Allgemeine Zeitung. Nr. 115. Augsburg, 24. April 1840.Holland im April 1840. Das Königreich der Niederlande, wie es jetzt noch steht, wird zu wenig verstanden. Während der Parvenu im europäischen Völkerrecht, das illegitime Kind, dessen fehlender Taufschein nur ungern zu London durch eine Notorietätsacte ersetzt wurde, während Belgien seine Operationen fast auf offener Straße ausgeführt hat, war Holland, das alte solide Haus, keineswegs bemüht, seine stillen Geschäfte zur allgemeinen Kunde zu bringen. Es liegt dieß zunächst im geschlossenen Nationalcharakter; dann in der holländischen Tagespresse, die kaum die Gränze überschreitet, und sich in der Regel auf Auszüge, Handelsnachrichten und kleine Anzeigen beschränkt. Das französische Journal de la Haye, obgleich jetzt nicht mehr von Franzosen geschrieben, obgleich halbofficiell, kann doch nicht für den Ausdruck irgend einer nationalen Gesinnung gelten. Aber auch die Stimmung der benachbarten deutschen Rheinlande kommt, wegen Verschiedenheit der Religion und Handelsinteressen, einer Vermittlung, einer richtigen Kunde des politischen Zustands von Holland nicht zu Statten. Dennoch werden die niederländischen Angelegenheiten täglich wichtiger für Deutschland. Nicht die natürlichen Bande der Verwandtschaft, nicht die gegenseitigen Bedürfnisse der Allianz und Vertheidigung, des Handels und Credits sollen hier zur Sprache kommen - der Verfassungskampf ist es, der jetzt die Aufmerksamkeit verdient. Vom südlichen und westlichen Europa aus hat der Kampf um repräsentative Staatsformen öfter, auch wenn er siegreich ausfiel, auf Deutschland ungünstig zurückgewirkt. In Holland aber handelt es sich jetzt nicht von abstracter Ideologie, sondern vom einfachen ehrlichen Haushalt, nicht von einem Eldorado der Wünsche, sondern von der harten Noth und Möglichkeit des Bestehens; hier ist endlich nichts zu sagen von einer Handvoll Factiosen, es erscheint vor den Schranken eine gewöhnlich leidenschaftslose, aber erfahrene Nation, deren überwiegende Mehrzahl den Charakter des ruhigen, begüterten, mittleren Bürgerstandes trägt; sie erscheint fast vollzählig, und glaubt durch die Erinnerung der letzten Jahre sich Anspruch auf Gehör erworben zu haben. Gerade jetzt, im zehnten Jahre nach der Entzweiung, gerade in diesen Tagen des verhängnißvoll begonnenen Jahres 1840 da eben der letzte Vergleichstermin und die Bedenkzeit für die Regierung zu Ende geht, mag es an der Zeit scheinen, durch einen Blick rückwärts den Stand der Gegenwart zu constatiren. Nach den Brüsseler Ereignissen von 1830 hat jeder Unparteiische Holland Gerechtigkeit widerfahren lassen. Solches Zusammenhalten aller Stände unter sich und mit dem Königshause, solche Aufopferung und so viel jugendliche Energie, hatten wenige von dem bequemen Volk erwartet. Beide Länder waren bald über die Scheidung einig; aber die Holländer nahmen den Abfall, die Beleidigung gegen das Königshaus, als eine Nationalbeleidigung auf, und das Benehmen der Belgier erleichterte dem König noch lange seine Anstrengungen, indem es die Holländer in jener Meinung bestärkte. Man nannte diese öfter damals die royalistischste unter allen Nationen. Ihre Mäßigung und Klugheit wurde auch von andern Seiten anerkannt; sie hatten volle Preßfreiheit, ohne Mißbrauch - repräsentative Stände, ohne Majoritätskrisen; man sah den Handel neu aufblühen, die Colonien bezahlten die Heere des Mutterlandes, und die Industrie nahm nach der Trennung erst recht ihren Aufschwung. "Einigkeit bis zum Frieden" war die Losung in allen Ständen, besonders in den Generalstaaten; hier war man von frühern Zeiten her noch gewohnt, trotz allen Fractionen holländischer Meinungen, mit dem König gegen Belgien zusammenzuhalten; die Zusammensetzung beider Kammern verewigte jene Gewohnheit; außerdem aber hatte der König, als Politiker und Financier ganz der Mann seines Volks, den höchsten persönlichen Credit. Eintracht macht Macht: im Felde, in den Unterhandlungen, an der Börse; sie beschleunigt den Frieden, also Einigkeit bis