Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

brechen gerade in demselben bürgerlichen Leben seinen Versteck zu
finden, gegen welches es operirte. Es beobachtete die Formen und
Bewegung dieses Lebens genau und lernte es um so vollständiger
ausbeuten, je verkünstelter dies Leben wurde. So hat das Gau-
nerthum von den früher mit drohenden Galgen und Schaffots
besetzten, später von Gensdarmenpatrouillen berittenen Landstraßen
und Feldwegen sich entfernt und seinen Wohnsitz in allen Kreisen
des socialen Lebens gefunden, in dessen düsteren Schattenstellen das
Gaunerthum die grellsten Effecte bildet. Die Geschichte des Gau-
nerthums ist namentlich seit der Zeit, daß es keine frei umher-
ziehende organisirte Räuberbanden mehr gibt, ein integrirender
Theil der Geschichte unsers bürgerlichen Sittenlebens, von dessen
Siechthum und Fäulniß wir nur dann den richtigen Begriff be-
kommen, wenn es unserm noch immer ziemlich matten polizei-
lichen Geschick gelegentlich glückt, durch aufmerksame Beobachtung
und Unterscheidung der bürgerlichen Lebensbewegung den verkapp-
ten Verbrecher und mit ihm eine Reihe verwegener Unthaten an
das Licht zu ziehen.

Wirft man einen Blick zurück auf die gleichzeitige Ent-
wickelung des deutschen Bürgerthums in den Städten, so findet
man, daß auch dieses, trotz seines raschen und kräftigen Auf-
blühens, seinem Verfalle allmählich entgegenging, wenn es auch den
längsten Widerstand gegen feindliche Einflüsse zu leisten vermochte.
Das deutsche Bürgerthum ist nicht das Werk einer innern Staats-
politik. Seine Entstehung und Entwickelung gibt vielmehr Zeug-
niß von dem steten Ringen einer großartigen Natur gegen den
Zwang einer Menge von Formen, welche ihr nicht zusagten. Von
Anbeginn an bestand die große Gewalt der deutschen Natur darin,
daß eben diese Natur einen tiefen sittlichen Gehalt hatte, und daß
die Sitte das Gesetz war, durch welches die kräftige Natur ge-
leitet wurde, sobald die Jndividualitäten sich zur Gesellschaft zu-
sammenthaten. Bei dieser Fülle von natürlicher Kraft und sitt-

Dieben Schutz und Herberge gewähren, um es nicht mit ihnen zu verderben.
Vgl. Malblank, "Gesch. der Peinlichen Gerichtsordnung", S. 83.

brechen gerade in demſelben bürgerlichen Leben ſeinen Verſteck zu
finden, gegen welches es operirte. Es beobachtete die Formen und
Bewegung dieſes Lebens genau und lernte es um ſo vollſtändiger
ausbeuten, je verkünſtelter dies Leben wurde. So hat das Gau-
nerthum von den früher mit drohenden Galgen und Schaffots
beſetzten, ſpäter von Gensdarmenpatrouillen berittenen Landſtraßen
und Feldwegen ſich entfernt und ſeinen Wohnſitz in allen Kreiſen
des ſocialen Lebens gefunden, in deſſen düſteren Schattenſtellen das
Gaunerthum die grellſten Effecte bildet. Die Geſchichte des Gau-
nerthums iſt namentlich ſeit der Zeit, daß es keine frei umher-
ziehende organiſirte Räuberbanden mehr gibt, ein integrirender
Theil der Geſchichte unſers bürgerlichen Sittenlebens, von deſſen
Siechthum und Fäulniß wir nur dann den richtigen Begriff be-
kommen, wenn es unſerm noch immer ziemlich matten polizei-
lichen Geſchick gelegentlich glückt, durch aufmerkſame Beobachtung
und Unterſcheidung der bürgerlichen Lebensbewegung den verkapp-
ten Verbrecher und mit ihm eine Reihe verwegener Unthaten an
das Licht zu ziehen.

