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Allgemeine Zeitung. Nr. 102. Augsburg, 11. April 1840.

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Patriarchalpalast versammelt, um zur Wahl seines Nachfolgers zu schreiten. Die Stimme der Nation berief den Erzbischof von Nikomedien, Mfgr. Anthymos, zu dieser Würde, dessen Ernennung unverzüglich von dem Synod der kaiserlichen Bestätigung unterzogen wurde. Nachdem Se. Hoheit sie zu sanctioniren geruht hatte, wurde der neue Patriarch eingeladen, sich zum Großwessier zu verfügen, welcher ihm die Insignien seiner Würde überreichte."

Aegypten.

Lord Palmerston scheint sich in Folge der zwischen den Cabinetten von England und Frankreich herrschenden Mißverständnisse Oesterreich zuzuneigen, dessen Botschafter in London und Konstantinopel versöhnende Ansichten aussprachen, welche der Lage der Dinge angemessener sind. Es ist zu wünschen, daß die Sache sich so verhält. Oesterreich, welches bei der orientalischen Frage weniger directe Interessen hat (?), vermag dieselbe mit all' der nothwendigen Ruhe zu lösen, und die hohe Weisheit des Nestors der Diplomaten ist eine sichere Garantie, daß die Interessen Aller, wie auch die Empfindlichkeit Einzelner, welche bei dieser Frage eine so große Rolle spielt, geschont werden. Viele hochgestellte Personen haben ihre Ansichten auf Berichte gestützt, welche häufig unrichtig waren. Sie hatten Vertrauen in jene, welche in der Stellung waren, gute Auskünfte zu erhalten, ohne jedoch deren Nachlässigkeit oder Böswilligkeit in Anschlag zu bringen. Unter diesen Berichterstattern gab es einige, die Mehemed Ali als einen gewöhnlichen Pascha der Pforte schilderten, der nur glücklicher gewesen wegen seiner Entfernung. Sie glaubten, oder stellten sich als glaubten sie, daß nach Mehemed Ali Alles wieder in den alten Zustand zurückfallen werde, daß die ihm unterworfenen Völker gegen ihn erbittert seyen, daß die Soldaten beim ersten Signal sich empören, daß Mehemed Ali endlich bei der ersten ernstlichen Drohung eines Angriffs sein Haupt beugen würde. Wenn diese Berichterstatter es auch aufrichtig meinten, so haben sie wenigstens eine große Unkenntniß der Dinge bewiesen. Mehemed Ali, der inmitten schwieriger Umstände aller Art, geheimer Intriguen und offener Kriege ergraut ist, hat einen festen und scharfsichtigen Charakter. Was man bei ihm befürchten konnte, war die Trunkenheit des Sieges, nachdem die Schlacht bei Nisib gewonnen, die osmanische Flotte in seine Hände gefallen und Sultan Mahmud gestorben war. Aber sein gemäßigtes und edles Benehmen in jenem Augenblick muß jene enttäuscht haben, welche in seine Gesinnungen und seine offenherzige Politik Zweifel setzten. Die, welche dem Gang der Ereignisse folgen, müssen auch dadurch überzeugt worden seyn, daß Mehemed Ali kein gewöhnlicher Mensch ist, und daß es auch in der Türkei Männer geben kann, welche mit Ueberlegung, Talent, Genie eine tiefe Kenntniß der Menschen und Dinge vereinigen; man darf nämlich offen gestehen, daß in unserm gelehrten und civilisirten Europa die Mehrheit der Leser einen Türken bisher kaum anders, denn als einen wilden, blutdürstigen Barbaren betrachtet hat. Diese Idee wurde nach dem Kriege in Griechenland und nach Erscheinung von Schriften der Philhellenen nur noch eingewurzelter; indessen hätte man dabei nur an die Gräuel denken dürfen, die in Europa bei den Bürgerkriegen und Revolutionen in Frankreich und Spanien vorkamen, bei denen doch nicht, wie beim ägyptisch-griechischen