Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 151. Augsburg, 30. Mai 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

für die Beurtheilung alter Schrifttexte und der fernsten Zeiten des Alterthums ein Licht ist angezündet worden, das in den letzten Zeiten selbst die dunkeln Zellen veralteten Wissens der französischen Universität und der in ihnen eingekerkerten Geister zu beleuchten und zu erwärmen angefangen hat.

Die Schulen stehen nicht weniger streng geschieden und fest gegliedert auf dem Gebiete der Theologie und der Jurisprudenz einander gegenüber, in der Theologie nicht nur die durch confessionelle Unterschiede getrennten Schulen der katholischen und protestantischen Theologie, sondern in jener die Systeme des curialen und episkopalen kirchlichen Rechts und der Principienstreit über die Zuständigkeit des Wissens und der Speculation in Glaubenssachen, in dieser der zu seinem Ziele gediehene Nationalismus und die durch Umkehr zu der kirchlichen Lehre neugekräftigten und durch gelehrte Theologen vertretenen orthodoxen Lehren des positiven evangelischen Christenthums.

Das Alles und was auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, besonders der Geologie, der Chemie, der Mineralogie und Botanik, dann in der Heilkunde als innerer Widerstreit der Principien hervortritt, ist, wir wiederholen es, Zeichen und Bedingung wie Frucht des Lebens - eine Erscheinung, so umfassend, groß und bedeutsam, daß nicht zu verwundern, wenn in den engen Gesichtskreis dieses befangenen Auges kein einziger Strahl von ihr klar und ungetrübt eingedrungen ist, und er, statt eines edlen mit großer Kraft geführten und über die Gefilde der Intelligenz weitverbreiteten Wettkampfs mit Siegespalmen und Kränzen, nichts als ein mißgeschaffenes Getümmel von Pedanten und Wortklaubern wahrnimmt, das, außer einem Niederschlag von Maculatur, nichts zurückläßt.

Es verhält sich nicht anders mit dem, was über unsere Litteratur im wahren Sinne, vorzüglich über Poesie, gesagt wird. Goethe hat in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens auf sie wenig Einfluß geübt. (?) Mit Schiller war auch seine Sonne untergegangen, und es ist thöricht, um sein Alter und die matte Wirksamkeit seiner letzten Jahre, wie Hr. Marmier thut, die letzten Strahlen des großen litterarischen Tages von Deutschland zu gießen, nach deren Erlöschen Nebel und Finsterniß über uns eingebrochen sey. Es ist überhaupt bedenklich, das geistige Daseyn und Leben einer Nation nicht an die Wirksamkeit, sondern an das Leben ihrer Notabilitäten zu knüpfen. Die Perioden großer Dichter und Künstler sind bei allen Völkern kurz, aber das von ihnen entzündete oder von ihnen ausgesprochene und verkündigte Leben der Nation besteht, so lange die Werke ihres Geistes die Nation erfüllen, beleben und erfreuen, und insofern darf man sagen, daß das Leben von Schiller und das Leben der Nation, sofern es durch ihn bedingt wird, jetzt in voller Blüthe stehe, wo die Energie der größten Buchhandlung auf deutschem Boden nicht hinreicht, durch nieruhende Vervielfältigung seiner Werke den Bedarf seiner Werke zu befriedigen, und die reiche Frucht seines edlen und tiefen Geistes bis in die Massen des Volks weckend und bildend hinabgedrungen ist. Ein Volk, das einen Genius, der sein inneres Leben empfunden und ausgesprochen hat, so in sich aufnimmt und ehrt, ist auch auf dem Gebiete der Poesie und des durch sie bedingten Gefühls und Bestrebens ein geistig lebendiges und frisches Volk. Es verhält sich allerdings anders mit Goethe. Er genießt mit vollem Recht eines großen und europäischen Ruhms, wird aber nie der Mann des Volks werden, dem er durch die abgeschlossene und stille Würde seines rein künstlerischen Wesens zu fern steht, während das sittliche und religiöse Gefühl der Nation sich von denjenigen Theilen seiner Werke abwendet, in denen unchristliches Wesen und jener feine Priapismus enthalten ist, der diesem poetischen Jupiter ebenso wie dem mythologischen