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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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welche, obwohl sie in den damaligen Kriegen dem Einfluss der
Reichen verbunden, dennoch bis auf den heutigen Tag an einigen
damals aufgestellten Grundsätzen festhielten. So nehmen sie
z. B. gar kein öffentliches, obrigkeitliches Amt an, welches es
auch sei; sie beschwören nicht, werden nicht Kaufleute, Wirte
und Soldaten; und glaubten von Jesus, dass er nicht Gottes
Sohn gewesen sei, sondern der Heiligste von allen Heiligen.
Ein anderer ihrer damaligen Grundsätze war der: Kein Christ
kann mit gutem Gewissen irgend ein Eigentum, welches es auch
sei, besitzen; sondern alles, was jeder einzelne besitzt, muss in
die Gemeinschaft gegeben werden." (S. 83/84). Man vergl. damit
Dostojewskys soziales Credo: "Der Christ, der wahre, ideale,
vollendete Christ, sagt: ,Ich muss meine Güter mit meinen
armen Brüdern teilen. Ich muss allen dienen'. Der Kommunard
sagt: ,Du musst mit mir teilen, weil ich arm bin, du musst
mir dienen'. Der Christ hat Recht, der Kommunard Unrecht".
95) "Garantien der Harmonie und Freiheit", S. 72.
96) Was ist denn heute vom ganzen Marxismus noch haltbar?
Der Evolutionismus, die Katastrophentheorie, der Klassenkampf,
die Eroberung der politischen Macht, die materialistische Ge-
sichtsauffassung, der Animalismus und Amoralismus -- was ist
denn von alledem heute nicht durch die Wissenschaft widerlegt?
Schon zur Zeit seiner Blüte nannte Bakunin den Marxismus eine
Utopie. Die Verwirklichung der Freiheit durch die Wahlbe-
teiligung an Bismarcks Parvenustaat -- dieser politische Gipfel-
punkt des Marxismus in den 70 er Jahren, bedeutete er nicht
auch den moralischen und ideellen Verfall? Das war schon die
Auffassung der Mehrheit in der ersten Internationale. Und wider-
legt die Katastrophe, in der wir uns heute befinden, -- eine Ka-
tastrophe, die nicht sowohl wirtschaftliche, als moralische Ursachen
hat --, nicht die ganze Schule? Man bleibe doch bei den Tatsachen
und lasse die Dogmen beiseite! Die heutige Situation fordert neue
Methoden, sowohl der Philosophie, wie der praktischen Politik.
Die heutige Liquidation erfordert ein neues moralisches und
religiöses System, eine freiere Geschichtsbetrachtung, eine gewitzigte
"Katastrophentheorie", eine Neuorientierung von Grund aus. Kein
neuer deutscher Systematiker wird aufbauen können ohne eine
umfassende Exaltation und Sublimierung des Schuldbegriffes. Die
moralische Revolution ist die Voraussetzung jeder sozialen und
politischen. Die Schuldfrage allein (die Frage nach dem, was
jeder schuldet und verschuldet hat), verbürgt eine Wiedergeburt
und die Rettung vor äusserstem materiellem und geistigem Elend.
welche, obwohl sie in den damaligen Kriegen dem Einfluss der
Reichen verbunden, dennoch bis auf den heutigen Tag an einigen
damals aufgestellten Grundsätzen festhielten. So nehmen sie
z. B. gar kein öffentliches, obrigkeitliches Amt an, welches es
auch sei; sie beschwören nicht, werden nicht Kaufleute, Wirte
und Soldaten; und glaubten von Jesus, dass er nicht Gottes
Sohn gewesen sei, sondern der Heiligste von allen Heiligen.
Ein anderer ihrer damaligen Grundsätze war der: Kein Christ
kann mit gutem Gewissen irgend ein Eigentum, welches es auch
sei, besitzen; sondern alles, was jeder einzelne besitzt, muss in
die Gemeinschaft gegeben werden.“ (S. 83/84). Man vergl. damit
Dostojewskys soziales Credo: „Der Christ, der wahre, ideale,
vollendete Christ, sagt: ‚Ich muss meine Güter mit meinen
armen Brüdern teilen. Ich muss allen dienen‘. Der Kommunard
sagt: ‚Du musst mit mir teilen, weil ich arm bin, du musst
mir dienen‘. Der Christ hat Recht, der Kommunard Unrecht“.
95) „Garantien der Harmonie und Freiheit“, S. 72.
96) Was ist denn heute vom ganzen Marxismus noch haltbar?
Der Evolutionismus, die Katastrophentheorie, der Klassenkampf,
die Eroberung der politischen Macht, die materialistische Ge-
sichtsauffassung, der Animalismus und Amoralismus — was ist
denn von alledem heute nicht durch die Wissenschaft widerlegt?
