Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

großen allgemeinen Entsittlichung des Volks und den politischen
Zerwürfnissen, besonders aber dem Abgang einer nur leidlich gut
eingerichteten Polizei zuschreiben. Die Verordnungen wurden nicht
lebendig durch eine kräftige und consequente Anwendung. Ana-
lysirt man die deutschen Polizeiverordnungen vom Anfang des
16. Jahrhunderts an, so findet man bis in das 19. Jahrhundert
hinein anfänglich ein ernstes sittliches Zürnen der Obrigkeit, und
allmählich einen eifernden orthodoxen Ton, der häufig an den
Kanzelton streift, bis zum Ausdruck offener Entrüstung sich steigert
und endlich in dieser Weise und Form geradezu Politik derselben
Obrigkeiten geworden ist, die, trotz des christlichen Tones ihrer
Mandate, auf der andern Seite mit der unmenschlichsten Grau-
samkeit die Folter handhabten und die qualvollsten und scheuß-
lichsten Hinrichtungen vollzogen, zum Beweise ihrer eigenen sitt-
lichen und politischen Schwäche. Dabei sieht man die Geistlich-
keit mit gleicher sittlicher Entrüstung und mit orthodoxem Eifer 1)

1689, 13. Aug. 1695, 8. Aug. 1703, 27. Sept. 1703, 3. Febr. 1706,
19. April 1708, 26. Juli 1715, 23. Juli 1721 und 26. März 1726 u. s. w.
Vgl. Bischof, "Deutsch-Zigeunerisches Wörterbuch", S. 8 u. 9. Endlich
Kurbraunschweig: Edict wegen Bestrafung der Hausdieberei d. d. 19. Juni
1709, 7. Jan. 1710, 17. Mai 1710, 8. März 1725, 23. Mai 1725, 27. Aug.
1728, 24. Nov. 1733, 22. März (2. April) 1734, 27. Febr. (9. März)
1736; Edict gegen die Feld- und Gartendieberei vom 27. Juni 1715; Re-
script wegen Bestrafung der Dieberei, vom 6. (17.) März 1722, vom 12.
(23.) August 1737. Vgl. Krünitz, "Encyklopädie", IX, 245.
1) Grauenhaft ist die Hinrichtung des zwanzigjährigen Juden Löbl Kurtz-
handl im October 1694 zu Prag, welcher in Gemeinschaft mit dem Juden
Lazar Abeles, den zwölfjährigen Sohn des letztern, Simon Abeles (der zum
Christenthum convertiren wollte), erwürgt hatte. Lazar Abeles erhenkte sich im
Gefängniß; an Kurtzhandl wurde aber, wie die Acten sagen, gefunden, daß
er "einer erschröcklichen Bestraffung höchst nöthig hätte, weilen der Punctus
Christianae Religionis
mit unterlauffe" u. s. w. Aber noch grauenhafter
war das Bemühen des Jesuitenpaters Johannes Brandstätter, Predigers an
der deutschen Kirche zu Prag, den Deliquenten zur christlichen Religion zu
bekehren. Nachdem Kurtzhandl schon 33 Radstöße auf Arme und Beine und
10 auf die Brust erhalten hatte, ohne auch nur das Bewußtsein zu verlieren,
taufte der nicht ablassende Brandstätter den zerschmetterten Delinquenten auf
der Richtstätte unter Absingung eines Psalms, wonach Kurtzhandl die drei
Ave-Lallemant, Gaunerthum. I. 5

großen allgemeinen Entſittlichung des Volks und den politiſchen
Zerwürfniſſen, beſonders aber dem Abgang einer nur leidlich gut
eingerichteten Polizei zuſchreiben. Die Verordnungen wurden nicht
lebendig durch eine kräftige und conſequente Anwendung. Ana-
lyſirt man die deutſchen Polizeiverordnungen vom Anfang des
16. Jahrhunderts an, ſo findet man bis in das 19. Jahrhundert
hinein anfänglich ein ernſtes ſittliches Zürnen der Obrigkeit, und
allmählich einen eifernden orthodoxen Ton, der häufig an den
Kanzelton ſtreift, bis zum Ausdruck offener Entrüſtung ſich ſteigert
und endlich in dieſer Weiſe und Form geradezu Politik derſelben
Obrigkeiten geworden iſt, die, trotz des chriſtlichen Tones ihrer
Mandate, auf der andern Seite mit der unmenſchlichſten Grau-
ſamkeit die Folter handhabten und die qualvollſten und ſcheuß-
lichſten Hinrichtungen vollzogen, zum Beweiſe ihrer eigenen ſitt-
lichen und politiſchen Schwäche. Dabei ſieht man die Geiſtlich-
keit mit gleicher ſittlicher Entrüſtung und mit orthodoxem Eifer 1)