die Adern schwellte und in vielfacher Weise durch die Erzeugnisse seiner starken Natur sich verbreitet hat. Uebrigens ist es nicht wahr, daß nach dem Abgang von Goethe der deutsche Parnaß in Dämmerung und Nebel gehüllt worden. Die eigentliche Stärke und Innigkeit der deutschen Poesie ist in ihrer Lyrik, von den Minnesängern herab durch die herrlichen geistlichen Lieder des 16ten und 17ten Jahrhunderts bis zu Klopstock, und von diesem bis zu den großen Sängern am Hofe der Herzogin Amalie und ihres trefflichen Sohnes, und diese Lyrik besteht noch fortdauernd in ungeschwächter Kraft. Zwar ist Platen ihr in der Blüthe seines Lebens und Ruhms entrissen worden: er stand auf gleicher Höhe mit den Besten der Nation; aber Friedrich Rückert entströmt fortdauernd in ungeschwächter Fülle der reinste und lauterste Quell ächt deutschen Gesanges, in demselben Lande, in welchem der König von dem Throne herab den Dichtern und Künstlern die Hand reicht. Die Meister der schwäbischen Schule leben noch unter uns, und es braucht kaum der Erinnerung, daß sich ihnen in den letzten Zeiten Sänger des reichbegabten österreichischen Stammes angeschlossen, welche den Vorgängern an Geist und Verdienst nicht nachstehen, während am Rhein ein ganz neues Geschlecht vielversprechender, jugendlich frischer Talente ersteht.

Hr. Marmier haftet an den Verirrungen des jungen Deutschlands, dessen Benennung schon eine Thorheit ist, weil es einen imaginären Vorzug in Anspruch nimmt, der, wenn er auch bestände, mit jedem Tage geringer würde, und wir sind weit entfernt, seinem Tadel oder seiner Verurtheilung desselben entgegenzutreten; doch ist zu bemerken, daß er erst eintrifft, nachdem das öffentliche Urtheil unter uns dieses verkehrte Streben schon gerichtet hat, und daß er auch hier in sein altes Unrecht, in die Wurzel aller seiner Verkehrtheiten und Verzerrungen, zurückfällt, indem er jene Verirrung für etwas Anderes, als was sie ist, und für die neueste Gestalt der deutschen Litteratur selbst hält. Uebrigens ist man auch über sie zur Billigkeit des Urtheils zurückgekommen. Man hat diesem jungen und übermüthigen Geschlecht vergeben; man hat fast vergessen, was es Verkehrtes gethan oder gewollt, und was es Gutes geleistet, ist darum nicht weniger anerkannt. Heinrich Heine, um nur diesen zu nennen, gehört durch seine Lieder wie durch mehrere seiner Darstellungen in Prosa zu den begabtesten Dichtern unserer Epoche.

In Summa, Hr. Marmier, der mit Wohlwollen und Bereitwilligkeit, uns in unserer Weise kennen zu lernen, nach Deutschland gekommen war, und dieses Wohlwollen auch dadurch bewährt, daß er die Bewunderer fremder Sitten und französischer Erzeugnisse unter uns großmüthig an das erinnert, was sie sich und ihrer Nation schuldig sind, hat durch Mangel an Kenntniß, durch Einseitigkeit der Mittheilung und Auffassung, durch einheimisches Vorurtheil, dessen kein Franzose auf deutschem Boden sich entschlagen kann, und endlich durch leeres Selbstvertrauen auf eine schwache Einsicht, das Hauptsächliche, was er über die öffentliche und wissenschaftliche Thätigkeit in Deutschland, über den Geist der Nation, über den Gehalt und die Richtung ihrer Sprache und Litteratur gesagt hat, in eine Carricatur verwandelt, in der bei uns Niemand sein Volk, wohl aber die Farben der verzogenen barocken Eitelkeit wahrnehmen wird, die er von sich selbst zum Besten gegeben hat. Hr. Marmier hat anderwärts wegen des Gutmeinens, was in seiner verzerrten Darstellung hie und da durchblickt, Anerkennung, und wegen mancher richtigen Bemerkung über die Schwächen unserer Litteratur und Kunst Lob gefunden. Er kann es als einen Beweis der unergründlichen Gutmüthigkeit

für die Beurtheilung alter Schrifttexte und der fernsten Zeiten des Alterthums ein Licht ist angezündet worden, das in den letzten Zeiten selbst die dunkeln Zellen veralteten Wissens der französischen Universität und der in ihnen eingekerkerten Geister zu beleuchten und zu erwärmen angefangen hat.