Schon zur Zeit seiner Blüte nannte Bakunin den Marxismus eine
Utopie. Die Verwirklichung der Freiheit durch die Wahlbe-
teiligung an Bismarcks Parvenustaat — dieser politische Gipfel-
punkt des Marxismus in den 70 er Jahren, bedeutete er nicht
auch den moralischen und ideellen Verfall? Das war schon die
Auffassung der Mehrheit in der ersten Internationale. Und wider-
legt die Katastrophe, in der wir uns heute befinden, — eine Ka-
tastrophe, die nicht sowohl wirtschaftliche, als moralische Ursachen
hat —, nicht die ganze Schule? Man bleibe doch bei den Tatsachen
und lasse die Dogmen beiseite! Die heutige Situation fordert neue
Methoden, sowohl der Philosophie, wie der praktischen Politik.
Die heutige Liquidation erfordert ein neues moralisches und
religiöses System, eine freiere Geschichtsbetrachtung, eine gewitzigte
„Katastrophentheorie“, eine Neuorientierung von Grund aus. Kein
neuer deutscher Systematiker wird aufbauen können ohne eine
umfassende Exaltation und Sublimierung des Schuldbegriffes. Die
moralische Revolution ist die Voraussetzung jeder sozialen und
politischen. Die Schuldfrage allein (die Frage nach dem, was
jeder schuldet und verschuldet hat), verbürgt eine Wiedergeburt
und die Rettung vor äusserstem materiellem und geistigem Elend.
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[292/0300] ⁹⁴⁾ welche, obwohl sie in den damaligen Kriegen dem Einfluss der Reichen verbunden, dennoch bis auf den heutigen Tag an einigen damals aufgestellten Grundsätzen festhielten. So nehmen sie z. B. gar kein öffentliches, obrigkeitliches Amt an, welches es auch sei; sie beschwören nicht, werden nicht Kaufleute, Wirte und Soldaten; und glaubten von Jesus, dass er nicht Gottes Sohn gewesen sei, sondern der Heiligste von allen Heiligen. Ein anderer ihrer damaligen Grundsätze war der: Kein Christ kann mit gutem Gewissen irgend ein Eigentum, welches es auch sei, besitzen; sondern alles, was jeder einzelne besitzt, muss in die Gemeinschaft gegeben werden.“ (S. 83/84). Man vergl. damit Dostojewskys soziales Credo: „Der Christ, der wahre, ideale, vollendete Christ, sagt: ‚Ich muss meine Güter mit meinen armen Brüdern teilen. Ich muss allen dienen‘. Der Kommunard sagt: ‚Du musst mit mir teilen, weil ich arm bin, du musst mir dienen‘. Der Christ hat Recht, der Kommunard Unrecht“. ⁹⁵⁾ „Garantien der Harmonie und Freiheit“, S. 72. ⁹⁶⁾ Was ist denn heute vom ganzen Marxismus noch haltbar? Der Evolutionismus, die Katastrophentheorie, der Klassenkampf, die Eroberung der politischen Macht, die materialistische Ge- sichtsauffassung, der Animalismus und Amoralismus — was ist denn von alledem heute nicht durch die Wissenschaft widerlegt? Schon zur Zeit seiner Blüte nannte Bakunin den Marxismus eine Utopie. Die Verwirklichung der Freiheit durch die Wahlbe- teiligung an Bismarcks Parvenustaat — dieser politische Gipfel- punkt des Marxismus in den 70 er Jahren, bedeutete er nicht auch den moralischen und ideellen Verfall? Das war schon die Auffassung der Mehrheit in der ersten Internationale. Und wider- legt die Katastrophe, in der wir uns heute befinden, — eine Ka- tastrophe, die nicht sowohl wirtschaftliche, als moralische Ursachen hat —, nicht die ganze Schule? Man bleibe doch bei den Tatsachen und lasse die Dogmen beiseite! Die heutige Situation fordert neue Methoden, sowohl der Philosophie, wie der praktischen Politik. Die heutige Liquidation erfordert ein neues moralisches und religiöses System, eine freiere Geschichtsbetrachtung, eine gewitzigte „Katastrophentheorie“, eine Neuorientierung von Grund aus. Kein neuer deutscher Systematiker wird aufbauen können ohne eine umfassende Exaltation und Sublimierung des Schuldbegriffes. Die moralische Revolution ist die Voraussetzung jeder sozialen und politischen. Die Schuldfrage allein (die Frage nach dem, was jeder schuldet und verschuldet hat), verbürgt eine Wiedergeburt und die Rettung vor äusserstem materiellem und geistigem Elend.

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/300>, abgerufen am 03.07.2024.