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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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Ahnung durchblicken sieht, bis man den ganzen Organismus zum
ersten mal in der ausführlichen und klaren Darstellung des
sulzer Oberamtmanns Georg Jakob Schäffer im "Konstanzer
Hans" (Stuttgart 1789) und im "Abriß des Jauner- und Bet-
telwesens in Schwaben" (Stuttgart 1793) 1) in seiner ganzen
innern Mächtigkeit kennen lernt. Aber noch eine traurige Wahr-
nehmung drängt sich dabei hervor. Es ist die furchtbare sittliche
Verschlechterung der Gaunerkoryphäen, die in diesem ganzen Zeit-
abschnitt grell vor die Augen tritt, und in dieser Beziehung selbst
die Verworfenheit der Räuber in und nach dem Dreißig-
jährigen Kriege erreicht, ja in gewisser Beziehung übertrifft. Trotz
der Fühllosigkeit und Roheit, mit welcher die Banden im Dreißig-
jährigen Kriege raubten und mordeten, findet man doch häufig
noch einen Zug von räuberischer Romantik, den vorwiegenden
Hang nach Abenteuern und räuberische Tapferkeit hervortreten,
wobei auch noch manche Züge von Menschlichkeit durchblicken,
sobald es keinen Widerstand mehr gab; in den schleichenden Grup-
pen des vorigen Jahrhunderts erkennt man aber die bedachte
Schule des Verbrechens, den leisen Tritt des tückisch lauernden
Bösewichts, der mit ganzer Verbissenheit, mit dem tiefsten Groll
gegen die sich zu seinem Widerstande immer mächtiger heran-
bildenden 2) Sicherheitsbehörden, die Gelegenheit erschleicht, zur

Gauners, Hans Georg Schwarzmüller, war seine schon seit funfzig Jahren
bestehende Bande in der Stärke von 150 Mitgliedern durch Schwaben, Baiern,
Sachsen, Hannover und Hessen ausgebreitet, und stand unter der Anführung
des Krummfinger-Balthasar, der sogar ein eigenes Siegel führte, die Chargen
eines Hofraths, Oberamtmanns, Regierungsraths, ja sogar den Adel in der
Bande ertheilte, und nach einem geschriebenen Rechte, dem "Plattenrechte", die
Ordnung handhabte und Strafen verhängte, auch ein geschriebenes Verzeich-
niß der bei allen Versammlungen cultivirten und vermehrten "Plattensprache"
führte. Vgl. die vorgehende Note und die dort citirten hildburgh. Acten in
der Literatur.
1) Vgl. die Literatur unter den angeführten Titeln.
2) Ein Beweis von dieser allmählich zunehmenden Kraft der Sicherheits-
behörden ist der Umstand, daß während des Oesterreichischen Erbfolgekriegs (der
beiden Schlesischen Kriege), des Siebenjährigen Kriegs und des Bairischen
Erbfolgekriegs, die in ihrem Gefolge Unheil und Elend genug brachten, das

Ahnung durchblicken ſieht, bis man den ganzen Organismus zum
erſten mal in der ausführlichen und klaren Darſtellung des
ſulzer Oberamtmanns Georg Jakob Schäffer im „Konſtanzer
Hans“ (Stuttgart 1789) und im „Abriß des Jauner- und Bet-
telweſens in Schwaben“ (Stuttgart 1793) 1) in ſeiner ganzen
innern Mächtigkeit kennen lernt. Aber noch eine traurige Wahr-
nehmung drängt ſich dabei hervor. Es iſt die furchtbare ſittliche
Verſchlechterung der Gaunerkoryphäen, die in dieſem ganzen Zeit-
abſchnitt grell vor die Augen tritt, und in dieſer Beziehung ſelbſt
die Verworfenheit der Räuber in und nach dem Dreißig-
jährigen Kriege erreicht, ja in gewiſſer Beziehung übertrifft. Trotz
der Fühlloſigkeit und Roheit, mit welcher die Banden im Dreißig-
jährigen Kriege raubten und mordeten, findet man doch häufig
noch einen Zug von räuberiſcher Romantik, den vorwiegenden
Hang nach Abenteuern und räuberiſche Tapferkeit hervortreten,
wobei auch noch manche Züge von Menſchlichkeit durchblicken,
ſobald es keinen Widerſtand mehr gab; in den ſchleichenden Grup-
pen des vorigen Jahrhunderts erkennt man aber die bedachte
Schule des Verbrechens, den leiſen Tritt des tückiſch lauernden
Böſewichts, der mit ganzer Verbiſſenheit, mit dem tiefſten Groll
gegen die ſich zu ſeinem Widerſtande immer mächtiger heran-
bildenden 2) Sicherheitsbehörden, die Gelegenheit erſchleicht, zur