Die Schulen stehen nicht weniger streng geschieden und fest gegliedert auf dem Gebiete der Theologie und der Jurisprudenz einander gegenüber, in der Theologie nicht nur die durch confessionelle Unterschiede getrennten Schulen der katholischen und protestantischen Theologie, sondern in jener die Systeme des curialen und episkopalen kirchlichen Rechts und der Principienstreit über die Zuständigkeit des Wissens und der Speculation in Glaubenssachen, in dieser der zu seinem Ziele gediehene Nationalismus und die durch Umkehr zu der kirchlichen Lehre neugekräftigten und durch gelehrte Theologen vertretenen orthodoxen Lehren des positiven evangelischen Christenthums.

Das Alles und was auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, besonders der Geologie, der Chemie, der Mineralogie und Botanik, dann in der Heilkunde als innerer Widerstreit der Principien hervortritt, ist, wir wiederholen es, Zeichen und Bedingung wie Frucht des Lebens – eine Erscheinung, so umfassend, groß und bedeutsam, daß nicht zu verwundern, wenn in den engen Gesichtskreis dieses befangenen Auges kein einziger Strahl von ihr klar und ungetrübt eingedrungen ist, und er, statt eines edlen mit großer Kraft geführten und über die Gefilde der Intelligenz weitverbreiteten Wettkampfs mit Siegespalmen und Kränzen, nichts als ein mißgeschaffenes Getümmel von Pedanten und Wortklaubern wahrnimmt, das, außer einem Niederschlag von Maculatur, nichts zurückläßt.

Es verhält sich nicht anders mit dem, was über unsere Litteratur im wahren Sinne, vorzüglich über Poesie, gesagt wird. Goethe hat in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens auf sie wenig Einfluß geübt. (?) Mit Schiller war auch seine Sonne untergegangen, und es ist thöricht, um sein Alter und die matte Wirksamkeit seiner letzten Jahre, wie Hr. Marmier thut, die letzten Strahlen des großen litterarischen Tages von Deutschland zu gießen, nach deren Erlöschen Nebel und Finsterniß über uns eingebrochen sey. Es ist überhaupt bedenklich, das geistige Daseyn und Leben einer Nation nicht an die Wirksamkeit, sondern an das Leben ihrer Notabilitäten zu knüpfen. Die Perioden großer Dichter und Künstler sind bei allen Völkern kurz, aber das von ihnen entzündete oder von ihnen ausgesprochene und verkündigte Leben der Nation besteht, so lange die Werke ihres Geistes die Nation erfüllen, beleben und erfreuen, und insofern darf man sagen, daß das Leben von Schiller und das Leben der Nation, sofern es durch ihn bedingt wird, jetzt in voller Blüthe stehe, wo die Energie der größten Buchhandlung auf deutschem Boden nicht hinreicht, durch nieruhende Vervielfältigung seiner Werke den Bedarf seiner Werke zu befriedigen, und die reiche Frucht seines edlen und tiefen Geistes bis in die Massen des Volks weckend und bildend hinabgedrungen ist. Ein Volk, das einen Genius, der sein inneres Leben empfunden und ausgesprochen hat, so in sich aufnimmt und ehrt, ist auch auf dem Gebiete der Poesie und des durch sie bedingten Gefühls und Bestrebens ein geistig lebendiges und frisches Volk. Es verhält sich allerdings anders mit Goethe. Er genießt mit vollem Recht eines großen und europäischen Ruhms, wird aber nie der Mann des Volks werden, dem er durch die abgeschlossene und stille Würde seines rein künstlerischen Wesens zu fern steht, während das sittliche und religiöse Gefühl der Nation sich von denjenigen Theilen seiner Werke abwendet, in denen unchristliches Wesen und jener feine Priapismus enthalten ist, der diesem poetischen Jupiter ebenso wie dem mythologischen die Adern schwellte und in vielfacher Weise durch die Erzeugnisse seiner starken Natur sich verbreitet hat. Uebrigens ist es nicht wahr, daß nach dem Abgang von Goethe der deutsche Parnaß in Dämmerung und Nebel gehüllt worden. Die eigentliche Stärke und Innigkeit