zum Frieden. Einige ganz gemäßigte Mitglieder der zweiten Kammer wollten sogleich eine Veränderung im Grundgesetz, um den Staat auf sein natürliches Maaß zurückzuführen; die Regierung wünschte aber diese Discussion bis zum Frieden zu verschieben, indem sie versprach, dann bestimmt darauf einzugehen - die Generalstaaten gaben es zu; dann werde Ersparniß, Revision, Herstellung von Alt-Niederland - dieses hoffte Jeder so wie er es verstand - gleichsam von selbst sich ergeben. Also nochmals, Einigkeit bis zum Frieden war und blieb diese neun Jahre hindurch der stillschweigende Staatsvertrag zwischen Regierung und Volk, freilich von beiden Theilen verschieden ausgelegt, verschieden betrieben. Damals lebte noch ein edler holländischer Staatsmann, Graf G. K. van Hoogendorp; er berieth in einer Reihe populärer Flugschriften die öffentliche Gesinnung seiner Nation, je nachdem die Ereignisse wechselten; obgleich selbst zurückgezogen von Geschäften, vermittelte er freundlich zwischen dem Hause Oranien und den Interessen des Volks; er ermahnte auch zu Eintracht und Kraft, aber, meinte er, "eine solche Kraft ist nirgends auf die Dauer zu finden, als in der Wiederfeststellung des Staats durch ein Grundgesetz, worin deutlich geschrieben steht: die Verantwortlichkeit der Minister, unmittelbare Wahlen, Oeffentlichkeit der Finanzen und Freiheit des Handels." Diese Constituirung des Staats wünschte er mit besonnener Raschheit damals sogleich vorzunehmen. "Die Nation ist jetzt erfüllt von edelm Enthusiasmus, die Herzen sind gestimmt zur Vaterlandsliebe, ein solches nationales Stück wie ein Grundgesetz kann jetzt mit allgemeiner Zustimmung aufgesetzt werden. Nach dem Frieden, in einer Zeit der Ruhe, wird mehr Spaltung der Meinungen seyn, dann werden wir wieder von politischen Parteien hören. Noch schlimmer wäre es, wenn man das Werk dann, nach so langem Aufschub, auf die lange Bank schöbe, oder anerkannten Beschwerden kein Gehör gäbe. Dann würde man sich einem endlichen Bruch aussetzen, wie er in Belgien stattgefunden, und wir müßten das Grundgesetz durch eine Revolution erkaufen, mit allen Leiden, die dazu gehören. Dieß liegt in der Art der Sache und würde unvermeidlich geschehen." Hoogendorp warnte endlich sehr vor allem Provisorischen, was seitdem der Charakter fast aller Maaßregeln der Regierung wie der Generalstaaten geworden ist - er hat den Frieden nicht mehr erlebt. Seit jener Zeit waren die Ereignisse, so mannichfaltig drohend sie überall in Europa waren, doch einer oranischen Restauration nicht günstig. Weder der gelungene und ruhmvolle Einfall der holländischen Armee in Belgien, noch die Schutthaufen der Citadelle von Antwerpen, weder die Ausdauer der Nation, noch die Theilnahme der verbundenen Mächte beschleunigten die Entscheidung. Zweimal jährlich hatte der Minister des Auswärtigen das Bedauern auszudrücken, "daß der politische Horizont noch immer umwölkt, die Zukunft verschleiert, daß die Unterhandlungen noch nicht zur gehörigen Reife gebracht seyen, während der Zustand der Geldmittel (worüber der Finanzminister Holland im April 1840. Das Königreich der Niederlande, wie es jetzt noch steht, wird zu wenig verstanden. Während der Parvenu im europäischen Völkerrecht, das illegitime Kind, dessen fehlender Taufschein nur ungern zu London durch eine Notorietätsacte ersetzt wurde, während Belgien seine Operationen fast auf offener Straße ausgeführt hat, war Holland, das alte solide Haus, keineswegs bemüht, seine stillen Geschäfte zur allgemeinen Kunde zu bringen. Es liegt dieß zunächst im geschlossenen Nationalcharakter; dann in der holländischen Tagespresse, die kaum die Gränze überschreitet, und sich in der Regel auf Auszüge, Handelsnachrichten und kleine Anzeigen beschränkt. Das französische Journal de la Haye, obgleich jetzt nicht mehr von Franzosen geschrieben, obgleich halbofficiell, kann doch nicht für den Ausdruck irgend einer nationalen Gesinnung gelten. Aber auch die Stimmung der benachbarten deutschen Rheinlande kommt, wegen Verschiedenheit der