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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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Paßwesen, ungekannt und ungestört, das alte Treiben unter ver-
ändertem Namen von neuem zu beginnen. Das Werbenlassen
und Desertiren ist in der Geschichte fast jedes Verbrechers im
vorigen Jahrhundert eine sich stets wiederholende Begebenheit und
ein praktischer Behelf, sich vor den gerichtlichen Verfolgungen zu
sichern 1), bis Zeit und Gelegenheit wieder günstiger wurde.
Ebenso wenig läßt sich verkennen, daß, trotz den tüchtigsten Poli-
zeimaßregeln gegen die Vaganten und Gauner, die Sicherheits-
behörden seit der allmählichen Beschränkung und Aufhebung der
Landesverweisungen, mindestens an den Landesgrenzen, weniger
sorgsam wurden, weshalb denn nun auch die Grenzen von dem
früher auf Schub gebrachten und entgegengenommenen Gesindel
heimlich und zu jeder beliebigen Zeit überschritten wurden. Die
unaufhörlichen Kriegsbewegungen in Deutschland begünstigten den
Zug und Versteck des Gaunerthums außerordentlich, und wenn
auch die Einrichtung berittener Sicherheitsbeamten, sowie die An-
lagen von Chausseen, den zahlreichen frechen Postberaubungen
einigermaßen Abbruch thaten und den Reisenden größern Schutz
als zuvor gewährten, so war damit der ganze übrige Verkehr

1) Obgleich die militärische Disciplin und Justiz äußerst streng war,
und jedes Regiment seinen eigenen Regimentshenker hatte, so fehlte es doch
an Geschick und Willen, den flüchtigen Verbrecher zu entlarven und zu be-
strafen. Es galt meistens nur, des Deserteurs habhaft zu werden, um ihn,
nachdem er Spießruthen gelaufen hatte, wieder in das Regiment einzureihen.
So scheuten Verbrecher, die wußten, daß sie in den Händen der Justiz dem
Tode verfallen waren, es durchaus nicht, sich als Deserteur zu bekennen und
lieber bei ihrem verlassenen Regimente eine schwere körperliche Strafe zu er-
dulden, als einer peinlichen Untersuchung zu verfallen, deren sichtliches Ende
der Tod durch Henkershand war. Somit kam es vor, daß Verbrecher auf
dem Transport durch anderer Herren Länder geradezu an der Grenze den
Transporteurs durch ein Militärpiket ohne Umstände als Deserteurs abgenom-
men wurden, nachdem die Genossen der Transportaten ihnen den Liebesdienst
erwiesen hatten, sie vorher als Deserteurs zu bezeichnen. Von der barbarischen
Strenge des im vorigen Jahrhundert üblichen Kriegsrechts gibt unter andern
Generalauditeur J. A. Dölffer in dem "Processus juris militaris informa-
tivus
" (Leipzig 1702), dem auch der "Fürstlich Braunschweig-Lüneb. Ar-
tickels-Brieff vom 26. Nov. 1673" angehängt ist, ein grelles Bild.

Paßweſen, ungekannt und ungeſtört, das alte Treiben unter ver-
ändertem Namen von neuem zu beginnen. Das Werbenlaſſen
und Deſertiren iſt in der Geſchichte faſt jedes Verbrechers im
vorigen Jahrhundert eine ſich ſtets wiederholende Begebenheit und
ein praktiſcher Behelf, ſich vor den gerichtlichen Verfolgungen zu
ſichern 1), bis Zeit und Gelegenheit wieder günſtiger wurde.
Ebenſo wenig läßt ſich verkennen, daß, trotz den tüchtigſten Poli-
zeimaßregeln gegen die Vaganten und Gauner, die Sicherheits-
behörden ſeit der allmählichen Beſchränkung und Aufhebung der
Landesverweiſungen, mindeſtens an den Landesgrenzen, weniger
ſorgſam wurden, weshalb denn nun auch die Grenzen von dem
früher auf Schub gebrachten und entgegengenommenen Geſindel
heimlich und zu jeder beliebigen Zeit überſchritten wurden. Die
unaufhörlichen Kriegsbewegungen in Deutſchland begünſtigten den
Zug und Verſteck des Gaunerthums außerordentlich, und wenn
auch die Einrichtung berittener Sicherheitsbeamten, ſowie die An-
lagen von Chauſſeen, den zahlreichen frechen Poſtberaubungen
einigermaßen Abbruch thaten und den Reiſenden größern Schutz
als zuvor gewährten, ſo war damit der ganze übrige Verkehr