der deutschen Poesie ist in ihrer Lyrik, von den Minnesängern herab durch die herrlichen geistlichen Lieder des 16ten und 17ten Jahrhunderts bis zu Klopstock, und von diesem bis zu den großen Sängern am Hofe der Herzogin Amalie und ihres trefflichen Sohnes, und diese Lyrik besteht noch fortdauernd in ungeschwächter Kraft. Zwar ist Platen ihr in der Blüthe seines Lebens und Ruhms entrissen worden: er stand auf gleicher Höhe mit den Besten der Nation; aber Friedrich Rückert entströmt fortdauernd in ungeschwächter Fülle der reinste und lauterste Quell ächt deutschen Gesanges, in demselben Lande, in welchem der König von dem Throne herab den Dichtern und Künstlern die Hand reicht. Die Meister der schwäbischen Schule leben noch unter uns, und es braucht kaum der Erinnerung, daß sich ihnen in den letzten Zeiten Sänger des reichbegabten österreichischen Stammes angeschlossen, welche den Vorgängern an Geist und Verdienst nicht nachstehen, während am Rhein ein ganz neues Geschlecht vielversprechender, jugendlich frischer Talente ersteht.

Hr. Marmier haftet an den Verirrungen des jungen Deutschlands, dessen Benennung schon eine Thorheit ist, weil es einen imaginären Vorzug in Anspruch nimmt, der, wenn er auch bestände, mit jedem Tage geringer würde, und wir sind weit entfernt, seinem Tadel oder seiner Verurtheilung desselben entgegenzutreten; doch ist zu bemerken, daß er erst eintrifft, nachdem das öffentliche Urtheil unter uns dieses verkehrte Streben schon gerichtet hat, und daß er auch hier in sein altes Unrecht, in die Wurzel aller seiner Verkehrtheiten und Verzerrungen, zurückfällt, indem er jene Verirrung für etwas Anderes, als was sie ist, und für die neueste Gestalt der deutschen Litteratur selbst hält. Uebrigens ist man auch über sie zur Billigkeit des Urtheils zurückgekommen. Man hat diesem jungen und übermüthigen Geschlecht vergeben; man hat fast vergessen, was es Verkehrtes gethan oder gewollt, und was es Gutes geleistet, ist darum nicht weniger anerkannt. Heinrich Heine, um nur diesen zu nennen, gehört durch seine Lieder wie durch mehrere seiner Darstellungen in Prosa zu den begabtesten Dichtern unserer Epoche.

In Summa, Hr. Marmier, der mit Wohlwollen und Bereitwilligkeit, uns in unserer Weise kennen zu lernen, nach Deutschland gekommen war, und dieses Wohlwollen auch dadurch bewährt, daß er die Bewunderer fremder Sitten und französischer Erzeugnisse unter uns großmüthig an das erinnert, was sie sich und ihrer Nation schuldig sind, hat durch Mangel an Kenntniß, durch Einseitigkeit der Mittheilung und Auffassung, durch einheimisches Vorurtheil, dessen kein Franzose auf deutschem Boden sich entschlagen kann, und endlich durch leeres Selbstvertrauen auf eine schwache Einsicht, das Hauptsächliche, was er über die öffentliche und wissenschaftliche Thätigkeit in Deutschland, über den Geist der Nation, über den Gehalt und die Richtung ihrer Sprache und Litteratur gesagt hat, in eine Carricatur verwandelt, in der bei uns Niemand sein Volk, wohl aber die Farben der verzogenen barocken Eitelkeit wahrnehmen wird, die er von sich selbst zum Besten gegeben hat. Hr. Marmier hat anderwärts wegen des Gutmeinens, was in seiner verzerrten Darstellung hie und da durchblickt, Anerkennung, und wegen mancher richtigen Bemerkung über die Schwächen unserer Litteratur und Kunst Lob gefunden. Er kann es als einen Beweis der unergründlichen Gutmüthigkeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0013" n="1205"/>
für die Beurtheilung alter Schrifttexte und der fernsten Zeiten des Alterthums ein Licht ist angezündet worden, das in den letzten Zeiten selbst die dunkeln Zellen veralteten Wissens der französischen Universität und der in ihnen eingekerkerten Geister zu beleuchten und zu erwärmen angefangen hat.</p><lb/>
