Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

Bild:
<< vorherige Seite

nische Classification bei dem heillos verknöcherten J. J. Bierbrauer
in der casseler Beschreibung von 1758 (vgl. Th. I, S. 236) ist
allerdings schon in linguistischer Hinsicht sehr merkwürdig und bis
zur Stunde durchschlagend. Die trockenen, geistlosen und gemach-
ten Erzählungen der dürren Rotwelschen Grammatik von 1755
paralysirten die unbefangene Erforschung der naturwüchsig und
deutlich aus dem Leben und der Praxis hervorquellenden Gauner-
sprache, sodaß sogar auch Schäffer, der sich von seinem Jnteresse
für die Gaunersprache zu einem ähnlichen Versuche verleiten ließ,
nur Unbehülfliches und Unvollkommenes gab, und später Pfister
mit seiner unglücklichen "Gauneridylle" von derber Kritik zurecht-
gewiesen werden mußte. Wie groß nun auch Mejer's Verdienst
war, welcher mit entschiedener Selbständigkeit den durch die Rot-
welsche Grammatik gestörten alten Weg der unbefangenen Be-
obachtung und Aufzeichnung aus dem praktischen Leben wieder
aufnahm, so schätzbar dazu die Arbeiten von Christensen, Falken-
berg, Grolman u. a. waren, so blieben doch alle diese Arbeiten
immer nur auf das Lexikographische beschränkt: die linguistische
Forschung aber blieb bis auf wenige hier und da in Zeitschriften
zerstreute Aufsätze 1), welche kaum mehr als vereinzelte schüchterne
Bemerkungen über die Gaunersprache im allgemeinen enthalten
und nichts Ganzes und Gründliches geben, ganz danieder liegen
und wurde dazu neuerdings durch die bereits angeführten und
gerügten Versuche der rotwelschen Epigonen so ungemein verwirrt
und außer Credit gesetzt, daß keiner irgendeine weitere Forschung
anzustellen unternahm, besonders da diese Epigonen auf dem von
ihnen verwüsteten Boden das breite, anmaßliche Dogma zur Gel-
tung brachten, daß nur Polizeimännern und Criminalisten auf
Grundlage der "eigenen praktischen Erfahrungen" das eminente
Recht der gaunerlinguistischen Erforschung zustehe, und somit jedes
anderweitige Jnteresse abwiesen.

Erst in neuester Zeit hat Pott, Th. II, S. 1--43 seines be-

1) Z. B. im "Allgemeinen Anzeiger der Deutschen", 1810, Nr. 102; 1812,
Nr. 174, 175, 237; 1815, Nr. 304, 309, 312 u. s. w.

niſche Claſſification bei dem heillos verknöcherten J. J. Bierbrauer
in der caſſeler Beſchreibung von 1758 (vgl. Th. I, S. 236) iſt
allerdings ſchon in linguiſtiſcher Hinſicht ſehr merkwürdig und bis
zur Stunde durchſchlagend. Die trockenen, geiſtloſen und gemach-
ten Erzählungen der dürren Rotwelſchen Grammatik von 1755
paralyſirten die unbefangene Erforſchung der naturwüchſig und
deutlich aus dem Leben und der Praxis hervorquellenden Gauner-
ſprache, ſodaß ſogar auch Schäffer, der ſich von ſeinem Jntereſſe
für die Gaunerſprache zu einem ähnlichen Verſuche verleiten ließ,
nur Unbehülfliches und Unvollkommenes gab, und ſpäter Pfiſter
mit ſeiner unglücklichen „Gauneridylle“ von derber Kritik zurecht-
gewieſen werden mußte. Wie groß nun auch Mejer’s Verdienſt
war, welcher mit entſchiedener Selbſtändigkeit den durch die Rot-
welſche Grammatik geſtörten alten Weg der unbefangenen Be-
obachtung und Aufzeichnung aus dem praktiſchen Leben wieder
aufnahm, ſo ſchätzbar dazu die Arbeiten von Chriſtenſen, Falken-
berg, Grolman u. a. waren, ſo blieben doch alle dieſe Arbeiten
immer nur auf das Lexikographiſche beſchränkt: die linguiſtiſche
Forſchung aber blieb bis auf wenige hier und da in Zeitſchriften
zerſtreute Aufſätze 1), welche kaum mehr als vereinzelte ſchüchterne
Bemerkungen über die Gaunerſprache im allgemeinen enthalten
und nichts Ganzes und Gründliches geben, ganz danieder liegen
und wurde dazu neuerdings durch die bereits angeführten und
gerügten Verſuche der rotwelſchen Epigonen ſo ungemein verwirrt
und außer Credit geſetzt, daß keiner irgendeine weitere Forſchung
anzuſtellen unternahm, beſonders da dieſe Epigonen auf dem von
ihnen verwüſteten Boden das breite, anmaßliche Dogma zur Gel-
tung brachten, daß nur Polizeimännern und Criminaliſten auf
Grundlage der „eigenen praktiſchen Erfahrungen“ das eminente
Recht der gaunerlinguiſtiſchen Erforſchung zuſtehe, und ſomit jedes
anderweitige Jntereſſe abwieſen.