Religion und Handelsinteressen, einer Vermittlung, einer richtigen Kunde des politischen Zustands von Holland nicht zu Statten. Dennoch werden die niederländischen Angelegenheiten täglich wichtiger für Deutschland. Nicht die natürlichen Bande der Verwandtschaft, nicht die gegenseitigen Bedürfnisse der Allianz und Vertheidigung, des Handels und Credits sollen hier zur Sprache kommen – der Verfassungskampf ist es, der jetzt die Aufmerksamkeit verdient. Vom südlichen und westlichen Europa aus hat der Kampf um repräsentative Staatsformen öfter, auch wenn er siegreich ausfiel, auf Deutschland ungünstig zurückgewirkt. In Holland aber handelt es sich jetzt nicht von abstracter Ideologie, sondern vom einfachen ehrlichen Haushalt, nicht von einem Eldorado der Wünsche, sondern von der harten Noth und Möglichkeit des Bestehens; hier ist endlich nichts zu sagen von einer Handvoll Factiosen, es erscheint vor den Schranken eine gewöhnlich leidenschaftslose, aber erfahrene Nation, deren überwiegende Mehrzahl den Charakter des ruhigen, begüterten, mittleren Bürgerstandes trägt; sie erscheint fast vollzählig, und glaubt durch die Erinnerung der letzten Jahre sich Anspruch auf Gehör erworben zu haben. Gerade jetzt, im zehnten Jahre nach der Entzweiung, gerade in diesen Tagen des verhängnißvoll begonnenen Jahres 1840 da eben der letzte Vergleichstermin und die Bedenkzeit für die Regierung zu Ende geht, mag es an der Zeit scheinen, durch einen Blick rückwärts den Stand der Gegenwart zu constatiren. Nach den Brüsseler Ereignissen von 1830 hat jeder Unparteiische Holland Gerechtigkeit widerfahren lassen. Solches Zusammenhalten aller Stände unter sich und mit dem Königshause, solche Aufopferung und so viel jugendliche Energie, hatten wenige von dem bequemen Volk erwartet. Beide Länder waren bald über die Scheidung einig; aber die Holländer nahmen den Abfall, die Beleidigung gegen das Königshaus, als eine Nationalbeleidigung auf, und das Benehmen der Belgier erleichterte dem König noch lange seine Anstrengungen, indem es die Holländer in jener Meinung bestärkte. Man nannte diese öfter damals die royalistischste unter allen Nationen. Ihre Mäßigung und Klugheit wurde auch von andern Seiten anerkannt; sie hatten volle Preßfreiheit, ohne Mißbrauch – repräsentative Stände, ohne Majoritätskrisen; man sah den Handel neu aufblühen, die Colonien bezahlten die Heere des Mutterlandes, und die Industrie nahm nach der Trennung erst recht ihren Aufschwung. „Einigkeit bis zum Frieden“ war die Losung in allen Ständen, besonders in den Generalstaaten; hier war man von frühern Zeiten her noch gewohnt, trotz allen Fractionen holländischer Meinungen, mit dem König gegen Belgien zusammenzuhalten; die Zusammensetzung beider Kammern verewigte jene Gewohnheit; außerdem aber hatte der König, als Politiker und Financier ganz der Mann seines Volks, den höchsten persönlichen Credit. Eintracht macht Macht: im Felde, in den Unterhandlungen, an der Börse; sie beschleunigt den Frieden, also Einigkeit bis zum Frieden. Einige ganz gemäßigte Mitglieder der zweiten Kammer wollten sogleich eine Veränderung im Grundgesetz, um den Staat auf sein natürliches Maaß zurückzuführen; die Regierung wünschte aber diese Discussion bis zum Frieden zu verschieben, indem sie versprach, dann bestimmt darauf einzugehen – die Generalstaaten gaben es zu; dann werde Ersparniß, Revision, Herstellung von Alt-Niederland – dieses hoffte Jeder so wie er es verstand – gleichsam von selbst sich ergeben. Also nochmals, Einigkeit bis zum Frieden war und blieb diese neun Jahre hindurch der stillschweigende Staatsvertrag zwischen Regierung und Volk, freilich von beiden Theilen verschieden ausgelegt, verschieden betrieben. Damals lebte noch ein edler holländischer Staatsmann, Graf G. K. van Hoogendorp; er berieth in einer Reihe populärer Flugschriften die öffentliche Gesinnung seiner Nation, je nachdem die Ereignisse wechselten; obgleich selbst zurückgezogen von Geschäften, vermittelte er freundlich zwischen dem Hause Oranien und den Interessen des Volks; er ermahnte auch zu Eintracht und Kraft, aber, meinte er, „eine solche Kraft ist nirgends auf die Dauer zu finden, als in der Wiederfeststellung des Staats durch ein Grundgesetz, worin deutlich geschrieben steht: die Verantwortlichkeit der Minister, unmittelbare Wahlen, Oeffentlichkeit der Finanzen und Freiheit des Handels.