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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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der Sinnlichkeit als Hauptaufgabe des Christenthums angehalten
wurde, so konnte doch der nach dem Erwachen der humanistischen
Literatur lebendig gewordene frische Geist der Freiheit so rasch und
tief auf das Volk wirken, daß es urplötzlich wie aus düsterm
Traume zur hellen Lust und Freudigkeit des Lebens erwachte und
nicht nur Geist und Sinn für die zauberhaft schnell und üppig
aufgeschossene Volkspoesie, sondern auch Leben, Laune und Frische
genug hatte, um mit scharfem Spott und sprudelndem Humor
den bisherigen Unterdrücker schonungslos zu züchtigen und seine
Sünde und Schande unverhohlen bloßzulegen. Dessen war kein
verführtes und durch Verführung verdorbenes Volk fähig.

Gerade aber auch der äußerste Culminationspunkt der Pro-
stitution war es, welcher zugleich einen Abschluß der Prostitution
gegen das Volk bildete: das höchste Maß der Frechheit, daß die
liederlichen Dirnen ihr Gewerbe als ein auf Recht basirtes an-
sahen und corporative Rechte und Privilegien in Anspruch nahmen,
welche sie zum Theil auch erlangten. Sauval ("Histoire de Paris",
II, 617) berichtet, daß die pariser Dirnen sich durch Statute und
Satzungen verbunden und die heilige Magdalena zur Schutzheili-
gen gewählt hätten. Dasselbe war auch in Nürnberg der Fall1),
und in einer Urkunde Karl's VI. von 1389 hatten die filles de
joye du bordel dit la grande abbaye
zu Toulouse einen Frei-
brief erhalten. Jn Leipzig traten bei festlichen Aufzügen liederliche
Dirnen in corpore öffentlich auf. Empörend ist die Bittschrift der
nürnberger privilegirten liederlichen Dirnen von 1492 an den
Rath, aus deren demüthigem Tone gerade die größte Frechheit
herausklingt, weil darin gegen die Winkeldirnen Schutz im her-
gebrachten Rechte
gefordert wird. Eine ähnliche Beschwerde
führten die Dirnen zu Frankfurt mit der frechen Bemerkung, daß
sie ja doch die Abgaben bezahlten, während die Winkeldirnen nichts
bezahlten. Kaum kann man sich mehr über die wiederholt von
den privilegirten Dirnen verübte gewaltsame Erstürmung stiller

1) Hüllmann, "Städtewesen", IV, 271. Klemm, "Allgemeine Culturge-
schichte", IX, 174.

der Sinnlichkeit als Hauptaufgabe des Chriſtenthums angehalten
wurde, ſo konnte doch der nach dem Erwachen der humaniſtiſchen
Literatur lebendig gewordene friſche Geiſt der Freiheit ſo raſch und
tief auf das Volk wirken, daß es urplötzlich wie aus düſterm
Traume zur hellen Luſt und Freudigkeit des Lebens erwachte und
nicht nur Geiſt und Sinn für die zauberhaft ſchnell und üppig
aufgeſchoſſene Volkspoeſie, ſondern auch Leben, Laune und Friſche
genug hatte, um mit ſcharfem Spott und ſprudelndem Humor
den bisherigen Unterdrücker ſchonungslos zu züchtigen und ſeine
Sünde und Schande unverhohlen bloßzulegen. Deſſen war kein
verführtes und durch Verführung verdorbenes Volk fähig.

