffenheit der Seele, jedweden aus verschiedenen Empfindungskräften pba_146.028
kombinierten, in dieser oder jener Art, bedeutend oder auch pba_146.029
geringer durch Vernunfteinflüsse modifizierten, dauernden oder auch nur pba_146.030
vorübergehenden Seelenzustand bedeuten kann.
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Welch einen großen und wichtigen Einfluß neben und mit dem pba_146.032
Pathos, das ja immer für den einzelnen Fall seine an und für sich
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Man denke z. B. an das Ethos der Andacht, welches, seiner eigentlichen Natur pba_146.034
nach in allmählicher Entwickelung erwachsen, der Seele als dauernder Besitz angehört pba_146.035
und gleichwohl doch auch durch Erregung der Empfindungen und Vorführung der pba_146.036
Vernunftbegriffe, auf denen sie beruht, momentan, ja plötzlich hervorgerufen werden pba_146.037
kann; ebenso Großmut, Ehrfurcht, Hingebung u. s. f., sie können als Regungen pba_146.038
— wie der deutsche Sprachgebrauch sie in diesem Falle bezeichnet — zeitweilig und pba_146.039
momentan auch in Gemütern auftreten, welche diesen ethischen Dispositionen pba_146.040
für gewöhnlich verschlossen sind.
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