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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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sie selbst die Palingenesie des Volks zur neuen social-politischen
Masse beobachtet und gewürdigt, und mit behender Beweglich-
keit direct in das verderbliche Treiben des zügellos rohen socialen
Lebens polizeilich eingegriffen, sowie die steifen feierlichen Formen
aufgegeben hätten, in welchen sie namentlich schon seit der Mitte
des 15. Jahrhunderts die Strafrechtspflege auf der Grundlage
des römischen und kanonischen Rechts zu üben begonnen hatten.
Daher erklärt sich das Zurücktreten der eigentlichen polizeilichen
Gewalt gegen den zürnenden Eifer der Geistlichkeit, welche nament-
lich im 17. Jahrhundert eine Unzahl von ethischen und dogmati-
schen Schriften zum Vorschein brachte, deren Masse man kaum
übersehen, geschweige denn gründlich durchmustern kann, während
die polizeiliche Gesetzgebung und Gewalt nur gelegentlich und
aphoristisch hervortritt und in ihren Verordnungen mit schneidiger
Gewalt in die zartesten Elemente des Familien- und bürgerlichen
Lebens eingreift, wie dies recht deutlich aus den vielen Kleider-,
Hochzeits-, Tauf- und Begräbnißordnungen u. s. w. erkannt
werden kann. So ist auf diese Weise schon zeitig und gerade
durch die Polizei der Zerstörungsproceß gegen die Grundlage des
deutschen social-politischen Lebens, gegen die Familie, gegen das
bürgerliche Haus, begonnen, und die heutige bürgerliche Zerfahren-
heit angebahnt worden, in welcher der schwere Vermiß überall
gefühlt, aber leider durch die überladenste Lebensverkünstelung ver-
deckt und das Siechthum unsers bürgerlichen Lebens nur noch
in immer bedenklicherer Weise gefördert wird. Jn das deutsche
Familienhaus wäre das Gaunerthum nie gedrungen, wenn nicht
jener Zerstörungsproceß gerade von Seiten der Polizei so zeitig
begonnen und das deutsche Haus und die Familie getrennt hätte,
daß unsere Häuser nur noch Wohnhäuser sind, die keine Familie
mehr haben. Mit der Lockerung dieses Verbandes konnte auch
das Gaunerthum in alle Ecken und Winkel des Hauses dringen
und überall sich so fest setzen, daß nunmehr die im bürgerlichen
Leben sich manifestirende sittliche Fäulniß geradezu aus den Häu-
sern kommt, und das Gaunerthum ein endemisches Uebel geworden
ist, das bei weitem nicht mehr wie früher in dem exoterischen

ſie ſelbſt die Palingeneſie des Volks zur neuen ſocial-politiſchen
Maſſe beobachtet und gewürdigt, und mit behender Beweglich-
keit direct in das verderbliche Treiben des zügellos rohen ſocialen
Lebens polizeilich eingegriffen, ſowie die ſteifen feierlichen Formen
aufgegeben hätten, in welchen ſie namentlich ſchon ſeit der Mitte
des 15. Jahrhunderts die Strafrechtspflege auf der Grundlage
des römiſchen und kanoniſchen Rechts zu üben begonnen hatten.