Wirft man einen Blick zurück auf die gleichzeitige Ent-
wickelung des deutſchen Bürgerthums in den Städten, ſo findet
man, daß auch dieſes, trotz ſeines raſchen und kräftigen Auf-
blühens, ſeinem Verfalle allmählich entgegenging, wenn es auch den
längſten Widerſtand gegen feindliche Einflüſſe zu leiſten vermochte.
Das deutſche Bürgerthum iſt nicht das Werk einer innern Staats-
politik. Seine Entſtehung und Entwickelung gibt vielmehr Zeug-
niß von dem ſteten Ringen einer großartigen Natur gegen den
Zwang einer Menge von Formen, welche ihr nicht zuſagten. Von
Anbeginn an beſtand die große Gewalt der deutſchen Natur darin,
daß eben dieſe Natur einen tiefen ſittlichen Gehalt hatte, und daß
die Sitte das Geſetz war, durch welches die kräftige Natur ge-
leitet wurde, ſobald die Jndividualitäten ſich zur Geſellſchaft zu-
ſammenthaten. Bei dieſer Fülle von natürlicher Kraft und ſitt-

Dieben Schutz und Herberge gewähren, um es nicht mit ihnen zu verderben.
Vgl. Malblank, „Geſch. der Peinlichen Gerichtsordnung“, S. 83.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0072" n="56"/>
brechen gerade in dem&#x017F;elben bürgerlichen Leben &#x017F;einen Ver&#x017F;teck zu<lb/>
finden, gegen welches es operirte. Es beobachtete die Formen und<lb/>
Bewegung die&#x017F;es Lebens genau und lernte es um &#x017F;o voll&#x017F;tändiger<lb/>
ausbeuten, je verkün&#x017F;telter dies Leben wurde. So hat das Gau-<lb/>
nerthum von den früher mit drohenden Galgen und Schaffots<lb/>
be&#x017F;etzten, &#x017F;päter von Gensdarmenpatrouillen berittenen Land&#x017F;traßen<lb/>
und Feldwegen &#x017F;ich entfernt und &#x017F;einen Wohn&#x017F;itz in allen Krei&#x017F;en<lb/>
des &#x017F;ocialen Lebens gefunden, in de&#x017F;&#x017F;en dü&#x017F;teren Schatten&#x017F;tellen das<lb/>
Gaunerthum die grell&#x017F;ten Effecte bildet. Die Ge&#x017F;chichte des Gau-<lb/>
nerthums i&#x017F;t namentlich &#x017F;eit der Zeit, daß es keine frei umher-<lb/>
ziehende organi&#x017F;irte Räuberbanden mehr gibt, ein integrirender<lb/>
Theil der Ge&#x017F;chichte un&#x017F;ers bürgerlichen Sittenlebens, von de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Siechthum und Fäulniß wir nur dann den richtigen Begriff be-<lb/>
kommen, wenn es un&#x017F;erm noch immer ziemlich matten polizei-<lb/>
lichen Ge&#x017F;chick gelegentlich glückt, durch aufmerk&#x017F;ame Beobachtung<lb/>
und Unter&#x017F;cheidung der bürgerlichen Lebensbewegung den verkapp-<lb/>
ten Verbrecher und mit ihm eine Reihe verwegener Unthaten an<lb/>
das Licht zu ziehen.</p><lb/>
            <p>Wirft man einen Blick zurück auf die gleichzeitige Ent-<lb/>
wickelung des deut&#x017F;chen Bürgerthums in den Städten, &#x017F;o findet<lb/>
man, daß auch die&#x017F;es, trotz &#x017F;eines ra&#x017F;chen und kräftigen Auf-<lb/>
blühens, &#x017F;einem Verfalle allmählich entgegenging, wenn es auch den<lb/>
läng&#x017F;ten Wider&#x017F;tand gegen feindliche Einflü&#x017F;&#x017F;e zu lei&#x017F;ten vermochte.<lb/>
Das deut&#x017F;che Bürgerthum i&#x017F;t nicht das Werk einer innern Staats-<lb/>
politik. Seine Ent&#x017F;tehung und Entwickelung gibt vielmehr Zeug-<lb/>