1689, 13. Aug. 1695, 8. Aug. 1703, 27. Sept. 1703, 3. Febr. 1706,
19. April 1708, 26. Juli 1715, 23. Juli 1721 und 26. März 1726 u. ſ. w.
Vgl. Biſchof, „Deutſch-Zigeuneriſches Wörterbuch“, S. 8 u. 9. Endlich
Kurbraunſchweig: Edict wegen Beſtrafung der Hausdieberei d. d. 19. Juni
1709, 7. Jan. 1710, 17. Mai 1710, 8. März 1725, 23. Mai 1725, 27. Aug.
1728, 24. Nov. 1733, 22. März (2. April) 1734, 27. Febr. (9. März)
1736; Edict gegen die Feld- und Gartendieberei vom 27. Juni 1715; Re-
ſcript wegen Beſtrafung der Dieberei, vom 6. (17.) März 1722, vom 12.
(23.) Auguſt 1737. Vgl. Krünitz, „Encyklopädie“, IX, 245.
1) Grauenhaft iſt die Hinrichtung des zwanzigjährigen Juden Löbl Kurtz-
handl im October 1694 zu Prag, welcher in Gemeinſchaft mit dem Juden
Lazar Abeles, den zwölfjährigen Sohn des letztern, Simon Abeles (der zum
Chriſtenthum convertiren wollte), erwürgt hatte. Lazar Abeles erhenkte ſich im
Gefängniß; an Kurtzhandl wurde aber, wie die Acten ſagen, gefunden, daß
er „einer erſchröcklichen Beſtraffung höchſt nöthig hätte, weilen der Punctus
Christianae Religionis
mit unterlauffe“ u. ſ. w. Aber noch grauenhafter
war das Bemühen des Jeſuitenpaters Johannes Brandſtätter, Predigers an
der deutſchen Kirche zu Prag, den Deliquenten zur chriſtlichen Religion zu
bekehren. Nachdem Kurtzhandl ſchon 33 Radſtöße auf Arme und Beine und
10 auf die Bruſt erhalten hatte, ohne auch nur das Bewußtſein zu verlieren,
taufte der nicht ablaſſende Brandſtätter den zerſchmetterten Delinquenten auf
der Richtſtätte unter Abſingung eines Pſalms, wonach Kurtzhandl die drei
Avé-Lallemant, Gaunerthum. I. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0081" n="65"/>
großen allgemeinen Ent&#x017F;ittlichung des Volks und den politi&#x017F;chen<lb/>
Zerwürfni&#x017F;&#x017F;en, be&#x017F;onders aber dem Abgang einer nur leidlich gut<lb/>
eingerichteten Polizei zu&#x017F;chreiben. Die Verordnungen wurden nicht<lb/>
lebendig durch eine kräftige und con&#x017F;equente Anwendung. Ana-<lb/>
ly&#x017F;irt man die deut&#x017F;chen Polizeiverordnungen vom Anfang des<lb/>
16. Jahrhunderts an, &#x017F;o findet man bis in das 19. Jahrhundert<lb/>
hinein anfänglich ein ern&#x017F;tes &#x017F;ittliches Zürnen der Obrigkeit, und<lb/>
allmählich einen eifernden orthodoxen Ton, der häufig an den<lb/>
Kanzelton &#x017F;treift, bis zum Ausdruck offener Entrü&#x017F;tung &#x017F;ich &#x017F;teigert<lb/>
und endlich in die&#x017F;er Wei&#x017F;e und Form geradezu Politik der&#x017F;elben<lb/>
Obrigkeiten geworden i&#x017F;t, die, trotz des chri&#x017F;tlichen Tones ihrer<lb/>
Mandate, auf der andern Seite mit der unmen&#x017F;chlich&#x017F;ten Grau-<lb/>
&#x017F;amkeit die Folter handhabten und die qualvoll&#x017F;ten und &#x017F;cheuß-<lb/>