Kampfe, Religionshaß sich einmischte. Die ägyptischen Truppen sind, was man auch sagen mag, Mehemed Ali ergeben, und die Fellahs bewundern ihren Vicekönig, welcher ohne die mindeste Besorgniß nur mit sieben oder acht Personen seines Hauses die Provinzen bereist. Wäre er gehaßt, würde er wohl noch am Leben seyn? Ist er von Schwadronen bewacht, durchreitet er seine Städte im Galopp? Nein, Jedermann sieht ihn vielmehr täglich in den Straßen von Alexandria und dessen Umgebungen zu Pferd, im Schritt, fast allein. Allein schifft er auch durch den Hafen und geht an Bord der osmanischen Schiffe. Sein Audienzsaal ist für Jedermann offen, nur drei Schildwachen stehen an der Thüre. Wenn dieß die Lage eines von seinem Volk gehaßten, verabscheuten Herrschers ist, was soll man dann von den Garden und Wachen, welche die Souveräne in andern Ländern umgeben, denken? Die Wahrheit ist also, daß Mehemed Ali von seinen Unterthanen geliebt ist, daß er auf sie zählen kann. Die von der ägyptischen Regierung ergriffenen Vertheidigungsmaaßregeln sind noch bedeutender und umfassender, als wir anfangs gedacht. Ein vollständiges Artillerieregiment steht seit einigen Tagen mit seinen Feldbatterien bei Alexandria, weiterer Befehle gewärtig. Diesen Morgen manövrirten 1600 Officiere und Unterofficiere der Nationalgarde vor dem Palast des Vicekönigs. Fremde Officiere, welche dem Exercitium zusahen, bezeugten ihr Staunen über die Gewandtheit, mit welcher dieses Corps die Waffen zu führen versteht, welche es erst seit wenigen Tagen erhalten. Bald werden auch die gemeinen Nationalgardisten eingeübt werden. In Kairo beschäftigt man sich mit der Bildung von drei Regimentern Nationalgarde. Alle Beduinenstämme am Rande der Wüste auf der Seite Aegyptens und Syriens haben den Vicekönig versichert, daß sie beim ersten Aufruf sich in Masse zum Kampf einfinden würden. Vor der Schlacht bei Nisib belief sich die Zahl der unter den Befehlen des Vicekönigs stehenden Truppen auf 180,000 Mann, worunter 135,000 Mann reguläre Truppen aller Waffengattungen, mit Inbegriff der Marine. Trotz der Lücken, die seitdem eingerissen seyn mögen, kann man ohne Uebertreibung die Zahl der Mannschaft, welche in einem Monat unter den Waffen stehen wird, auf 250,000 Mann schätzen.

Man hat hier die Nachricht erhalten, daß Kurschid Pascha Nedschid verlassen hat, um nach Aegypten zu kommen, und daß Achmet Pascha Yemen verlassen wird, um nach dem Assir zu ziehen. Kurschid führt einen Theil der regulären Truppen (13 Regimenter) mit sich, denn der Krieg im Assir ist ein Guerrillakrieg, worin die irregulären Truppen ganz gute Dienste thun; nur die wichtigsten Stellungen sollen dort von den regulären Truppen besetzt werden.

Wir hatten Gelegenheit, mit Officieren der osmanischen Escadre zu sprechen. Sie erklärten, daß ihr Wunsch keineswegs sey, mit der osmanischen Flotte nach Konstantinopel zurückzukehren. "Denn, sagten sie, man würde uns anfangs zwar recht gut empfangen, dann aber würde man den einen nach Erzerum, den andern nach Brussa, Trapezunt, Adrianopel, Salonichi etc. in Mission schicken. Man würde uns auf diese Weise zerstreuen, und in einem Monat wäre keiner mehr am Leben." So ist noch heutiges Tages die Politik des Divans, und wenn Chosrew Pascha unter der Regierung des neuen Sultans keine öffentlichen Hinrichtungen anbefohlen, so geschah dieß nur, weil Mehemed Ali solche Thaten seiner Nation und der Welt verkündet haben würde; Chosrew Pascha ist dadurch gezwungen den Heuchler zu spielen.