“ Diese Constituirung des Staats wünschte er mit besonnener Raschheit damals sogleich vorzunehmen. „Die Nation ist jetzt erfüllt von edelm Enthusiasmus, die Herzen sind gestimmt zur Vaterlandsliebe, ein solches nationales Stück wie ein Grundgesetz kann jetzt mit allgemeiner Zustimmung aufgesetzt werden. Nach dem Frieden, in einer Zeit der Ruhe, wird mehr Spaltung der Meinungen seyn, dann werden wir wieder von politischen Parteien hören. Noch schlimmer wäre es, wenn man das Werk dann, nach so langem Aufschub, auf die lange Bank schöbe, oder anerkannten Beschwerden kein Gehör gäbe. Dann würde man sich einem endlichen Bruch aussetzen, wie er in Belgien stattgefunden, und wir müßten das Grundgesetz durch eine Revolution erkaufen, mit allen Leiden, die dazu gehören. Dieß liegt in der Art der Sache und würde unvermeidlich geschehen.“ Hoogendorp warnte endlich sehr vor allem Provisorischen, was seitdem der Charakter fast aller Maaßregeln der Regierung wie der Generalstaaten geworden ist – er hat den Frieden nicht mehr erlebt. Seit jener Zeit waren die Ereignisse, so mannichfaltig drohend sie überall in Europa waren, doch einer oranischen Restauration nicht günstig. Weder der gelungene und ruhmvolle Einfall der holländischen Armee in Belgien, noch die Schutthaufen der Citadelle von Antwerpen, weder die Ausdauer der Nation, noch die Theilnahme der verbundenen Mächte beschleunigten die Entscheidung. Zweimal jährlich hatte der Minister des Auswärtigen das Bedauern auszudrücken, „daß der politische Horizont noch immer umwölkt, die Zukunft verschleiert, daß die Unterhandlungen noch nicht zur gehörigen Reife gebracht seyen, während der Zustand der Geldmittel (worüber der Finanzminister <TEI> <text> <body> <div type="jArticle" n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0009" n="0913"/> </div> </div> <div type="jArticle" n="1"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Holland im April 1840</hi>.</hi> </head><lb/> <p>Das Königreich der Niederlande, wie es jetzt noch steht, wird zu wenig verstanden. 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Dennoch werden die niederländischen Angelegenheiten täglich wichtiger für Deutschland. Nicht die natürlichen Bande der Verwandtschaft, nicht die gegenseitigen Bedürfnisse der Allianz und Vertheidigung, des Handels und Credits sollen hier zur Sprache kommen – der Verfassungskampf ist es, der jetzt die Aufmerksamkeit verdient. Vom südlichen und westlichen Europa aus hat der Kampf um repräsentative Staatsformen öfter, auch wenn er siegreich ausfiel, auf Deutschland ungünstig zurückgewirkt. In Holland aber handelt es sich jetzt nicht von abstracter Ideologie, sondern vom einfachen ehrlichen Haushalt, nicht von einem Eldorado der Wünsche, sondern von der harten Noth und Möglichkeit des Bestehens; hier ist endlich nichts zu sagen von einer Handvoll Factiosen, es erscheint vor den Schranken eine gewöhnlich leidenschaftslose, aber erfahrene Nation, deren überwiegende Mehrzahl den Charakter des ruhigen, begüterten, mittleren Bürgerstandes trägt; sie erscheint fast vollzählig, und glaubt durch die Erinnerung der letzten Jahre sich Anspruch auf Gehör erworben zu haben.</p><lb/> <p>Gerade jetzt, im zehnten Jahre nach der Entzweiung, gerade in diesen Tagen des verhängnißvoll begonnenen Jahres 1840 da eben der letzte Vergleichstermin und die Bedenkzeit für die Regierung zu Ende geht, mag es an der Zeit scheinen, durch einen Blick rückwärts den Stand der Gegenwart zu constatiren.