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Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871.

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hatte -- ja, dann ging es mir fast wie der guten
Gräfin: ich freute mich auch schon vorher auf das ent¬
setzliche "Blutig?", um die Fremden zusammenfahren
zu sehen.

Ja, Tieck war einzig groß als Vorleser, und sicher
wäre er als Schauspieler der größte Mime seiner Zeit
geworden. Nie hat mich z. B. die Iphigenie auf der
Bühne so ergriffen, wie vor dem kleinen Lesepulte im
Eckhause des Dresdener Altmarkts. Wenn er nach Orest's
wilder grauenerregender Verzweiflung:

Zerreiße diesen Busen und eröffne
Den Strömen, die hier sieden, einen Weg!
versöhnend fortfuhr:
Welch' ein Gelispel hör' ich in den Zweigen?
So bin auch ich willkommen? Und ich darf
In Euren feierlichen Zug mich mischen?
-- wie verklärten sich förmlich bei den weichen Tönen
der herrlichen Stimme die ausdrucksvollen Züge des
Vorlesers, wie leuchtete seine Stirn!

Im kleinen Kreise las Tieck uns auch hin und
wieder Bruchstücke aus seinem märchenhaften Novellen-
Cyklus "Phantasus" und aus seinen Novellen vor, die
damals gerade bei Brockhaus erschienen. Besonders
fesselte mich sein "junger Tischlermeister", weil man
wußte, daß der Dichter Vieles aus seinem äußeren und
inneren Leben hineingewoben. Aus "Accorombona"
hörte ich ihn nie lesen. Dorothea liebte das Buch nicht
und sprach das auch freimüthig aus. Als die Gräfin

26 *

hatte — ja, dann ging es mir faſt wie der guten
Gräfin: ich freute mich auch ſchon vorher auf das ent¬
ſetzliche »Blutig?«, um die Fremden zuſammenfahren
zu ſehen.

Ja, Tieck war einzig groß als Vorleſer, und ſicher
wäre er als Schauſpieler der größte Mime ſeiner Zeit
geworden. Nie hat mich z. B. die Iphigenie auf der
Bühne ſo ergriffen, wie vor dem kleinen Leſepulte im
Eckhauſe des Dresdener Altmarkts. Wenn er nach Oreſt's
wilder grauenerregender Verzweiflung:

Zerreiße dieſen Buſen und eröffne
Den Strömen, die hier ſieden, einen Weg!
verſöhnend fortfuhr:
Welch' ein Geliſpel hör' ich in den Zweigen?
So bin auch ich willkommen? Und ich darf
In Euren feierlichen Zug mich miſchen?
— wie verklärten ſich förmlich bei den weichen Tönen
der herrlichen Stimme die ausdrucksvollen Züge des
Vorleſers, wie leuchtete ſeine Stirn!

Im kleinen Kreiſe las Tieck uns auch hin und
wieder Bruchſtücke aus ſeinem märchenhaften Novellen-
Cyklus »Phantaſus« und aus ſeinen Novellen vor, die
damals gerade bei Brockhaus erſchienen. Beſonders
feſſelte mich ſein »junger Tiſchlermeiſter«, weil man
wußte, daß der Dichter Vieles aus ſeinem äußeren und
inneren Leben hineingewoben. Aus »Accorombona«
hörte ich ihn nie leſen. Dorothea liebte das Buch nicht
und ſprach das auch freimüthig aus. Als die Gräfin

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[403/0431] hatte — ja, dann ging es mir faſt wie der guten Gräfin: ich freute mich auch ſchon vorher auf das ent¬ ſetzliche »Blutig?«, um die Fremden zuſammenfahren zu ſehen. Ja, Tieck war einzig groß als Vorleſer, und ſicher wäre er als Schauſpieler der größte Mime ſeiner Zeit geworden. Nie hat mich z. B. die Iphigenie auf der Bühne ſo ergriffen, wie vor dem kleinen Leſepulte im Eckhauſe des Dresdener Altmarkts. Wenn er nach Oreſt's wilder grauenerregender Verzweiflung: Zerreiße dieſen Buſen und eröffne Den Strömen, die hier ſieden, einen Weg! verſöhnend fortfuhr: Welch' ein Geliſpel hör' ich in den Zweigen? So bin auch ich willkommen? Und ich darf In Euren feierlichen Zug mich miſchen? — wie verklärten ſich förmlich bei den weichen Tönen der herrlichen Stimme die ausdrucksvollen Züge des Vorleſers, wie leuchtete ſeine Stirn! Im kleinen Kreiſe las Tieck uns auch hin und wieder Bruchſtücke aus ſeinem märchenhaften Novellen- Cyklus »Phantaſus« und aus ſeinen Novellen vor, die damals gerade bei Brockhaus erſchienen. Beſonders feſſelte mich ſein »junger Tiſchlermeiſter«, weil man wußte, daß der Dichter Vieles aus ſeinem äußeren und inneren Leben hineingewoben. Aus »Accorombona« hörte ich ihn nie leſen. Dorothea liebte das Buch nicht und ſprach das auch freimüthig aus. Als die Gräfin 26 *

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Zitationshilfe: Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bauer_buehnenleben_1871/431>, abgerufen am 22.11.2024.