Es gibt also in Aegypten und in Syrien eine materielle Macht - eine Macht, die bereit ist zu handeln, und die man wohl in Anschlag bringen muß. Ein großer Mann, der Beweise seiner Mäßigung gegeben, der nach dem Siege nicht mehr verlangt, als zuvor - ein Mann, den man schaffen müßte, wenn er nicht bereits existirte, um dem osmanischen Reich jene wirkliche Kraft zu geben, welche das Gleichgewicht Europa's gebieterisch erheischt, ein solcher Mann wartet noch, daß man seine erworbenen Rechte anerkenne oder einer Einmischung entsage, welche jenen, zu deren Gunsten man interveniren will, nur Verderben bringt.

Patriarchalpalast versammelt, um zur Wahl seines Nachfolgers zu schreiten. Die Stimme der Nation berief den Erzbischof von Nikomedien, Mfgr. Anthymos, zu dieser Würde, dessen Ernennung unverzüglich von dem Synod der kaiserlichen Bestätigung unterzogen wurde. Nachdem Se. Hoheit sie zu sanctioniren geruht hatte, wurde der neue Patriarch eingeladen, sich zum Großwessier zu verfügen, welcher ihm die Insignien seiner Würde überreichte.“

Aegypten.

Lord Palmerston scheint sich in Folge der zwischen den Cabinetten von England und Frankreich herrschenden Mißverständnisse Oesterreich zuzuneigen, dessen Botschafter in London und Konstantinopel versöhnende Ansichten aussprachen, welche der Lage der Dinge angemessener sind. Es ist zu wünschen, daß die Sache sich so verhält. Oesterreich, welches bei der orientalischen Frage weniger directe Interessen hat (?), vermag dieselbe mit all' der nothwendigen Ruhe zu lösen, und die hohe Weisheit des Nestors der Diplomaten ist eine sichere Garantie, daß die Interessen Aller, wie auch die Empfindlichkeit Einzelner, welche bei dieser Frage eine so große Rolle spielt, geschont werden. Viele hochgestellte Personen haben ihre Ansichten auf Berichte gestützt, welche häufig unrichtig waren. Sie hatten Vertrauen in jene, welche in der Stellung waren, gute Auskünfte zu erhalten, ohne jedoch deren Nachlässigkeit oder Böswilligkeit in Anschlag zu bringen. Unter diesen Berichterstattern gab es einige, die Mehemed Ali als einen gewöhnlichen Pascha der Pforte schilderten, der nur glücklicher gewesen wegen seiner Entfernung. Sie glaubten, oder stellten sich als glaubten sie, daß nach Mehemed Ali Alles wieder in den alten Zustand zurückfallen werde, daß die ihm unterworfenen Völker gegen ihn erbittert seyen, daß die Soldaten beim ersten Signal sich empören, daß Mehemed Ali endlich bei der ersten ernstlichen Drohung eines Angriffs sein Haupt beugen würde. Wenn diese Berichterstatter es auch aufrichtig meinten, so haben sie wenigstens eine große Unkenntniß der Dinge bewiesen. Mehemed Ali, der inmitten schwieriger Umstände aller Art, geheimer Intriguen und offener Kriege ergraut ist, hat einen festen und scharfsichtigen Charakter. Was man bei ihm befürchten konnte, war die Trunkenheit des Sieges, nachdem die Schlacht bei Nisib gewonnen, die osmanische Flotte in seine Hände gefallen und Sultan Mahmud gestorben war. Aber sein gemäßigtes und edles Benehmen in jenem Augenblick muß jene enttäuscht haben, welche in seine Gesinnungen und seine offenherzige Politik Zweifel setzten. Die, welche dem Gang der Ereignisse folgen, müssen auch dadurch überzeugt worden seyn, daß Mehemed Ali kein gewöhnlicher Mensch ist, und daß es auch in der Türkei Männer geben