Gerade aber auch der äußerſte Culminationspunkt der Pro-
ſtitution war es, welcher zugleich einen Abſchluß der Proſtitution
gegen das Volk bildete: das höchſte Maß der Frechheit, daß die
liederlichen Dirnen ihr Gewerbe als ein auf Recht baſirtes an-
ſahen und corporative Rechte und Privilegien in Anſpruch nahmen,
welche ſie zum Theil auch erlangten. Sauval („Histoire de Paris“,
II, 617) berichtet, daß die pariſer Dirnen ſich durch Statute und
Satzungen verbunden und die heilige Magdalena zur Schutzheili-
gen gewählt hätten. Daſſelbe war auch in Nürnberg der Fall1),
und in einer Urkunde Karl’s VI. von 1389 hatten die filles de
joye du bordel dit la grande abbaye
zu Toulouſe einen Frei-
brief erhalten. Jn Leipzig traten bei feſtlichen Aufzügen liederliche
Dirnen in corpore öffentlich auf. Empörend iſt die Bittſchrift der
nürnberger privilegirten liederlichen Dirnen von 1492 an den
Rath, aus deren demüthigem Tone gerade die größte Frechheit
herausklingt, weil darin gegen die Winkeldirnen Schutz im her-
gebrachten Rechte
gefordert wird. Eine ähnliche Beſchwerde
führten die Dirnen zu Frankfurt mit der frechen Bemerkung, daß
ſie ja doch die Abgaben bezahlten, während die Winkeldirnen nichts
bezahlten. Kaum kann man ſich mehr über die wiederholt von
den privilegirten Dirnen verübte gewaltſame Erſtürmung ſtiller

1) Hüllmann, „Städteweſen“, IV, 271. Klemm, „Allgemeine Culturge-
ſchichte“, IX, 174.
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[162/0196] der Sinnlichkeit als Hauptaufgabe des Chriſtenthums angehalten wurde, ſo konnte doch der nach dem Erwachen der humaniſtiſchen Literatur lebendig gewordene friſche Geiſt der Freiheit ſo raſch und tief auf das Volk wirken, daß es urplötzlich wie aus düſterm Traume zur hellen Luſt und Freudigkeit des Lebens erwachte und nicht nur Geiſt und Sinn für die zauberhaft ſchnell und üppig aufgeſchoſſene Volkspoeſie, ſondern auch Leben, Laune und Friſche genug hatte, um mit ſcharfem Spott und ſprudelndem Humor den bisherigen Unterdrücker ſchonungslos zu züchtigen und ſeine Sünde und Schande unverhohlen bloßzulegen. Deſſen war kein verführtes und durch Verführung verdorbenes Volk fähig. Gerade aber auch der äußerſte Culminationspunkt der Pro- ſtitution war es, welcher zugleich einen Abſchluß der Proſtitution gegen das Volk bildete: das höchſte Maß der Frechheit, daß die liederlichen Dirnen ihr Gewerbe als ein auf Recht baſirtes an- ſahen und corporative Rechte und Privilegien in Anſpruch nahmen, welche ſie zum Theil auch erlangten. Sauval („Histoire de Paris“, II, 617) berichtet, daß die pariſer Dirnen ſich durch Statute und Satzungen verbunden und die heilige Magdalena zur Schutzheili- gen gewählt hätten. Daſſelbe war auch in Nürnberg der Fall 1), und in einer Urkunde Karl’s VI. von 1389 hatten die filles de joye du bordel dit la grande abbaye zu Toulouſe einen Frei- brief erhalten. Jn Leipzig traten bei feſtlichen Aufzügen liederliche Dirnen in corpore öffentlich auf. Empörend iſt die Bittſchrift der nürnberger privilegirten liederlichen Dirnen von 1492 an den Rath, aus deren demüthigem Tone gerade die größte Frechheit herausklingt, weil darin gegen die Winkeldirnen Schutz im her- gebrachten Rechte gefordert wird. Eine ähnliche Beſchwerde führten die Dirnen zu Frankfurt mit der frechen Bemerkung, daß ſie ja doch die Abgaben bezahlten, während die Winkeldirnen nichts bezahlten. Kaum kann man ſich mehr über die wiederholt von den privilegirten Dirnen verübte gewaltſame Erſtürmung ſtiller 1) Hüllmann, „Städteweſen“, IV, 271. Klemm, „Allgemeine Culturge- ſchichte“, IX, 174.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/196>, abgerufen am 28.11.2024.