        <p>Die Schulen stehen nicht weniger streng geschieden und fest gegliedert auf dem Gebiete der Theologie und der Jurisprudenz einander gegenüber, in der Theologie nicht nur die durch confessionelle Unterschiede getrennten Schulen der katholischen und protestantischen Theologie, sondern in jener die Systeme des curialen und episkopalen kirchlichen Rechts und der Principienstreit über die Zuständigkeit des Wissens und der Speculation in Glaubenssachen, in dieser der zu seinem Ziele gediehene Nationalismus und die durch Umkehr zu der kirchlichen Lehre neugekräftigten und durch gelehrte Theologen vertretenen orthodoxen Lehren des positiven evangelischen Christenthums.</p><lb/>
        <p>Das Alles und was auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, besonders der Geologie, der Chemie, der Mineralogie und Botanik, dann in der Heilkunde als innerer Widerstreit der Principien hervortritt, ist, wir wiederholen es, Zeichen und Bedingung wie Frucht des Lebens &#x2013; eine Erscheinung, so umfassend, groß und bedeutsam, daß nicht zu verwundern, wenn in den engen Gesichtskreis dieses befangenen Auges kein einziger Strahl von ihr klar und ungetrübt eingedrungen ist, und er, statt eines edlen mit großer Kraft geführten und über die Gefilde der Intelligenz weitverbreiteten Wettkampfs mit Siegespalmen und Kränzen, nichts als ein mißgeschaffenes Getümmel von Pedanten und Wortklaubern wahrnimmt, das, außer einem Niederschlag von Maculatur, nichts zurückläßt.</p><lb/>
        <p>Es verhält sich nicht anders mit dem, was über unsere Litteratur im wahren Sinne, vorzüglich über Poesie, gesagt wird. Goethe hat in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens auf sie wenig Einfluß geübt. (?) Mit Schiller war auch seine Sonne untergegangen, und es ist thöricht, um sein Alter und die matte Wirksamkeit seiner letzten Jahre, wie Hr. Marmier thut, die letzten Strahlen des großen litterarischen Tages von Deutschland zu gießen, nach deren Erlöschen Nebel und Finsterniß über uns eingebrochen sey. Es ist überhaupt bedenklich, das geistige Daseyn und Leben einer Nation nicht an die Wirksamkeit, sondern an das Leben ihrer Notabilitäten zu knüpfen. Die Perioden großer Dichter und Künstler sind bei allen Völkern kurz, aber das von ihnen entzündete oder von ihnen ausgesprochene und verkündigte Leben der Nation besteht, so lange die Werke ihres Geistes die Nation erfüllen, beleben und erfreuen, und insofern darf man sagen, daß das Leben von Schiller und das Leben der Nation, sofern es durch ihn bedingt wird, jetzt in voller Blüthe stehe, wo die Energie der größten Buchhandlung auf deutschem Boden nicht hinreicht, durch nieruhende Vervielfältigung seiner Werke den Bedarf seiner Werke zu befriedigen, und die reiche Frucht seines edlen und tiefen Geistes bis in die Massen des Volks weckend und bildend hinabgedrungen ist. Ein Volk, das einen Genius, der sein inneres Leben empfunden und ausgesprochen hat, so in sich aufnimmt und ehrt, ist auch auf dem Gebiete der Poesie und des durch sie bedingten Gefühls und Bestrebens ein geistig lebendiges und frisches Volk. Es verhält sich allerdings anders mit Goethe. Er genießt mit vollem Recht eines großen und europäischen Ruhms, wird aber nie der Mann des Volks werden, dem er durch die abgeschlossene und stille Würde seines rein künstlerischen Wesens zu fern steht, während das sittliche und religiöse Gefühl der Nation sich von denjenigen Theilen seiner Werke abwendet, in denen unchristliches Wesen und jener feine Priapismus enthalten ist, der diesem poetischen Jupiter ebenso wie dem mythologischen die Adern schwellte und in vielfacher Weise durch die Erzeugnisse seiner starken Natur sich verbreitet hat. Uebrigens ist es nicht wahr, daß nach dem Abgang von Goethe der deutsche Parnaß in Dämmerung und Nebel gehüllt