kann, welche mit Ueberlegung, Talent, Genie eine tiefe Kenntniß der Menschen und Dinge vereinigen; man darf nämlich offen gestehen, daß in unserm gelehrten und civilisirten Europa die Mehrheit der Leser einen Türken bisher kaum anders, denn als einen wilden, blutdürstigen Barbaren betrachtet hat. Diese Idee wurde nach dem Kriege in Griechenland und nach Erscheinung von Schriften der Philhellenen nur noch eingewurzelter; indessen hätte man dabei nur an die Gräuel denken dürfen, die in Europa bei den Bürgerkriegen und Revolutionen in Frankreich und Spanien vorkamen, bei denen doch nicht, wie beim ägyptisch-griechischen Kampfe, Religionshaß sich einmischte. Die ägyptischen Truppen sind, was man auch sagen mag, Mehemed Ali ergeben, und die Fellahs bewundern ihren Vicekönig, welcher ohne die mindeste Besorgniß nur mit sieben oder acht Personen seines Hauses die Provinzen bereist. Wäre er gehaßt, würde er wohl noch am Leben seyn? Ist er von Schwadronen bewacht, durchreitet er seine Städte im Galopp? Nein, Jedermann sieht ihn vielmehr täglich in den Straßen von Alexandria und dessen Umgebungen zu Pferd, im Schritt, fast allein. Allein schifft er auch durch den Hafen und geht an Bord der osmanischen Schiffe. Sein Audienzsaal ist für Jedermann offen, nur drei Schildwachen stehen an der Thüre. Wenn dieß die Lage eines von seinem Volk gehaßten, verabscheuten Herrschers ist, was soll man dann von den Garden und Wachen, welche die Souveräne in andern Ländern umgeben, denken? Die Wahrheit ist also, daß Mehemed Ali von seinen Unterthanen geliebt ist, daß er auf sie zählen kann. Die von der ägyptischen Regierung ergriffenen Vertheidigungsmaaßregeln sind noch bedeutender und umfassender, als wir anfangs gedacht. Ein vollständiges Artillerieregiment steht seit einigen Tagen mit seinen Feldbatterien bei Alexandria, weiterer Befehle gewärtig. Diesen Morgen manövrirten 1600 Officiere und Unterofficiere der Nationalgarde vor dem Palast des Vicekönigs. Fremde Officiere, welche dem Exercitium zusahen, bezeugten ihr Staunen über die Gewandtheit, mit welcher dieses Corps die Waffen zu führen versteht, welche es erst seit wenigen Tagen erhalten. Bald werden auch die gemeinen Nationalgardisten eingeübt werden. In Kairo beschäftigt man sich mit der Bildung von drei Regimentern Nationalgarde. Alle Beduinenstämme am Rande der Wüste auf der Seite Aegyptens und Syriens haben den Vicekönig versichert, daß sie beim ersten Aufruf sich in Masse zum Kampf einfinden würden. Vor der Schlacht bei Nisib belief sich die Zahl der unter den Befehlen des Vicekönigs stehenden Truppen auf 180,000 Mann, worunter 135,000 Mann reguläre Truppen aller Waffengattungen, mit Inbegriff der Marine. Trotz der Lücken, die seitdem eingerissen seyn mögen, kann man ohne Uebertreibung die Zahl der Mannschaft, welche in einem Monat unter den Waffen stehen wird, auf 250,000 Mann schätzen.

Man hat hier die Nachricht erhalten, daß Kurschid Pascha Nedschid verlassen hat, um nach Aegypten zu kommen, und daß Achmet Pascha Yemen verlassen wird, um nach dem Assir zu ziehen. Kurschid führt einen Theil der regulären Truppen (13 Regimenter) mit sich, denn der Krieg im Assir ist ein Guerrillakrieg, worin die irregulären Truppen ganz gute Dienste thun; nur die wichtigsten Stellungen sollen dort von den regulären Truppen besetzt werden.

