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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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Standes repräsentirte und ihre Theorie gegen die furchtbare Be-
lehrung der andern verworfenen Subjecte austauschte. Jn jenen
Anstalten fehlte es an allen glücklichen Einwirkungen auf das
Gemüth und somit auf die geistige Hebung uud Besserung der
Häuslinge 1), die kaum nach den Geschlechtern nothdürftig geschie-
den waren und bei der mangelhaften Aufsicht vielfache Gelegen-
heit zum Entweichen gewannen. Bei dem nicht minder entsitt-
lichenden Werbesystem fanden die Flüchtlinge leicht Gelegenheit,
sich in dem ersten besten Regimente als Soldat zu verstecken, bis
sie wieder andere Gelegenheit fanden, zu desertiren und entweder
geradewegs zum Feinde überzugehen, oder bei dem mangelhaften

nicht einmal der Adel mehr in Frankreich recht anständig war. Was wäre
nicht von Frankreich aus Verderbliches nach Deutschland gedrungen, nament-
lich wenn ein Voltaire, der auf den Ruinen des von ihm niedergetretenen
Christenthums triumphirte, der Vermittler war, "der die Seichten und Vor-
nehmen aller Länder entzückte, wohin nur die französische Sprache drang. Und
wohin drang sie nicht durch Prinzenerzieher und Gouvernanten, durch Kammer-
diener, Parfumeurs, Schauspieler, Jntendanten aller Art?" u. s. w. (Bensen,
"Die Proletarier" Stuttgart 1847, S. 257). Einen tiefen Blick in das
damalige deutsche Familienleben, aus dem Anstand und Ehrbarkeit gewichen
schien, gewinnt man, wenn man die Menge schlüpfriger und schmuziger Ge-
legenheitsgedichte aus jener Zeit liest, die leider sogar auch von Geistlichen
gedichtet wurden, und mit denen man heute den schamlosen Dichter für immer
von der guten Gesellschaft ausschließen würde.
1) Die hauptsächlichste Einwirkung auf die Züchtlinge waren die bis zur
Ueberschwenglichkeit freigebig ausgetheilten Prügel, die statutenmäßig jeder
neue Ankömmling als "Willkommen" an der Strafsäule erhielt. Auf der
sechstheiligen Kupfertafel, welche der in mehr als einer Hinsicht merkwürdigen
"Beschreibung des 1716 eingerichteten Chur-Sächsischen allgemeinen Zucht-,
Waysen- und Armen-Hauses zu Waldheim" als "Eigentliche Abbildung aller
Gebräuche" angefügt ist, findet man sogar bei der Kirchen- und bei der
Leichenparade die Aufseher mit ihren Prügeln ebenso in Thätigkeit, wie in den
Speisesälen für beide Geschlechter. Ueber den auch unter den Beamten der
Anstalt herrschenden Aberglauben und über den sittlichen Gehalt der Züchtlinge
und Beamten geben die Nachrichten merkwürdige Auskunft. Weitere Nachrichten
über diese in neuerer Zeit so ausgezeichnet verwaltete "Mutteranstalt" gibt
H. B. Wagnitz in seinem trefflichen und noch immer sehr beherzigenswerthen
Werke: "Historische Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigsten
Zuchthäuser in Deutschland" (2 Bde., Halle 1791 u. 1792), I, 228.

Standes repräſentirte und ihre Theorie gegen die furchtbare Be-
lehrung der andern verworfenen Subjecte austauſchte. Jn jenen
Anſtalten fehlte es an allen glücklichen Einwirkungen auf das
Gemüth und ſomit auf die geiſtige Hebung uud Beſſerung der
Häuslinge 1), die kaum nach den Geſchlechtern nothdürftig geſchie-
den waren und bei der mangelhaften Aufſicht vielfache Gelegen-
heit zum Entweichen gewannen. Bei dem nicht minder entſitt-
lichenden Werbeſyſtem fanden die Flüchtlinge leicht Gelegenheit,
ſich in dem erſten beſten Regimente als Soldat zu verſtecken, bis
ſie wieder andere Gelegenheit fanden, zu deſertiren und entweder
geradewegs zum Feinde überzugehen, oder bei dem mangelhaften