Erſt in neueſter Zeit hat Pott, Th. II, S. 1—43 ſeines be-

1) Z. B. im „Allgemeinen Anzeiger der Deutſchen“, 1810, Nr. 102; 1812,
Nr. 174, 175, 237; 1815, Nr. 304, 309, 312 u. ſ. w.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0284" n="272"/>
ni&#x017F;che Cla&#x017F;&#x017F;ification bei dem heillos verknöcherten J. J. Bierbrauer<lb/>
in der ca&#x017F;&#x017F;eler Be&#x017F;chreibung von 1758 (vgl. Th. <hi rendition="#aq">I,</hi> S. 236) i&#x017F;t<lb/>
allerdings &#x017F;chon in lingui&#x017F;ti&#x017F;cher Hin&#x017F;icht &#x017F;ehr merkwürdig und bis<lb/>
zur Stunde durch&#x017F;chlagend. Die trockenen, gei&#x017F;tlo&#x017F;en und gemach-<lb/>
ten Erzählungen der dürren Rotwel&#x017F;chen Grammatik von 1755<lb/>
paraly&#x017F;irten die unbefangene Erfor&#x017F;chung der naturwüch&#x017F;ig und<lb/>
deutlich aus dem Leben und der Praxis hervorquellenden Gauner-<lb/>
&#x017F;prache, &#x017F;odaß &#x017F;ogar auch Schäffer, der &#x017F;ich von &#x017F;einem Jntere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
für die Gauner&#x017F;prache zu einem ähnlichen Ver&#x017F;uche verleiten ließ,<lb/>
nur Unbehülfliches und Unvollkommenes gab, und &#x017F;päter Pfi&#x017F;ter<lb/>
mit &#x017F;einer unglücklichen &#x201E;Gauneridylle&#x201C; von derber Kritik zurecht-<lb/>
gewie&#x017F;en werden mußte. Wie groß nun auch Mejer&#x2019;s Verdien&#x017F;t<lb/>
war, welcher mit ent&#x017F;chiedener Selb&#x017F;tändigkeit den durch die Rot-<lb/>
wel&#x017F;che Grammatik ge&#x017F;törten alten Weg der unbefangenen Be-<lb/>
obachtung und Aufzeichnung aus dem prakti&#x017F;chen Leben wieder<lb/>
aufnahm, &#x017F;o &#x017F;chätzbar dazu die Arbeiten von Chri&#x017F;ten&#x017F;en, Falken-<lb/>
berg, Grolman u. a. waren, &#x017F;o blieben doch alle die&#x017F;e Arbeiten<lb/>
immer nur auf das Lexikographi&#x017F;che be&#x017F;chränkt: die lingui&#x017F;ti&#x017F;che<lb/>
For&#x017F;chung aber blieb bis auf wenige hier und da in Zeit&#x017F;chriften<lb/>
zer&#x017F;treute Auf&#x017F;ätze <note place="foot" n="1)">Z. B. im &#x201E;Allgemeinen Anzeiger der Deut&#x017F;chen&#x201C;, 1810, Nr. 102; 1812,<lb/>
Nr. 174, 175, 237; 1815, Nr. 304, 309, 312 u. &#x017F;. w.</note>, welche kaum mehr als vereinzelte &#x017F;chüchterne<lb/>
Bemerkungen über die Gauner&#x017F;prache im allgemeinen enthalten<lb/>
und nichts Ganzes und Gründliches geben, ganz danieder liegen<lb/>
und wurde dazu neuerdings durch die bereits angeführten und<lb/>
gerügten Ver&#x017F;uche der rotwel&#x017F;chen Epigonen &#x017F;o ungemein verwirrt<lb/>
und außer Credit ge&#x017F;etzt, daß keiner irgendeine weitere For&#x017F;chung<lb/>
anzu&#x017F;tellen unternahm, be&#x017F;onders da die&#x017F;e Epigonen auf dem von<lb/>
ihnen verwü&#x017F;teten Boden das breite, anmaßliche Dogma zur Gel-<lb/>