Wir hatten Gelegenheit, mit Officieren der osmanischen Escadre zu sprechen. Sie erklärten, daß ihr Wunsch keineswegs sey, mit der osmanischen Flotte nach Konstantinopel zurückzukehren. „Denn, sagten sie, man würde uns anfangs zwar recht gut empfangen, dann aber würde man den einen nach Erzerum, den andern nach Brussa, Trapezunt, Adrianopel, Salonichi etc. in Mission schicken. Man würde uns auf diese Weise zerstreuen, und in einem Monat wäre keiner mehr am Leben.“ So ist noch heutiges Tages die Politik des Divans, und wenn Chosrew Pascha unter der Regierung des neuen Sultans keine öffentlichen Hinrichtungen anbefohlen, so geschah dieß nur, weil Mehemed Ali solche Thaten seiner Nation und der Welt verkündet haben würde; Chosrew Pascha ist dadurch gezwungen den Heuchler zu spielen.

Es gibt also in Aegypten und in Syrien eine materielle Macht – eine Macht, die bereit ist zu handeln, und die man wohl in Anschlag bringen muß. Ein großer Mann, der Beweise seiner Mäßigung gegeben, der nach dem Siege nicht mehr verlangt, als zuvor – ein Mann, den man schaffen müßte, wenn er nicht bereits existirte, um dem osmanischen Reich jene wirkliche Kraft zu geben, welche das Gleichgewicht Europa's gebieterisch erheischt, ein solcher Mann wartet noch, daß man seine erworbenen Rechte anerkenne oder einer Einmischung entsage, welche jenen, zu deren Gunsten man interveniren will, nur Verderben bringt.

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Patriarchalpalast versammelt, um zur Wahl seines Nachfolgers zu schreiten. Die Stimme der Nation berief den Erzbischof von Nikomedien, Mfgr. Anthymos, zu dieser Würde, dessen Ernennung unverzüglich von dem Synod der kaiserlichen Bestätigung unterzogen wurde. Nachdem Se. Hoheit sie zu sanctioniren geruht hatte, wurde der neue Patriarch eingeladen, sich zum Großwessier zu verfügen, welcher ihm die Insignien seiner Würde überreichte.&#x201C;</p><lb/>
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Unter diesen Berichterstattern gab es einige, die Mehemed Ali als einen gewöhnlichen Pascha der Pforte schilderten, der nur glücklicher gewesen wegen seiner Entfernung. Sie glaubten, oder stellten sich als glaubten sie, daß nach Mehemed Ali Alles wieder in den alten Zustand zurückfallen werde, daß die ihm unterworfenen Völker gegen ihn erbittert seyen, daß die Soldaten beim ersten Signal sich empören, daß Mehemed Ali endlich bei der ersten ernstlichen Drohung eines Angriffs sein Haupt beugen würde. Wenn diese Berichterstatter es auch aufrichtig meinten, so haben sie wenigstens eine große Unkenntniß der Dinge bewiesen. Mehemed Ali, der inmitten schwieriger Umstände aller Art, geheimer Intriguen und offener Kriege ergraut ist, hat einen festen und scharfsichtigen Charakter. Was man bei ihm befürchten konnte, war die Trunkenheit des Sieges, nachdem die Schlacht bei Nisib gewonnen, die osmanische Flotte in seine Hände gefallen und Sultan Mahmud gestorben war. Aber sein gemäßigtes und edles Benehmen in jenem Augenblick muß jene enttäuscht haben, welche in seine Gesinnungen und seine offenherzige Politik Zweifel setzten. Die, welche dem Gang der Ereignisse folgen, müssen auch dadurch überzeugt worden seyn, daß Mehemed Ali kein gewöhnlicher Mensch ist, und daß es auch in der Türkei Männer geben kann, welche mit Ueberlegung, Talent, Genie eine tiefe Kenntniß der Menschen und Dinge vereinigen; man darf nämlich offen gestehen, daß in unserm gelehrten und civilisirten Europa die Mehrheit der Leser einen Türken bisher kaum anders, denn als einen wilden, blutdürstigen Barbaren betrachtet hat. Diese Idee