</p><lb/> <p>Nach den Brüsseler Ereignissen von 1830 hat jeder Unparteiische Holland Gerechtigkeit widerfahren lassen. Solches Zusammenhalten aller Stände unter sich und mit dem Königshause, solche Aufopferung und so viel jugendliche Energie, hatten wenige von dem bequemen Volk erwartet. Beide Länder waren bald über die Scheidung einig; aber die Holländer nahmen den Abfall, die Beleidigung gegen das Königshaus, als eine Nationalbeleidigung auf, und das Benehmen der Belgier erleichterte dem König noch lange seine Anstrengungen, indem es die Holländer in jener Meinung bestärkte. Man nannte diese öfter damals die royalistischste unter allen Nationen. Ihre Mäßigung und Klugheit wurde auch von andern Seiten anerkannt; sie hatten volle Preßfreiheit, ohne Mißbrauch – repräsentative Stände, ohne Majoritätskrisen; man sah den Handel neu aufblühen, die Colonien bezahlten die Heere des Mutterlandes, und die Industrie nahm nach der Trennung erst recht ihren Aufschwung. „Einigkeit bis zum Frieden“ war die Losung in allen Ständen, besonders in den Generalstaaten; hier war man von frühern Zeiten her noch gewohnt, trotz allen Fractionen holländischer Meinungen, mit dem König gegen Belgien zusammenzuhalten; die Zusammensetzung beider Kammern verewigte jene Gewohnheit; außerdem aber hatte der König, als Politiker und Financier ganz der Mann seines Volks, den höchsten persönlichen Credit. Eintracht macht Macht: im Felde, in den Unterhandlungen, an der Börse; sie beschleunigt den Frieden, also Einigkeit bis zum Frieden. Einige ganz gemäßigte Mitglieder der zweiten Kammer wollten sogleich eine Veränderung im Grundgesetz, um den Staat auf sein natürliches Maaß zurückzuführen; die Regierung wünschte aber diese Discussion bis zum Frieden zu verschieben, indem sie versprach, <hi rendition="#g">dann</hi> bestimmt darauf einzugehen – die Generalstaaten gaben es zu; <hi rendition="#g">dann</hi> werde Ersparniß, Revision, Herstellung von Alt-Niederland – dieses hoffte Jeder so wie er es verstand – gleichsam von selbst sich ergeben. Also nochmals, Einigkeit bis zum Frieden war und blieb diese neun Jahre hindurch der stillschweigende Staatsvertrag zwischen Regierung und Volk, freilich von beiden Theilen verschieden ausgelegt, verschieden betrieben.</p><lb/> <p>Damals lebte noch ein edler holländischer Staatsmann, Graf G. K. van Hoogendorp; er berieth in einer Reihe populärer Flugschriften die öffentliche Gesinnung seiner Nation, je nachdem die Ereignisse wechselten; obgleich selbst zurückgezogen von Geschäften, vermittelte er freundlich zwischen dem Hause Oranien und den Interessen des Volks; er ermahnte auch zu Eintracht und Kraft, aber, meinte er, „eine solche Kraft ist nirgends auf die Dauer zu finden, als in der Wiederfeststellung des Staats durch ein Grundgesetz, worin deutlich geschrieben steht: die Verantwortlichkeit der Minister, unmittelbare Wahlen, Oeffentlichkeit der Finanzen und Freiheit des Handels.“ Diese Constituirung des Staats wünschte er mit besonnener Raschheit damals sogleich vorzunehmen. „Die Nation ist jetzt erfüllt von edelm Enthusiasmus, die Herzen sind gestimmt zur Vaterlandsliebe, ein solches nationales Stück wie ein Grundgesetz kann jetzt mit allgemeiner Zustimmung aufgesetzt werden. Nach dem Frieden, in einer Zeit der Ruhe, wird mehr Spaltung der Meinungen seyn, dann werden wir wieder von politischen Parteien hören. Noch schlimmer wäre es, wenn man das Werk dann, nach so langem Aufschub, auf die lange Bank schöbe, oder anerkannten Beschwerden kein Gehör gäbe. Dann würde man sich einem endlichen Bruch aussetzen, wie er in Belgien stattgefunden, und wir müßten das Grundgesetz durch eine Revolution erkaufen, mit allen Leiden, die dazu gehören. Dieß liegt in der Art der Sache und würde unvermeidlich geschehen.“ Hoogendorp warnte endlich sehr vor allem Provisorischen, was seitdem der Charakter fast aller Maaßregeln der Regierung wie der Generalstaaten geworden ist – er hat den Frieden nicht mehr erlebt.</p><lb/> <p>Seit jener Zeit waren die Ereignisse, so mannichfaltig drohend sie überall in Europa waren, doch einer oranischen Restauration nicht günstig. 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Holland im April 1840.