tung brachten, daß nur Polizeimännern und Criminali&#x017F;ten auf<lb/>
Grundlage der &#x201E;eigenen prakti&#x017F;chen Erfahrungen&#x201C; das eminente<lb/>
Recht der gaunerlingui&#x017F;ti&#x017F;chen Erfor&#x017F;chung zu&#x017F;tehe, und &#x017F;omit jedes<lb/>
anderweitige Jntere&#x017F;&#x017F;e abwie&#x017F;en.</p><lb/>
                <p>Er&#x017F;t in neue&#x017F;ter Zeit hat Pott, Th. <hi rendition="#aq">II,</hi> S. 1&#x2014;43 &#x017F;eines be-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0284] niſche Claſſification bei dem heillos verknöcherten J. J. Bierbrauer in der caſſeler Beſchreibung von 1758 (vgl. Th. I, S. 236) iſt allerdings ſchon in linguiſtiſcher Hinſicht ſehr merkwürdig und bis zur Stunde durchſchlagend. Die trockenen, geiſtloſen und gemach- ten Erzählungen der dürren Rotwelſchen Grammatik von 1755 paralyſirten die unbefangene Erforſchung der naturwüchſig und deutlich aus dem Leben und der Praxis hervorquellenden Gauner- ſprache, ſodaß ſogar auch Schäffer, der ſich von ſeinem Jntereſſe für die Gaunerſprache zu einem ähnlichen Verſuche verleiten ließ, nur Unbehülfliches und Unvollkommenes gab, und ſpäter Pfiſter mit ſeiner unglücklichen „Gauneridylle“ von derber Kritik zurecht- gewieſen werden mußte. Wie groß nun auch Mejer’s Verdienſt war, welcher mit entſchiedener Selbſtändigkeit den durch die Rot- welſche Grammatik geſtörten alten Weg der unbefangenen Be- obachtung und Aufzeichnung aus dem praktiſchen Leben wieder aufnahm, ſo ſchätzbar dazu die Arbeiten von Chriſtenſen, Falken- berg, Grolman u. a. waren, ſo blieben doch alle dieſe Arbeiten immer nur auf das Lexikographiſche beſchränkt: die linguiſtiſche Forſchung aber blieb bis auf wenige hier und da in Zeitſchriften zerſtreute Aufſätze 1), welche kaum mehr als vereinzelte ſchüchterne Bemerkungen über die Gaunerſprache im allgemeinen enthalten und nichts Ganzes und Gründliches geben, ganz danieder liegen und wurde dazu neuerdings durch die bereits angeführten und gerügten Verſuche der rotwelſchen Epigonen ſo ungemein verwirrt und außer Credit geſetzt, daß keiner irgendeine weitere Forſchung anzuſtellen unternahm, beſonders da dieſe Epigonen auf dem von ihnen verwüſteten Boden das breite, anmaßliche Dogma zur Gel- tung brachten, daß nur Polizeimännern und Criminaliſten auf Grundlage der „eigenen praktiſchen Erfahrungen“ das eminente Recht der gaunerlinguiſtiſchen Erforſchung zuſtehe, und ſomit jedes anderweitige Jntereſſe abwieſen. Erſt in neueſter Zeit hat Pott, Th. II, S. 1—43 ſeines be- 1) Z. B. im „Allgemeinen Anzeiger der Deutſchen“, 1810, Nr. 102; 1812, Nr. 174, 175, 237; 1815, Nr. 304, 309, 312 u. ſ. w.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/284
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/284>, abgerufen am 24.11.2024.