worden. Die eigentliche Stärke und Innigkeit der deutschen Poesie ist in ihrer Lyrik, von den Minnesängern herab durch die herrlichen geistlichen Lieder des 16ten und 17ten Jahrhunderts bis zu Klopstock, und von diesem bis zu den großen Sängern am Hofe der Herzogin Amalie und ihres trefflichen Sohnes, und diese Lyrik besteht noch fortdauernd in ungeschwächter Kraft. Zwar ist Platen ihr in der Blüthe seines Lebens und Ruhms entrissen worden: er stand auf gleicher Höhe mit den Besten der Nation; aber Friedrich Rückert entströmt fortdauernd in ungeschwächter Fülle der reinste und lauterste Quell ächt deutschen Gesanges, in demselben Lande, in welchem der König von dem Throne herab den Dichtern und Künstlern die Hand reicht. Die Meister der schwäbischen Schule leben noch unter uns, und es braucht kaum der Erinnerung, daß sich ihnen in den letzten Zeiten Sänger des reichbegabten österreichischen Stammes angeschlossen, welche den Vorgängern an Geist und Verdienst nicht nachstehen, während am Rhein ein ganz neues Geschlecht vielversprechender, jugendlich frischer Talente ersteht.</p><lb/>
        <p>Hr. Marmier haftet an den Verirrungen des jungen Deutschlands, dessen Benennung schon eine Thorheit ist, weil es einen imaginären Vorzug in Anspruch nimmt, der, wenn er auch bestände, mit jedem Tage geringer würde, und wir sind weit entfernt, seinem Tadel oder seiner Verurtheilung desselben entgegenzutreten; doch ist zu bemerken, daß er erst eintrifft, nachdem das öffentliche Urtheil unter uns dieses verkehrte Streben schon gerichtet hat, und daß er auch hier in sein altes Unrecht, in die Wurzel aller seiner Verkehrtheiten und Verzerrungen, zurückfällt, indem er jene Verirrung für etwas Anderes, als was sie ist, und für die neueste Gestalt der deutschen Litteratur selbst hält. Uebrigens ist man auch über sie zur Billigkeit des Urtheils zurückgekommen. Man hat diesem jungen und übermüthigen Geschlecht vergeben; man hat fast vergessen, was es Verkehrtes gethan oder gewollt, und was es Gutes geleistet, ist darum nicht weniger anerkannt. Heinrich Heine, um nur diesen zu nennen, gehört durch seine Lieder wie durch mehrere seiner Darstellungen in Prosa zu den begabtesten Dichtern unserer Epoche.</p><lb/>
        <p>In Summa, Hr. Marmier, der mit Wohlwollen und Bereitwilligkeit, uns in unserer Weise kennen zu lernen, nach Deutschland gekommen war, und dieses Wohlwollen auch dadurch bewährt, daß er die Bewunderer fremder Sitten und französischer Erzeugnisse unter uns großmüthig an das erinnert, was sie sich und ihrer Nation schuldig sind, hat durch Mangel an Kenntniß, durch Einseitigkeit der Mittheilung und Auffassung, durch einheimisches Vorurtheil, dessen kein Franzose auf deutschem Boden sich entschlagen kann, und endlich durch leeres Selbstvertrauen auf eine schwache Einsicht, das Hauptsächliche, was er über die öffentliche und wissenschaftliche Thätigkeit in Deutschland, über den Geist der Nation, über den Gehalt und die Richtung ihrer Sprache und Litteratur gesagt hat, in eine Carricatur verwandelt, in der bei uns Niemand sein Volk, wohl aber die Farben der verzogenen barocken Eitelkeit wahrnehmen wird, die er von sich selbst zum Besten gegeben hat. Hr. Marmier hat anderwärts wegen des Gutmeinens, was in seiner verzerrten Darstellung hie und da durchblickt, Anerkennung, und wegen mancher richtigen Bemerkung über die Schwächen unserer Litteratur und Kunst Lob gefunden. Er kann es als einen Beweis der unergründlichen Gutmüthigkeit<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1205/0013] für die Beurtheilung alter Schrifttexte und der fernsten Zeiten des Alterthums ein Licht ist angezündet worden, das in den letzten Zeiten selbst die dunkeln Zellen veralteten Wissens der französischen Universität und der in ihnen eingekerkerten Geister zu