wurde nach dem Kriege in Griechenland und nach Erscheinung von Schriften der Philhellenen nur noch eingewurzelter; indessen hätte man dabei nur an die Gräuel denken dürfen, die in Europa bei den Bürgerkriegen und Revolutionen in Frankreich und Spanien vorkamen, bei denen doch nicht, wie beim ägyptisch-griechischen Kampfe, Religionshaß sich einmischte. Die ägyptischen Truppen sind, was man auch sagen mag, Mehemed Ali ergeben, und die Fellahs bewundern ihren Vicekönig, welcher ohne die mindeste Besorgniß nur mit sieben oder acht Personen seines Hauses die Provinzen bereist. Wäre er gehaßt, würde er wohl noch am Leben seyn? Ist er von Schwadronen bewacht, durchreitet er seine Städte im Galopp? Nein, Jedermann sieht ihn vielmehr täglich in den Straßen von Alexandria und dessen Umgebungen zu Pferd, im Schritt, fast allein. Allein schifft er auch durch den Hafen und geht an Bord der osmanischen Schiffe. Sein Audienzsaal ist für Jedermann offen, nur drei Schildwachen stehen an der Thüre. Wenn dieß die Lage eines von seinem Volk gehaßten, verabscheuten Herrschers ist, was soll man dann von den Garden und Wachen, welche die Souveräne in andern Ländern umgeben, denken? Die Wahrheit ist also, daß Mehemed Ali von seinen Unterthanen geliebt ist, daß er auf sie zählen kann. Die von der ägyptischen Regierung ergriffenen Vertheidigungsmaaßregeln sind noch bedeutender und umfassender, als wir anfangs gedacht. Ein vollständiges Artillerieregiment steht seit einigen Tagen mit seinen Feldbatterien bei Alexandria, weiterer Befehle gewärtig. Diesen Morgen manövrirten 1600 Officiere und Unterofficiere der Nationalgarde vor dem Palast des Vicekönigs. Fremde Officiere, welche dem Exercitium zusahen, bezeugten ihr Staunen über die Gewandtheit, mit welcher dieses Corps die Waffen zu führen versteht, welche es erst seit wenigen Tagen erhalten. Bald werden auch die gemeinen Nationalgardisten eingeübt werden. In Kairo beschäftigt man sich mit der Bildung von drei Regimentern Nationalgarde. Alle Beduinenstämme am Rande der Wüste auf der Seite Aegyptens und Syriens haben den Vicekönig versichert, daß sie beim ersten Aufruf sich in Masse zum Kampf einfinden würden. Vor der Schlacht bei Nisib belief sich die Zahl der unter den Befehlen des Vicekönigs stehenden Truppen auf 180,000 Mann, worunter 135,000 Mann reguläre Truppen aller Waffengattungen, mit Inbegriff der Marine. Trotz der Lücken, die seitdem eingerissen seyn mögen, kann man ohne Uebertreibung die Zahl der Mannschaft, welche in einem Monat unter den Waffen stehen wird, auf 250,000 Mann schätzen.</p><lb/>
          <p>Man hat hier die Nachricht erhalten, daß Kurschid Pascha Nedschid verlassen hat, um nach Aegypten zu kommen, und daß Achmet Pascha Yemen verlassen wird, um nach dem Assir zu ziehen. Kurschid führt einen Theil der regulären Truppen (13 Regimenter) mit sich, denn der Krieg im Assir ist ein Guerrillakrieg, worin die irregulären Truppen ganz gute Dienste thun; nur die wichtigsten Stellungen sollen dort von den regulären Truppen besetzt werden.</p><lb/>
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[0814/0014] Patriarchalpalast versammelt, um zur Wahl seines Nachfolgers zu schreiten. Die Stimme der Nation berief den Erzbischof von Nikomedien, Mfgr. Anthymos, zu dieser Würde, dessen Ernennung unverzüglich von dem Synod der kaiserlichen Bestätigung unterzogen wurde. Nachdem Se. Hoheit sie zu sanctioniren geruht hatte, wurde der neue Patriarch eingeladen, sich zum Großwessier zu verfügen, welcher ihm die Insignien seiner Würde überreichte.