lich&#x017F;ten Hinrichtungen vollzogen, zum Bewei&#x017F;e ihrer eigenen &#x017F;itt-<lb/>
lichen und politi&#x017F;chen Schwäche. Dabei &#x017F;ieht man die Gei&#x017F;tlich-<lb/>
keit mit gleicher &#x017F;ittlicher Entrü&#x017F;tung und mit orthodoxem Eifer <note xml:id="seg2pn_24_1" next="#seg2pn_24_2" place="foot" n="1)">Grauenhaft i&#x017F;t die Hinrichtung des zwanzigjährigen Juden Löbl Kurtz-<lb/>
handl im October 1694 zu Prag, welcher in Gemein&#x017F;chaft mit dem Juden<lb/>
Lazar Abeles, den zwölfjährigen Sohn des letztern, Simon Abeles (der zum<lb/>
Chri&#x017F;tenthum convertiren wollte), erwürgt hatte. Lazar Abeles erhenkte &#x017F;ich im<lb/>
Gefängniß; an Kurtzhandl wurde aber, wie die Acten &#x017F;agen, gefunden, daß<lb/>
er &#x201E;einer er&#x017F;chröcklichen Be&#x017F;traffung höch&#x017F;t nöthig hätte, weilen der <hi rendition="#aq">Punctus<lb/>
Christianae Religionis</hi> mit unterlauffe&#x201C; u. &#x017F;. w. Aber noch grauenhafter<lb/>
war das Bemühen des Je&#x017F;uitenpaters Johannes Brand&#x017F;tätter, Predigers an<lb/>
der deut&#x017F;chen Kirche zu Prag, den Deliquenten zur chri&#x017F;tlichen Religion zu<lb/>
bekehren. Nachdem Kurtzhandl &#x017F;chon 33 Rad&#x017F;töße auf Arme und Beine und<lb/>
10 auf die Bru&#x017F;t erhalten hatte, ohne auch nur das Bewußt&#x017F;ein zu verlieren,<lb/>
taufte der nicht abla&#x017F;&#x017F;ende Brand&#x017F;tätter den zer&#x017F;chmetterten Delinquenten auf<lb/>
der Richt&#x017F;tätte unter Ab&#x017F;ingung eines P&#x017F;alms, wonach Kurtzhandl die drei</note><lb/><note xml:id="seg2pn_23_3" prev="#seg2pn_23_2" place="foot" n="1)">1689, 13. Aug. 1695, 8. Aug. 1703, 27. Sept. 1703, 3. Febr. 1706,<lb/>
19. April 1708, 26. Juli 1715, 23. Juli 1721 und 26. März 1726 u. &#x017F;. w.<lb/>
Vgl. Bi&#x017F;chof, &#x201E;Deut&#x017F;ch-Zigeuneri&#x017F;ches Wörterbuch&#x201C;, S. 8 u. 9. Endlich<lb/><hi rendition="#g">Kurbraun&#x017F;chweig:</hi> Edict wegen Be&#x017F;trafung der Hausdieberei <hi rendition="#aq">d. d.</hi> 19. Juni<lb/>
1709, 7. Jan. 1710, 17. Mai 1710, 8. März 1725, 23. Mai 1725, 27. Aug.<lb/>
1728, 24. Nov. 1733, 22. März (2. April) 1734, 27. Febr. (9. März)<lb/>
1736; Edict gegen die Feld- und Gartendieberei vom 27. Juni 1715; Re-<lb/>
&#x017F;cript wegen Be&#x017F;trafung der Dieberei, vom 6. (17.) März 1722, vom 12.<lb/>