beleuchten und zu erwärmen angefangen hat. Die Schulen stehen nicht weniger streng geschieden und fest gegliedert auf dem Gebiete der Theologie und der Jurisprudenz einander gegenüber, in der Theologie nicht nur die durch confessionelle Unterschiede getrennten Schulen der katholischen und protestantischen Theologie, sondern in jener die Systeme des curialen und episkopalen kirchlichen Rechts und der Principienstreit über die Zuständigkeit des Wissens und der Speculation in Glaubenssachen, in dieser der zu seinem Ziele gediehene Nationalismus und die durch Umkehr zu der kirchlichen Lehre neugekräftigten und durch gelehrte Theologen vertretenen orthodoxen Lehren des positiven evangelischen Christenthums. Das Alles und was auf dem Gebiete der Naturwissenschaft, besonders der Geologie, der Chemie, der Mineralogie und Botanik, dann in der Heilkunde als innerer Widerstreit der Principien hervortritt, ist, wir wiederholen es, Zeichen und Bedingung wie Frucht des Lebens – eine Erscheinung, so umfassend, groß und bedeutsam, daß nicht zu verwundern, wenn in den engen Gesichtskreis dieses befangenen Auges kein einziger Strahl von ihr klar und ungetrübt eingedrungen ist, und er, statt eines edlen mit großer Kraft geführten und über die Gefilde der Intelligenz weitverbreiteten Wettkampfs mit Siegespalmen und Kränzen, nichts als ein mißgeschaffenes Getümmel von Pedanten und Wortklaubern wahrnimmt, das, außer einem Niederschlag von Maculatur, nichts zurückläßt. Es verhält sich nicht anders mit dem, was über unsere Litteratur im wahren Sinne, vorzüglich über Poesie, gesagt wird. Goethe hat in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens auf sie wenig Einfluß geübt. (?) Mit Schiller war auch seine Sonne untergegangen, und es ist thöricht, um sein Alter und die matte Wirksamkeit seiner letzten Jahre, wie Hr. Marmier thut, die letzten Strahlen des großen litterarischen Tages von Deutschland zu gießen, nach deren Erlöschen Nebel und Finsterniß über uns eingebrochen sey. Es ist überhaupt bedenklich, das geistige Daseyn und Leben einer Nation nicht an die Wirksamkeit, sondern an das Leben ihrer Notabilitäten zu knüpfen. Die Perioden großer Dichter und Künstler sind bei allen Völkern kurz, aber das von ihnen entzündete oder von ihnen ausgesprochene und verkündigte Leben der Nation besteht, so lange die Werke ihres Geistes die Nation erfüllen, beleben und erfreuen, und insofern darf man sagen, daß das Leben von Schiller und das Leben der Nation, sofern es durch ihn bedingt wird, jetzt in voller Blüthe stehe, wo die Energie der größten Buchhandlung auf deutschem Boden nicht hinreicht, durch nieruhende Vervielfältigung seiner Werke den Bedarf seiner Werke zu befriedigen, und die reiche Frucht seines edlen und tiefen Geistes bis in die Massen des Volks weckend und bildend hinabgedrungen ist. Ein Volk, das einen Genius, der sein inneres Leben empfunden und ausgesprochen hat, so in sich aufnimmt und ehrt, ist auch auf dem Gebiete der Poesie und des durch sie bedingten Gefühls und Bestrebens ein geistig lebendiges und frisches Volk. Es verhält sich allerdings anders mit Goethe. Er genießt mit vollem Recht eines großen und europäischen Ruhms, wird aber nie der Mann des Volks werden, dem er durch die abgeschlossene und stille Würde seines rein künstlerischen Wesens zu fern steht, während das sittliche und religiöse Gefühl der Nation sich von denjenigen Theilen seiner Werke abwendet, in denen unchristliches Wesen und jener feine Priapismus enthalten ist, der diesem poetischen Jupiter ebenso wie dem mythologischen die Adern schwellte und in vielfacher Weise durch die Erzeugnisse seiner starken Natur sich verbreitet hat. Uebrigens ist es nicht wahr, daß nach dem Abgang von Goethe der deutsche Parnaß in Dämmerung und Nebel gehüllt worden. Die eigentliche