1) Obgleich die militäriſche Disciplin und Juſtiz äußerſt ſtreng war,
und jedes Regiment ſeinen eigenen Regimentshenker hatte, ſo fehlte es doch
an Geſchick und Willen, den flüchtigen Verbrecher zu entlarven und zu be-
ſtrafen. Es galt meiſtens nur, des Deſerteurs habhaft zu werden, um ihn,
nachdem er Spießruthen gelaufen hatte, wieder in das Regiment einzureihen.
So ſcheuten Verbrecher, die wußten, daß ſie in den Händen der Juſtiz dem
Tode verfallen waren, es durchaus nicht, ſich als Deſerteur zu bekennen und
lieber bei ihrem verlaſſenen Regimente eine ſchwere körperliche Strafe zu er-
dulden, als einer peinlichen Unterſuchung zu verfallen, deren ſichtliches Ende
der Tod durch Henkershand war. Somit kam es vor, daß Verbrecher auf
dem Transport durch anderer Herren Länder geradezu an der Grenze den
Transporteurs durch ein Militärpiket ohne Umſtände als Deſerteurs abgenom-
men wurden, nachdem die Genoſſen der Transportaten ihnen den Liebesdienſt
erwieſen hatten, ſie vorher als Deſerteurs zu bezeichnen. Von der barbariſchen
Strenge des im vorigen Jahrhundert üblichen Kriegsrechts gibt unter andern
Generalauditeur J. A. Dölffer in dem „Processus juris militaris informa-
tivus
“ (Leipzig 1702), dem auch der „Fürſtlich Braunſchweig-Lüneb. Ar-
tickels-Brieff vom 26. Nov. 1673“ angehängt iſt, ein grelles Bild.
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[85/0101] Paßweſen, ungekannt und ungeſtört, das alte Treiben unter ver- ändertem Namen von neuem zu beginnen. Das Werbenlaſſen und Deſertiren iſt in der Geſchichte faſt jedes Verbrechers im vorigen Jahrhundert eine ſich ſtets wiederholende Begebenheit und ein praktiſcher Behelf, ſich vor den gerichtlichen Verfolgungen zu ſichern 1), bis Zeit und Gelegenheit wieder günſtiger wurde. Ebenſo wenig läßt ſich verkennen, daß, trotz den tüchtigſten Poli- zeimaßregeln gegen die Vaganten und Gauner, die Sicherheits- behörden ſeit der allmählichen Beſchränkung und Aufhebung der Landesverweiſungen, mindeſtens an den Landesgrenzen, weniger ſorgſam wurden, weshalb denn nun auch die Grenzen von dem früher auf Schub gebrachten und entgegengenommenen Geſindel heimlich und zu jeder beliebigen Zeit überſchritten wurden. Die unaufhörlichen Kriegsbewegungen in Deutſchland begünſtigten den Zug und Verſteck des Gaunerthums außerordentlich, und wenn auch die Einrichtung berittener Sicherheitsbeamten, ſowie die An- lagen von Chauſſeen, den zahlreichen frechen Poſtberaubungen einigermaßen Abbruch thaten und den Reiſenden größern Schutz als zuvor gewährten, ſo war damit der ganze übrige Verkehr 1) Obgleich die militäriſche Disciplin und Juſtiz äußerſt ſtreng war, und jedes Regiment ſeinen eigenen Regimentshenker hatte, ſo fehlte es doch an Geſchick und Willen, den flüchtigen Verbrecher zu entlarven und zu be- ſtrafen. Es galt meiſtens nur, des Deſerteurs habhaft zu werden, um ihn, nachdem er Spießruthen gelaufen hatte, wieder in das Regiment einzureihen. So ſcheuten Verbrecher, die wußten, daß ſie in den Händen der Juſtiz dem Tode verfallen waren, es durchaus nicht, ſich als Deſerteur zu bekennen und lieber bei ihrem verlaſſenen Regimente eine ſchwere körperliche Strafe zu er- dulden, als einer peinlichen Unterſuchung zu verfallen, deren ſichtliches Ende der Tod durch Henkershand war. Somit kam es vor, daß Verbrecher auf dem Transport durch anderer Herren Länder geradezu an der Grenze den Transporteurs durch ein Militärpiket ohne Umſtände als Deſerteurs abgenom- men wurden, nachdem die Genoſſen der Transportaten ihnen den Liebesdienſt erwieſen hatten, ſie vorher als Deſerteurs zu bezeichnen. Von der barbariſchen Strenge des im vorigen Jahrhundert üblichen Kriegsrechts gibt unter andern Generalauditeur J. A. Dölffer in dem „Processus juris militaris informa- tivus“ (Leipzig 1702), dem auch der „Fürſtlich Braunſchweig-Lüneb. Ar- tickels-Brieff vom 26. Nov. 1673“ angehängt iſt, ein grelles Bild.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/101>, abgerufen am 27.11.2024.