Das Königreich der Niederlande, wie es jetzt noch steht, wird zu wenig verstanden. Während der Parvenu im europäischen Völkerrecht, das illegitime Kind, dessen fehlender Taufschein nur ungern zu London durch eine Notorietätsacte ersetzt wurde, während Belgien seine Operationen fast auf offener Straße ausgeführt hat, war Holland, das alte solide Haus, keineswegs bemüht, seine stillen Geschäfte zur allgemeinen Kunde zu bringen. Es liegt dieß zunächst im geschlossenen Nationalcharakter; dann in der holländischen Tagespresse, die kaum die Gränze überschreitet, und sich in der Regel auf Auszüge, Handelsnachrichten und kleine Anzeigen beschränkt. Das französische Journal de la Haye, obgleich jetzt nicht mehr von Franzosen geschrieben, obgleich halbofficiell, kann doch nicht für den Ausdruck irgend einer nationalen Gesinnung gelten. Aber auch die Stimmung der benachbarten deutschen Rheinlande kommt, wegen Verschiedenheit der Religion und Handelsinteressen, einer Vermittlung, einer richtigen Kunde des politischen Zustands von Holland nicht zu Statten. Dennoch werden die niederländischen Angelegenheiten täglich wichtiger für Deutschland. Nicht die natürlichen Bande der Verwandtschaft, nicht die gegenseitigen Bedürfnisse der Allianz und Vertheidigung, des Handels und Credits sollen hier zur Sprache kommen – der Verfassungskampf ist es, der jetzt die Aufmerksamkeit verdient. Vom südlichen und westlichen Europa aus hat der Kampf um repräsentative Staatsformen öfter, auch wenn er siegreich ausfiel, auf Deutschland ungünstig zurückgewirkt. In Holland aber handelt es sich jetzt nicht von abstracter Ideologie, sondern vom einfachen ehrlichen Haushalt, nicht von einem Eldorado der Wünsche, sondern von der harten Noth und Möglichkeit des Bestehens; hier ist endlich nichts zu sagen von einer Handvoll Factiosen, es erscheint vor den Schranken eine gewöhnlich leidenschaftslose, aber erfahrene Nation, deren überwiegende Mehrzahl den Charakter des ruhigen, begüterten, mittleren Bürgerstandes trägt; sie erscheint fast vollzählig, und glaubt durch die Erinnerung der letzten Jahre sich Anspruch auf Gehör erworben zu haben.
Gerade jetzt, im zehnten Jahre nach der Entzweiung, gerade in diesen Tagen des verhängnißvoll begonnenen Jahres 1840 da eben der letzte Vergleichstermin und die Bedenkzeit für die Regierung zu Ende geht, mag es an der Zeit scheinen, durch einen Blick rückwärts den Stand der Gegenwart zu constatiren.