“ Aegypten. _ Alexandria, 21 März. Lord Palmerston scheint sich in Folge der zwischen den Cabinetten von England und Frankreich herrschenden Mißverständnisse Oesterreich zuzuneigen, dessen Botschafter in London und Konstantinopel versöhnende Ansichten aussprachen, welche der Lage der Dinge angemessener sind. Es ist zu wünschen, daß die Sache sich so verhält. Oesterreich, welches bei der orientalischen Frage weniger directe Interessen hat (?), vermag dieselbe mit all' der nothwendigen Ruhe zu lösen, und die hohe Weisheit des Nestors der Diplomaten ist eine sichere Garantie, daß die Interessen Aller, wie auch die Empfindlichkeit Einzelner, welche bei dieser Frage eine so große Rolle spielt, geschont werden. Viele hochgestellte Personen haben ihre Ansichten auf Berichte gestützt, welche häufig unrichtig waren. Sie hatten Vertrauen in jene, welche in der Stellung waren, gute Auskünfte zu erhalten, ohne jedoch deren Nachlässigkeit oder Böswilligkeit in Anschlag zu bringen. Unter diesen Berichterstattern gab es einige, die Mehemed Ali als einen gewöhnlichen Pascha der Pforte schilderten, der nur glücklicher gewesen wegen seiner Entfernung. Sie glaubten, oder stellten sich als glaubten sie, daß nach Mehemed Ali Alles wieder in den alten Zustand zurückfallen werde, daß die ihm unterworfenen Völker gegen ihn erbittert seyen, daß die Soldaten beim ersten Signal sich empören, daß Mehemed Ali endlich bei der ersten ernstlichen Drohung eines Angriffs sein Haupt beugen würde. Wenn diese Berichterstatter es auch aufrichtig meinten, so haben sie wenigstens eine große Unkenntniß der Dinge bewiesen. Mehemed Ali, der inmitten schwieriger Umstände aller Art, geheimer Intriguen und offener Kriege ergraut ist, hat einen festen und scharfsichtigen Charakter. Was man bei ihm befürchten konnte, war die Trunkenheit des Sieges, nachdem die Schlacht bei Nisib gewonnen, die osmanische Flotte in seine Hände gefallen und Sultan Mahmud gestorben war. Aber sein gemäßigtes und edles Benehmen in jenem Augenblick muß jene enttäuscht haben, welche in seine Gesinnungen und seine offenherzige Politik Zweifel setzten. Die, welche dem Gang der Ereignisse folgen, müssen auch dadurch überzeugt worden seyn, daß Mehemed Ali kein gewöhnlicher Mensch ist, und daß es auch in der Türkei Männer geben kann, welche mit Ueberlegung, Talent, Genie eine tiefe Kenntniß der Menschen und Dinge vereinigen; man darf nämlich offen gestehen, daß in unserm gelehrten und civilisirten Europa die Mehrheit der Leser einen Türken bisher kaum anders, denn als einen wilden, blutdürstigen Barbaren betrachtet hat. Diese Idee wurde nach dem Kriege in Griechenland und nach Erscheinung von Schriften der Philhellenen nur noch eingewurzelter; indessen hätte man dabei nur an die Gräuel denken dürfen, die in Europa bei den Bürgerkriegen und Revolutionen in Frankreich und Spanien vorkamen, bei denen doch nicht, wie beim ägyptisch-griechischen Kampfe, Religionshaß sich einmischte. Die ägyptischen Truppen sind, was man auch sagen mag, Mehemed Ali ergeben, und die Fellahs bewundern ihren Vicekönig, welcher ohne die mindeste Besorgniß nur mit sieben oder acht Personen seines Hauses die Provinzen bereist. Wäre er gehaßt, würde er wohl noch am Leben seyn? Ist er von Schwadronen bewacht, durchreitet er seine Städte im Galopp? Nein, Jedermann sieht ihn vielmehr täglich in den Straßen von Alexandria und dessen Umgebungen zu Pferd, im Schritt, fast allein. Allein schifft er auch durch den Hafen und geht an Bord der osmanischen Schiffe. Sein Audienzsaal ist für Jedermann offen, nur drei Schildwachen stehen an der Thüre. Wenn dieß die Lage eines