(23.) Augu&#x017F;t 1737. Vgl. Krünitz, &#x201E;Encyklopädie&#x201C;, <hi rendition="#aq">IX</hi>, 245.</note><lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Avé-Lallemant,</hi> Gaunerthum. <hi rendition="#aq">I.</hi> 5</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0081] großen allgemeinen Entſittlichung des Volks und den politiſchen Zerwürfniſſen, beſonders aber dem Abgang einer nur leidlich gut eingerichteten Polizei zuſchreiben. Die Verordnungen wurden nicht lebendig durch eine kräftige und conſequente Anwendung. Ana- lyſirt man die deutſchen Polizeiverordnungen vom Anfang des 16. Jahrhunderts an, ſo findet man bis in das 19. Jahrhundert hinein anfänglich ein ernſtes ſittliches Zürnen der Obrigkeit, und allmählich einen eifernden orthodoxen Ton, der häufig an den Kanzelton ſtreift, bis zum Ausdruck offener Entrüſtung ſich ſteigert und endlich in dieſer Weiſe und Form geradezu Politik derſelben Obrigkeiten geworden iſt, die, trotz des chriſtlichen Tones ihrer Mandate, auf der andern Seite mit der unmenſchlichſten Grau- ſamkeit die Folter handhabten und die qualvollſten und ſcheuß- lichſten Hinrichtungen vollzogen, zum Beweiſe ihrer eigenen ſitt- lichen und politiſchen Schwäche. Dabei ſieht man die Geiſtlich- keit mit gleicher ſittlicher Entrüſtung und mit orthodoxem Eifer 1) 1) 1) Grauenhaft iſt die Hinrichtung des zwanzigjährigen Juden Löbl Kurtz- handl im October 1694 zu Prag, welcher in Gemeinſchaft mit dem Juden Lazar Abeles, den zwölfjährigen Sohn des letztern, Simon Abeles (der zum Chriſtenthum convertiren wollte), erwürgt hatte. Lazar Abeles erhenkte ſich im Gefängniß; an Kurtzhandl wurde aber, wie die Acten ſagen, gefunden, daß er „einer erſchröcklichen Beſtraffung höchſt nöthig hätte, weilen der Punctus Christianae Religionis mit unterlauffe“ u. ſ. w. Aber noch grauenhafter war das Bemühen des Jeſuitenpaters Johannes Brandſtätter, Predigers an der deutſchen Kirche zu Prag, den Deliquenten zur chriſtlichen Religion zu bekehren. Nachdem Kurtzhandl ſchon 33 Radſtöße auf Arme und Beine und 10 auf die Bruſt erhalten hatte, ohne auch nur das Bewußtſein zu verlieren, taufte der nicht ablaſſende Brandſtätter den zerſchmetterten Delinquenten auf der Richtſtätte unter Abſingung eines Pſalms, wonach Kurtzhandl die drei 1) 1689, 13. Aug. 1695, 8. Aug. 1703, 27. Sept. 1703, 3. Febr. 1706, 19. April 1708, 26. Juli 1715, 23. Juli 1721 und 26. März 1726 u. ſ. w. Vgl. Biſchof, „Deutſch-Zigeuneriſches Wörterbuch“, S. 8 u. 9. Endlich Kurbraunſchweig: Edict wegen Beſtrafung der Hausdieberei d. d. 19. Juni 1709, 7. Jan. 1710, 17. Mai 1710, 8. März 1725, 23. Mai 1725, 27. Aug. 1728, 24. Nov. 1733, 22. März (2. April) 1734, 27. Febr. (9. März) 1736; Edict gegen die Feld- und Gartendieberei vom 27. Juni 1715; Re- ſcript wegen Beſtrafung der Dieberei, vom 6. (17.) März 1722, vom 12. (23.) Auguſt 1737. Vgl. Krünitz, „Encyklopädie“, IX, 245. Avé-Lallemant, Gaunerthum. I. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/81
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/81>, abgerufen am 04.05.2024.