niß von dem &#x017F;teten Ringen einer großartigen Natur gegen den<lb/>
Zwang einer Menge von Formen, welche ihr nicht zu&#x017F;agten. Von<lb/>
Anbeginn an be&#x017F;tand die große Gewalt der deut&#x017F;chen Natur darin,<lb/>
daß eben die&#x017F;e Natur einen tiefen &#x017F;ittlichen Gehalt hatte, und daß<lb/>
die Sitte das Ge&#x017F;etz war, durch welches die kräftige Natur ge-<lb/>
leitet wurde, &#x017F;obald die Jndividualitäten &#x017F;ich zur Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zu-<lb/>
&#x017F;ammenthaten. Bei die&#x017F;er Fülle von natürlicher Kraft und &#x017F;itt-<lb/><note xml:id="seg2pn_20_2" prev="#seg2pn_20_1" place="foot" n="2)">Dieben Schutz und Herberge gewähren, um es nicht mit ihnen zu verderben.<lb/>
Vgl. Malblank, &#x201E;Ge&#x017F;ch. der Peinlichen Gerichtsordnung&#x201C;, S. 83.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0072] brechen gerade in demſelben bürgerlichen Leben ſeinen Verſteck zu finden, gegen welches es operirte. Es beobachtete die Formen und Bewegung dieſes Lebens genau und lernte es um ſo vollſtändiger ausbeuten, je verkünſtelter dies Leben wurde. So hat das Gau- nerthum von den früher mit drohenden Galgen und Schaffots beſetzten, ſpäter von Gensdarmenpatrouillen berittenen Landſtraßen und Feldwegen ſich entfernt und ſeinen Wohnſitz in allen Kreiſen des ſocialen Lebens gefunden, in deſſen düſteren Schattenſtellen das Gaunerthum die grellſten Effecte bildet. Die Geſchichte des Gau- nerthums iſt namentlich ſeit der Zeit, daß es keine frei umher- ziehende organiſirte Räuberbanden mehr gibt, ein integrirender Theil der Geſchichte unſers bürgerlichen Sittenlebens, von deſſen Siechthum und Fäulniß wir nur dann den richtigen Begriff be- kommen, wenn es unſerm noch immer ziemlich matten polizei- lichen Geſchick gelegentlich glückt, durch aufmerkſame Beobachtung und Unterſcheidung der bürgerlichen Lebensbewegung den verkapp- ten Verbrecher und mit ihm eine Reihe verwegener Unthaten an das Licht zu ziehen. Wirft man einen Blick zurück auf die gleichzeitige Ent- wickelung des deutſchen Bürgerthums in den Städten, ſo findet man, daß auch dieſes, trotz ſeines raſchen und kräftigen Auf- blühens, ſeinem Verfalle allmählich entgegenging, wenn es auch den längſten Widerſtand gegen feindliche Einflüſſe zu leiſten vermochte. Das deutſche Bürgerthum iſt nicht das Werk einer innern Staats- politik. Seine Entſtehung und Entwickelung gibt vielmehr Zeug- niß von dem ſteten Ringen einer großartigen Natur gegen den Zwang einer Menge von Formen, welche ihr nicht zuſagten. Von Anbeginn an beſtand die große Gewalt der deutſchen Natur darin, daß eben dieſe Natur einen tiefen ſittlichen Gehalt hatte, und daß die Sitte das Geſetz war, durch welches die kräftige Natur ge- leitet wurde, ſobald die Jndividualitäten ſich zur Geſellſchaft zu- ſammenthaten. Bei dieſer Fülle von natürlicher Kraft und ſitt- 2) 2) Dieben Schutz und Herberge gewähren, um es nicht mit ihnen zu verderben. Vgl. Malblank, „Geſch. der Peinlichen Gerichtsordnung“, S. 83.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/72
Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/72>, abgerufen am 24.11.2024.