Daher erklärt ſich das Zurücktreten der eigentlichen polizeilichen
Gewalt gegen den zürnenden Eifer der Geiſtlichkeit, welche nament-
lich im 17. Jahrhundert eine Unzahl von ethiſchen und dogmati-
ſchen Schriften zum Vorſchein brachte, deren Maſſe man kaum
überſehen, geſchweige denn gründlich durchmuſtern kann, während
die polizeiliche Geſetzgebung und Gewalt nur gelegentlich und
aphoriſtiſch hervortritt und in ihren Verordnungen mit ſchneidiger
Gewalt in die zarteſten Elemente des Familien- und bürgerlichen
Lebens eingreift, wie dies recht deutlich aus den vielen Kleider-,
Hochzeits-, Tauf- und Begräbnißordnungen u. ſ. w. erkannt
werden kann. So iſt auf dieſe Weiſe ſchon zeitig und gerade
durch die Polizei der Zerſtörungsproceß gegen die Grundlage des
deutſchen ſocial-politiſchen Lebens, gegen die Familie, gegen das
bürgerliche Haus, begonnen, und die heutige bürgerliche Zerfahren-
heit angebahnt worden, in welcher der ſchwere Vermiß überall
gefühlt, aber leider durch die überladenſte Lebensverkünſtelung ver-
deckt und das Siechthum unſers bürgerlichen Lebens nur noch
in immer bedenklicherer Weiſe gefördert wird. Jn das deutſche
Familienhaus wäre das Gaunerthum nie gedrungen, wenn nicht
jener Zerſtörungsproceß gerade von Seiten der Polizei ſo zeitig
begonnen und das deutſche Haus und die Familie getrennt hätte,
daß unſere Häuſer nur noch Wohnhäuſer ſind, die keine Familie
mehr haben. Mit der Lockerung dieſes Verbandes konnte auch
das Gaunerthum in alle Ecken und Winkel des Hauſes dringen
und überall ſich ſo feſt ſetzen, daß nunmehr die im bürgerlichen
Leben ſich manifeſtirende ſittliche Fäulniß geradezu aus den Häu-
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[68/0084] ſie ſelbſt die Palingeneſie des Volks zur neuen ſocial-politiſchen Maſſe beobachtet und gewürdigt, und mit behender Beweglich- keit direct in das verderbliche Treiben des zügellos rohen ſocialen Lebens polizeilich eingegriffen, ſowie die ſteifen feierlichen Formen aufgegeben hätten, in welchen ſie namentlich ſchon ſeit der Mitte des 15. Jahrhunderts die Strafrechtspflege auf der Grundlage des römiſchen und kanoniſchen Rechts zu üben begonnen hatten. Daher erklärt ſich das Zurücktreten der eigentlichen polizeilichen Gewalt gegen den zürnenden Eifer der Geiſtlichkeit, welche nament- lich im 17. Jahrhundert eine Unzahl von ethiſchen und dogmati- ſchen Schriften zum Vorſchein brachte, deren Maſſe man kaum überſehen, geſchweige denn gründlich durchmuſtern kann, während die polizeiliche Geſetzgebung und Gewalt nur gelegentlich und aphoriſtiſch hervortritt und in ihren Verordnungen mit ſchneidiger Gewalt in die zarteſten Elemente des Familien- und bürgerlichen Lebens eingreift, wie dies recht deutlich aus den vielen Kleider-, Hochzeits-, Tauf- und Begräbnißordnungen u. ſ. w. erkannt werden kann. So iſt auf dieſe Weiſe ſchon zeitig und gerade durch die Polizei der Zerſtörungsproceß gegen die Grundlage des deutſchen ſocial-politiſchen Lebens, gegen die Familie, gegen das bürgerliche Haus, begonnen, und die heutige bürgerliche Zerfahren- heit angebahnt worden, in welcher der ſchwere Vermiß überall gefühlt, aber leider durch die überladenſte Lebensverkünſtelung ver- deckt und das Siechthum unſers bürgerlichen Lebens nur noch in immer bedenklicherer Weiſe gefördert wird. Jn das deutſche Familienhaus wäre das Gaunerthum nie gedrungen, wenn nicht jener Zerſtörungsproceß gerade von Seiten der Polizei ſo zeitig begonnen und das deutſche Haus und die Familie getrennt hätte, daß unſere Häuſer nur noch Wohnhäuſer ſind, die keine Familie mehr haben. Mit der Lockerung dieſes Verbandes konnte auch das Gaunerthum in alle Ecken und Winkel des Hauſes dringen und überall ſich ſo feſt ſetzen, daß nunmehr die im bürgerlichen Leben ſich manifeſtirende ſittliche Fäulniß geradezu aus den Häu- ſern kommt, und das Gaunerthum ein endemiſches Uebel geworden iſt, das bei weitem nicht mehr wie früher in dem exoteriſchen

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/84>, abgerufen am 22.11.2024.