Gauners, Hans Georg Schwarzmüller, war ſeine ſchon ſeit funfzig Jahren
beſtehende Bande in der Stärke von 150 Mitgliedern durch Schwaben, Baiern,
Sachſen, Hannover und Heſſen ausgebreitet, und ſtand unter der Anführung
des Krummfinger-Balthaſar, der ſogar ein eigenes Siegel führte, die Chargen
eines Hofraths, Oberamtmanns, Regierungsraths, ja ſogar den Adel in der
Bande ertheilte, und nach einem geſchriebenen Rechte, dem „Plattenrechte“, die
Ordnung handhabte und Strafen verhängte, auch ein geſchriebenes Verzeich-
niß der bei allen Verſammlungen cultivirten und vermehrten „Plattenſprache“
führte. Vgl. die vorgehende Note und die dort citirten hildburgh. Acten in
der Literatur.
1) Vgl. die Literatur unter den angeführten Titeln.
2) Ein Beweis von dieſer allmählich zunehmenden Kraft der Sicherheits-
behörden iſt der Umſtand, daß während des Oeſterreichiſchen Erbfolgekriegs (der
beiden Schleſiſchen Kriege), des Siebenjährigen Kriegs und des Bairiſchen
Erbfolgekriegs, die in ihrem Gefolge Unheil und Elend genug brachten, das
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[87/0103] Ahnung durchblicken ſieht, bis man den ganzen Organismus zum erſten mal in der ausführlichen und klaren Darſtellung des ſulzer Oberamtmanns Georg Jakob Schäffer im „Konſtanzer Hans“ (Stuttgart 1789) und im „Abriß des Jauner- und Bet- telweſens in Schwaben“ (Stuttgart 1793) 1) in ſeiner ganzen innern Mächtigkeit kennen lernt. Aber noch eine traurige Wahr- nehmung drängt ſich dabei hervor. Es iſt die furchtbare ſittliche Verſchlechterung der Gaunerkoryphäen, die in dieſem ganzen Zeit- abſchnitt grell vor die Augen tritt, und in dieſer Beziehung ſelbſt die Verworfenheit der Räuber in und nach dem Dreißig- jährigen Kriege erreicht, ja in gewiſſer Beziehung übertrifft. Trotz der Fühlloſigkeit und Roheit, mit welcher die Banden im Dreißig- jährigen Kriege raubten und mordeten, findet man doch häufig noch einen Zug von räuberiſcher Romantik, den vorwiegenden Hang nach Abenteuern und räuberiſche Tapferkeit hervortreten, wobei auch noch manche Züge von Menſchlichkeit durchblicken, ſobald es keinen Widerſtand mehr gab; in den ſchleichenden Grup- pen des vorigen Jahrhunderts erkennt man aber die bedachte Schule des Verbrechens, den leiſen Tritt des tückiſch lauernden Böſewichts, der mit ganzer Verbiſſenheit, mit dem tiefſten Groll gegen die ſich zu ſeinem Widerſtande immer mächtiger heran- bildenden 2) Sicherheitsbehörden, die Gelegenheit erſchleicht, zur 3) 1) Vgl. die Literatur unter den angeführten Titeln. 2) Ein Beweis von dieſer allmählich zunehmenden Kraft der Sicherheits- behörden iſt der Umſtand, daß während des Oeſterreichiſchen Erbfolgekriegs (der beiden Schleſiſchen Kriege), des Siebenjährigen Kriegs und des Bairiſchen Erbfolgekriegs, die in ihrem Gefolge Unheil und Elend genug brachten, das 3) Gauners, Hans Georg Schwarzmüller, war ſeine ſchon ſeit funfzig Jahren beſtehende Bande in der Stärke von 150 Mitgliedern durch Schwaben, Baiern, Sachſen, Hannover und Heſſen ausgebreitet, und ſtand unter der Anführung des Krummfinger-Balthaſar, der ſogar ein eigenes Siegel führte, die Chargen eines Hofraths, Oberamtmanns, Regierungsraths, ja ſogar den Adel in der Bande ertheilte, und nach einem geſchriebenen Rechte, dem „Plattenrechte“, die Ordnung handhabte und Strafen verhängte, auch ein geſchriebenes Verzeich- niß der bei allen Verſammlungen cultivirten und vermehrten „Plattenſprache“ führte. Vgl. die vorgehende Note und die dort citirten hildburgh. Acten in der Literatur.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/103>, abgerufen am 27.11.2024.