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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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Versuchs einer seit langen Jahren nicht unternommenen ratio-
nellen Bearbeitung des Gaunerwesens, und das Hervortreten des
Verfassers in das größere Publikum, während frühere Schriften
ähnlicher Art meistens nur den Behörden zugänglich gemacht
waren, hat diesem jedenfalls verdienstvollen Werke einen Ruf ver-
schafft, obschon ihm auf dem ersten Blick sehr bedeutende geschicht-
liche, literarische und linguistische Mängel anzusehen sind. Thiele
hat sich nicht bemüht, zu eigenem richtigen Verständniß des Gau-
nerthums dessen schwierige aber höchst anziehende Geschichte zu
studiren, weshalb er denn auch arge Blößen gibt. Er nennt
z. B. "die unter Luther's Aegide herausgekommene Schrift", die
er wiederholt (S. 4, 5 und 200), trotz der auf dem Titel der
Luther'schen Ausgabe des Liber Vagatorum gedruckten Jahreszahl
1528, in das Jahr 1520 verweist, "das einzig erhebliche Product
auf diesem Felde der Literatur", ohne Brant, Geiler und Gen-
genbach
zu nennen, begnügt sich nur mit der dürren Anführung
der wichtigen Werke von Moscherosch und Schottelius, ungeachtet
er des letzteren "Elemental der Rotwelschen Grammatic und Sprach"
(S. 1264--1267) fast von Wort zu Wort ausgebeutet hat (S. 196--
198), ohne ihn als seinen einzigen Gewährsmann zu nennen; er
führt S. 5 u. 11 den zu Koburg 1737 erschienenen "Jüdischen Bald-
ober" als zu Gotha 1740 erschienen an, erwähnt S. 5 u. 11
der frankfurter Rotwelschen Grammatik von 1755 nur als eines
zu Frankfurt 1755 herausgekommenen bloßen Wörterbuches, der
"Actenmäßigen Nachricht aus den Mahr'schen Revelationen, 1753
zu Hildburghausen" als Entdeckungen zweier zu Hildburghausen
sitzenden Verbrecher u. s. w. Die historischen Notizen, die er
S. 4 fg. u. S. 10 fg. gibt, sind sehr kümmerlich und zusammen-
hanglos. Auch ist es auffallend, daß S. 6--7 in der Note 1--8
die Literatur, aus der er mindestens ein richtiges Verständniß der
Geschichte des Gaunerthums in diesem Jahrhunderte hätte schöpfen
können, nicht einmal mit Angabe der Verfasser nachgewiesen ist.
Auf die kümmerliche und mehrfach falsch allegirte linguistische
Literatur (S. 196), sowie speciell auf die im Wörterbuche auf-
fällig hervortretende starke Benutzung des vom Verfasser überall

Verſuchs einer ſeit langen Jahren nicht unternommenen ratio-
nellen Bearbeitung des Gaunerweſens, und das Hervortreten des
Verfaſſers in das größere Publikum, während frühere Schriften
ähnlicher Art meiſtens nur den Behörden zugänglich gemacht
waren, hat dieſem jedenfalls verdienſtvollen Werke einen Ruf ver-
ſchafft, obſchon ihm auf dem erſten Blick ſehr bedeutende geſchicht-
liche, literariſche und linguiſtiſche Mängel anzuſehen ſind. Thiele
hat ſich nicht bemüht, zu eigenem richtigen Verſtändniß des Gau-
nerthums deſſen ſchwierige aber höchſt anziehende Geſchichte zu
ſtudiren, weshalb er denn auch arge Blößen gibt. Er nennt
z. B. „die unter Luther’s Aegide herausgekommene Schrift“, die
er wiederholt (S. 4, 5 und 200), trotz der auf dem Titel der
Luther’ſchen Ausgabe des Liber Vagatorum gedruckten Jahreszahl
1528, in das Jahr 1520 verweiſt, „das einzig erhebliche Product
auf dieſem Felde der Literatur“, ohne Brant, Geiler und Gen-
genbach
zu nennen, begnügt ſich nur mit der dürren Anführung
der wichtigen Werke von Moſcheroſch und Schottelius, ungeachtet
er des letzteren „Elemental der Rotwelſchen Grammatic und Sprach“
(S. 1264—1267) faſt von Wort zu Wort ausgebeutet hat (S. 196—
198), ohne ihn als ſeinen einzigen Gewährsmann zu nennen; er
führt S. 5 u. 11 den zu Koburg 1737 erſchienenen „Jüdiſchen Bald-
ober“ als zu Gotha 1740 erſchienen an, erwähnt S. 5 u. 11
der frankfurter Rotwelſchen Grammatik von 1755 nur als eines
zu Frankfurt 1755 herausgekommenen bloßen Wörterbuches, der
„Actenmäßigen Nachricht aus den Mahr’ſchen Revelationen, 1753
zu Hildburghauſen“ als Entdeckungen zweier zu Hildburghauſen
ſitzenden Verbrecher u. ſ. w. Die hiſtoriſchen Notizen, die er
S. 4 fg. u. S. 10 fg. gibt, ſind ſehr kümmerlich und zuſammen-
hanglos. Auch iſt es auffallend, daß S. 6—7 in der Note 1—8
die Literatur, aus der er mindeſtens ein richtiges Verſtändniß der
Geſchichte des Gaunerthums in dieſem Jahrhunderte hätte ſchöpfen
können, nicht einmal mit Angabe der Verfaſſer nachgewieſen iſt.
Auf die kümmerliche und mehrfach falſch allegirte linguiſtiſche
Literatur (S. 196), ſowie ſpeciell auf die im Wörterbuche auf-
fällig hervortretende ſtarke Benutzung des vom Verfaſſer überall