von seinem Volk gehaßten, verabscheuten Herrschers ist, was soll man dann von den Garden und Wachen, welche die Souveräne in andern Ländern umgeben, denken? Die Wahrheit ist also, daß Mehemed Ali von seinen Unterthanen geliebt ist, daß er auf sie zählen kann. Die von der ägyptischen Regierung ergriffenen Vertheidigungsmaaßregeln sind noch bedeutender und umfassender, als wir anfangs gedacht. Ein vollständiges Artillerieregiment steht seit einigen Tagen mit seinen Feldbatterien bei Alexandria, weiterer Befehle gewärtig. Diesen Morgen manövrirten 1600 Officiere und Unterofficiere der Nationalgarde vor dem Palast des Vicekönigs. Fremde Officiere, welche dem Exercitium zusahen, bezeugten ihr Staunen über die Gewandtheit, mit welcher dieses Corps die Waffen zu führen versteht, welche es erst seit wenigen Tagen erhalten. Bald werden auch die gemeinen Nationalgardisten eingeübt werden. In Kairo beschäftigt man sich mit der Bildung von drei Regimentern Nationalgarde. Alle Beduinenstämme am Rande der Wüste auf der Seite Aegyptens und Syriens haben den Vicekönig versichert, daß sie beim ersten Aufruf sich in Masse zum Kampf einfinden würden. Vor der Schlacht bei Nisib belief sich die Zahl der unter den Befehlen des Vicekönigs stehenden Truppen auf 180,000 Mann, worunter 135,000 Mann reguläre Truppen aller Waffengattungen, mit Inbegriff der Marine. Trotz der Lücken, die seitdem eingerissen seyn mögen, kann man ohne Uebertreibung die Zahl der Mannschaft, welche in einem Monat unter den Waffen stehen wird, auf 250,000 Mann schätzen. Man hat hier die Nachricht erhalten, daß Kurschid Pascha Nedschid verlassen hat, um nach Aegypten zu kommen, und daß Achmet Pascha Yemen verlassen wird, um nach dem Assir zu ziehen. Kurschid führt einen Theil der regulären Truppen (13 Regimenter) mit sich, denn der Krieg im Assir ist ein Guerrillakrieg, worin die irregulären Truppen ganz gute Dienste thun; nur die wichtigsten Stellungen sollen dort von den regulären Truppen besetzt werden. Wir hatten Gelegenheit, mit Officieren der osmanischen Escadre zu sprechen. Sie erklärten, daß ihr Wunsch keineswegs sey, mit der osmanischen Flotte nach Konstantinopel zurückzukehren. „Denn, sagten sie, man würde uns anfangs zwar recht gut empfangen, dann aber würde man den einen nach Erzerum, den andern nach Brussa, Trapezunt, Adrianopel, Salonichi etc. in Mission schicken. Man würde uns auf diese Weise zerstreuen, und in einem Monat wäre keiner mehr am Leben.“ So ist noch heutiges Tages die Politik des Divans, und wenn Chosrew Pascha unter der Regierung des neuen Sultans keine öffentlichen Hinrichtungen anbefohlen, so geschah dieß nur, weil Mehemed Ali solche Thaten seiner Nation und der Welt verkündet haben würde; Chosrew Pascha ist dadurch gezwungen den Heuchler zu spielen. Es gibt also in Aegypten und in Syrien eine materielle Macht – eine Macht, die bereit ist zu handeln, und die man wohl in Anschlag bringen muß. Ein großer Mann, der Beweise seiner Mäßigung gegeben, der nach dem Siege nicht mehr verlangt, als zuvor – ein Mann, den man schaffen müßte, wenn er nicht bereits existirte, um dem osmanischen Reich jene wirkliche Kraft zu geben, welche das Gleichgewicht Europa's gebieterisch erheischt, ein solcher Mann wartet noch, daß man seine erworbenen Rechte anerkenne oder einer Einmischung entsage, welche jenen, zu deren Gunsten man interveniren will, nur Verderben bringt.

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 102. Augsburg, 11. April 1840, S. 0814. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_102_18400411/14>, abgerufen am 03.05.2024.