nicht einmal der Adel mehr in Frankreich recht anſtändig war. Was wäre
nicht von Frankreich aus Verderbliches nach Deutſchland gedrungen, nament-
lich wenn ein Voltaire, der auf den Ruinen des von ihm niedergetretenen
Chriſtenthums triumphirte, der Vermittler war, „der die Seichten und Vor-
nehmen aller Länder entzückte, wohin nur die franzöſiſche Sprache drang. Und
wohin drang ſie nicht durch Prinzenerzieher und Gouvernanten, durch Kammer-
diener, Parfumeurs, Schauſpieler, Jntendanten aller Art?“ u. ſ. w. (Benſen,
„Die Proletarier“ Stuttgart 1847, S. 257). Einen tiefen Blick in das
damalige deutſche Familienleben, aus dem Anſtand und Ehrbarkeit gewichen
ſchien, gewinnt man, wenn man die Menge ſchlüpfriger und ſchmuziger Ge-
legenheitsgedichte aus jener Zeit lieſt, die leider ſogar auch von Geiſtlichen
gedichtet wurden, und mit denen man heute den ſchamloſen Dichter für immer
von der guten Geſellſchaft ausſchließen würde.
1) Die hauptſächlichſte Einwirkung auf die Züchtlinge waren die bis zur
Ueberſchwenglichkeit freigebig ausgetheilten Prügel, die ſtatutenmäßig jeder
neue Ankömmling als „Willkommen“ an der Strafſäule erhielt. Auf der
ſechstheiligen Kupfertafel, welche der in mehr als einer Hinſicht merkwürdigen
„Beſchreibung des 1716 eingerichteten Chur-Sächſiſchen allgemeinen Zucht-,
Wayſen- und Armen-Hauſes zu Waldheim“ als „Eigentliche Abbildung aller
Gebräuche“ angefügt iſt, findet man ſogar bei der Kirchen- und bei der
Leichenparade die Aufſeher mit ihren Prügeln ebenſo in Thätigkeit, wie in den
Speiſeſälen für beide Geſchlechter. Ueber den auch unter den Beamten der
Anſtalt herrſchenden Aberglauben und über den ſittlichen Gehalt der Züchtlinge
und Beamten geben die Nachrichten merkwürdige Auskunft. Weitere Nachrichten
über dieſe in neuerer Zeit ſo ausgezeichnet verwaltete „Mutteranſtalt“ gibt
H. B. Wagnitz in ſeinem trefflichen und noch immer ſehr beherzigenswerthen
Werke: „Hiſtoriſche Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigſten
Zuchthäuſer in Deutſchland“ (2 Bde., Halle 1791 u. 1792), I, 228.
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[84/0100] Standes repräſentirte und ihre Theorie gegen die furchtbare Be- lehrung der andern verworfenen Subjecte austauſchte. Jn jenen Anſtalten fehlte es an allen glücklichen Einwirkungen auf das Gemüth und ſomit auf die geiſtige Hebung uud Beſſerung der Häuslinge 1), die kaum nach den Geſchlechtern nothdürftig geſchie- den waren und bei der mangelhaften Aufſicht vielfache Gelegen- heit zum Entweichen gewannen. Bei dem nicht minder entſitt- lichenden Werbeſyſtem fanden die Flüchtlinge leicht Gelegenheit, ſich in dem erſten beſten Regimente als Soldat zu verſtecken, bis ſie wieder andere Gelegenheit fanden, zu deſertiren und entweder geradewegs zum Feinde überzugehen, oder bei dem mangelhaften 2) 1) Die hauptſächlichſte Einwirkung auf die Züchtlinge waren die bis zur Ueberſchwenglichkeit freigebig ausgetheilten Prügel, die ſtatutenmäßig jeder neue Ankömmling als „Willkommen“ an der Strafſäule erhielt. Auf der ſechstheiligen Kupfertafel, welche der in mehr als einer Hinſicht merkwürdigen „Beſchreibung des 1716 eingerichteten Chur-Sächſiſchen allgemeinen Zucht-, Wayſen- und Armen-Hauſes zu Waldheim“ als „Eigentliche Abbildung aller Gebräuche“ angefügt iſt, findet man ſogar bei der Kirchen- und bei der Leichenparade die Aufſeher mit ihren Prügeln ebenſo in Thätigkeit, wie in den Speiſeſälen für beide Geſchlechter. Ueber den auch unter den Beamten der Anſtalt herrſchenden Aberglauben und über den ſittlichen Gehalt der Züchtlinge und Beamten geben die Nachrichten merkwürdige Auskunft. Weitere Nachrichten über dieſe in neuerer Zeit ſo ausgezeichnet verwaltete „Mutteranſtalt“ gibt H. B. Wagnitz in ſeinem trefflichen und noch immer ſehr beherzigenswerthen Werke: „Hiſtoriſche Nachrichten und Bemerkungen über die merkwürdigſten Zuchthäuſer in Deutſchland“ (2 Bde., Halle 1791 u. 1792), I, 228. 2) nicht einmal der Adel mehr in Frankreich recht anſtändig war. Was wäre nicht von Frankreich aus Verderbliches nach Deutſchland gedrungen, nament- lich wenn ein Voltaire, der auf den Ruinen des von ihm niedergetretenen Chriſtenthums triumphirte, der Vermittler war, „der die Seichten und Vor- nehmen aller Länder entzückte, wohin nur die franzöſiſche Sprache drang. Und wohin drang ſie nicht durch Prinzenerzieher und Gouvernanten, durch Kammer- diener, Parfumeurs, Schauſpieler, Jntendanten aller Art?“ u. ſ. w. (Benſen, „Die Proletarier“ Stuttgart 1847, S. 257). Einen tiefen Blick in das damalige deutſche Familienleben, aus dem Anſtand und Ehrbarkeit gewichen ſchien, gewinnt man, wenn man die Menge ſchlüpfriger und ſchmuziger Ge- legenheitsgedichte aus jener Zeit lieſt, die leider ſogar auch von Geiſtlichen gedichtet wurden, und mit denen man heute den ſchamloſen Dichter für immer von der guten Geſellſchaft ausſchließen würde.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/100>, abgerufen am 04.05.2024.