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[265/0281] Verſuchs einer ſeit langen Jahren nicht unternommenen ratio- nellen Bearbeitung des Gaunerweſens, und das Hervortreten des Verfaſſers in das größere Publikum, während frühere Schriften ähnlicher Art meiſtens nur den Behörden zugänglich gemacht waren, hat dieſem jedenfalls verdienſtvollen Werke einen Ruf ver- ſchafft, obſchon ihm auf dem erſten Blick ſehr bedeutende geſchicht- liche, literariſche und linguiſtiſche Mängel anzuſehen ſind. Thiele hat ſich nicht bemüht, zu eigenem richtigen Verſtändniß des Gau- nerthums deſſen ſchwierige aber höchſt anziehende Geſchichte zu ſtudiren, weshalb er denn auch arge Blößen gibt. Er nennt z. B. „die unter Luther’s Aegide herausgekommene Schrift“, die er wiederholt (S. 4, 5 und 200), trotz der auf dem Titel der Luther’ſchen Ausgabe des Liber Vagatorum gedruckten Jahreszahl 1528, in das Jahr 1520 verweiſt, „das einzig erhebliche Product auf dieſem Felde der Literatur“, ohne Brant, Geiler und Gen- genbach zu nennen, begnügt ſich nur mit der dürren Anführung der wichtigen Werke von Moſcheroſch und Schottelius, ungeachtet er des letzteren „Elemental der Rotwelſchen Grammatic und Sprach“ (S. 1264—1267) faſt von Wort zu Wort ausgebeutet hat (S. 196— 198), ohne ihn als ſeinen einzigen Gewährsmann zu nennen; er führt S. 5 u. 11 den zu Koburg 1737 erſchienenen „Jüdiſchen Bald- ober“ als zu Gotha 1740 erſchienen an, erwähnt S. 5 u. 11 der frankfurter Rotwelſchen Grammatik von 1755 nur als eines zu Frankfurt 1755 herausgekommenen bloßen Wörterbuches, der „Actenmäßigen Nachricht aus den Mahr’ſchen Revelationen, 1753 zu Hildburghauſen“ als Entdeckungen zweier zu Hildburghauſen ſitzenden Verbrecher u. ſ. w. Die hiſtoriſchen Notizen, die er S. 4 fg. u. S. 10 fg. gibt, ſind ſehr kümmerlich und zuſammen- hanglos. Auch iſt es auffallend, daß S. 6—7 in der Note 1—8 die Literatur, aus der er mindeſtens ein richtiges Verſtändniß der Geſchichte des Gaunerthums in dieſem Jahrhunderte hätte ſchöpfen können, nicht einmal mit Angabe der Verfaſſer nachgewieſen iſt. Auf die kümmerliche und mehrfach falſch allegirte linguiſtiſche Literatur (S. 196), ſowie ſpeciell auf die im Wörterbuche auf- fällig hervortretende ſtarke Benutzung des vom Verfaſſer überall

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/281>, abgerufen am 02.05.2024.