Nach den Brüsseler Ereignissen von 1830 hat jeder Unparteiische Holland Gerechtigkeit widerfahren lassen. Solches Zusammenhalten aller Stände unter sich und mit dem Königshause, solche Aufopferung und so viel jugendliche Energie, hatten wenige von dem bequemen Volk erwartet. Beide Länder waren bald über die Scheidung einig; aber die Holländer nahmen den Abfall, die Beleidigung gegen das Königshaus, als eine Nationalbeleidigung auf, und das Benehmen der Belgier erleichterte dem König noch lange seine Anstrengungen, indem es die Holländer in jener Meinung bestärkte. Man nannte diese öfter damals die royalistischste unter allen Nationen. Ihre Mäßigung und Klugheit wurde auch von andern Seiten anerkannt; sie hatten volle Preßfreiheit, ohne Mißbrauch – repräsentative Stände, ohne Majoritätskrisen; man sah den Handel neu aufblühen, die Colonien bezahlten die Heere des Mutterlandes, und die Industrie nahm nach der Trennung erst recht ihren Aufschwung. „Einigkeit bis zum Frieden“ war die Losung in allen Ständen, besonders in den Generalstaaten; hier war man von frühern Zeiten her noch gewohnt, trotz allen Fractionen holländischer Meinungen, mit dem König gegen Belgien zusammenzuhalten; die Zusammensetzung beider Kammern verewigte jene Gewohnheit; außerdem aber hatte der König, als Politiker und Financier ganz der Mann seines Volks, den höchsten persönlichen Credit. Eintracht macht Macht: im Felde, in den Unterhandlungen, an der Börse; sie beschleunigt den Frieden, also Einigkeit bis zum Frieden. Einige ganz gemäßigte Mitglieder der zweiten Kammer wollten sogleich eine Veränderung im Grundgesetz, um den Staat auf sein natürliches Maaß zurückzuführen; die Regierung wünschte aber diese Discussion bis zum Frieden zu verschieben, indem sie versprach, dann bestimmt darauf einzugehen – die Generalstaaten gaben es zu; dann werde Ersparniß, Revision, Herstellung von Alt-Niederland – dieses hoffte Jeder so wie er es verstand – gleichsam von selbst sich ergeben. Also nochmals, Einigkeit bis zum Frieden war und blieb diese neun Jahre hindurch der stillschweigende Staatsvertrag zwischen Regierung und Volk, freilich von beiden Theilen verschieden ausgelegt, verschieden betrieben.
Damals lebte noch ein edler holländischer Staatsmann, Graf G. K. van Hoogendorp; er berieth in einer Reihe populärer Flugschriften die öffentliche Gesinnung seiner Nation, je nachdem die Ereignisse wechselten; obgleich selbst zurückgezogen von Geschäften, vermittelte er freundlich zwischen dem Hause Oranien und den Interessen des Volks; er ermahnte auch zu Eintracht und Kraft, aber, meinte er, „eine solche Kraft ist nirgends auf die Dauer zu finden, als in der Wiederfeststellung des Staats durch ein Grundgesetz, worin deutlich geschrieben steht: die Verantwortlichkeit der Minister, unmittelbare Wahlen, Oeffentlichkeit der Finanzen und Freiheit des Handels.“ Diese Constituirung des Staats wünschte er mit besonnener Raschheit damals sogleich vorzunehmen. „Die Nation ist jetzt erfüllt von edelm Enthusiasmus, die Herzen sind gestimmt zur Vaterlandsliebe, ein solches nationales Stück wie ein Grundgesetz kann jetzt mit allgemeiner Zustimmung aufgesetzt werden. Nach dem Frieden, in einer Zeit der Ruhe, wird mehr Spaltung der Meinungen seyn, dann werden wir wieder von politischen Parteien hören. Noch schlimmer wäre es, wenn man das Werk dann, nach so langem Aufschub, auf die lange Bank schöbe, oder anerkannten Beschwerden kein Gehör gäbe. Dann würde man sich einem endlichen Bruch aussetzen, wie er in Belgien stattgefunden, und wir müßten das Grundgesetz durch eine Revolution erkaufen, mit allen Leiden, die dazu gehören. Dieß liegt in der Art der Sache und würde unvermeidlich geschehen.“ Hoogendorp warnte endlich sehr vor allem Provisorischen, was seitdem der Charakter fast aller Maaßregeln der Regierung wie der Generalstaaten geworden ist – er hat den Frieden nicht mehr erlebt.
Seit jener Zeit waren die Ereignisse, so mannichfaltig drohend sie überall in Europa waren, doch einer oranischen Restauration nicht günstig. Weder der gelungene und ruhmvolle Einfall der holländischen Armee in Belgien, noch die Schutthaufen der Citadelle von Antwerpen, weder die Ausdauer der Nation, noch die Theilnahme der verbundenen Mächte beschleunigten die Entscheidung. Zweimal jährlich hatte der Minister des Auswärtigen das Bedauern auszudrücken, „daß der politische Horizont noch immer umwölkt, die Zukunft verschleiert, daß die Unterhandlungen noch nicht zur gehörigen Reife gebracht seyen, während der Zustand der Geldmittel (worüber der Finanzminister
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