Stärke und Innigkeit der deutschen Poesie ist in ihrer Lyrik, von den Minnesängern herab durch die herrlichen geistlichen Lieder des 16ten und 17ten Jahrhunderts bis zu Klopstock, und von diesem bis zu den großen Sängern am Hofe der Herzogin Amalie und ihres trefflichen Sohnes, und diese Lyrik besteht noch fortdauernd in ungeschwächter Kraft. Zwar ist Platen ihr in der Blüthe seines Lebens und Ruhms entrissen worden: er stand auf gleicher Höhe mit den Besten der Nation; aber Friedrich Rückert entströmt fortdauernd in ungeschwächter Fülle der reinste und lauterste Quell ächt deutschen Gesanges, in demselben Lande, in welchem der König von dem Throne herab den Dichtern und Künstlern die Hand reicht. Die Meister der schwäbischen Schule leben noch unter uns, und es braucht kaum der Erinnerung, daß sich ihnen in den letzten Zeiten Sänger des reichbegabten österreichischen Stammes angeschlossen, welche den Vorgängern an Geist und Verdienst nicht nachstehen, während am Rhein ein ganz neues Geschlecht vielversprechender, jugendlich frischer Talente ersteht. Hr. Marmier haftet an den Verirrungen des jungen Deutschlands, dessen Benennung schon eine Thorheit ist, weil es einen imaginären Vorzug in Anspruch nimmt, der, wenn er auch bestände, mit jedem Tage geringer würde, und wir sind weit entfernt, seinem Tadel oder seiner Verurtheilung desselben entgegenzutreten; doch ist zu bemerken, daß er erst eintrifft, nachdem das öffentliche Urtheil unter uns dieses verkehrte Streben schon gerichtet hat, und daß er auch hier in sein altes Unrecht, in die Wurzel aller seiner Verkehrtheiten und Verzerrungen, zurückfällt, indem er jene Verirrung für etwas Anderes, als was sie ist, und für die neueste Gestalt der deutschen Litteratur selbst hält. Uebrigens ist man auch über sie zur Billigkeit des Urtheils zurückgekommen. Man hat diesem jungen und übermüthigen Geschlecht vergeben; man hat fast vergessen, was es Verkehrtes gethan oder gewollt, und was es Gutes geleistet, ist darum nicht weniger anerkannt. Heinrich Heine, um nur diesen zu nennen, gehört durch seine Lieder wie durch mehrere seiner Darstellungen in Prosa zu den begabtesten Dichtern unserer Epoche. In Summa, Hr. Marmier, der mit Wohlwollen und Bereitwilligkeit, uns in unserer Weise kennen zu lernen, nach Deutschland gekommen war, und dieses Wohlwollen auch dadurch bewährt, daß er die Bewunderer fremder Sitten und französischer Erzeugnisse unter uns großmüthig an das erinnert, was sie sich und ihrer Nation schuldig sind, hat durch Mangel an Kenntniß, durch Einseitigkeit der Mittheilung und Auffassung, durch einheimisches Vorurtheil, dessen kein Franzose auf deutschem Boden sich entschlagen kann, und endlich durch leeres Selbstvertrauen auf eine schwache Einsicht, das Hauptsächliche, was er über die öffentliche und wissenschaftliche Thätigkeit in Deutschland, über den Geist der Nation, über den Gehalt und die Richtung ihrer Sprache und Litteratur gesagt hat, in eine Carricatur verwandelt, in der bei uns Niemand sein Volk, wohl aber die Farben der verzogenen barocken Eitelkeit wahrnehmen wird, die er von sich selbst zum Besten gegeben hat. Hr. Marmier hat anderwärts wegen des Gutmeinens, was in seiner verzerrten Darstellung hie und da durchblickt, Anerkennung, und wegen mancher richtigen Bemerkung über die Schwächen unserer Litteratur und Kunst Lob gefunden. Er kann es als einen Beweis der unergründlichen Gutmüthigkeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (?): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_151_18400530
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_151_18400530/13
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 151. Augsburg, 30. Mai 1840, S. 1205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_151_18400530/13>, abgerufen am 22.11.2024.