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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

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immer von Gott entferne, und daß man eben doch zu Hause
bei der Frau Mutter hinter'm Ofen viel frömmer bliebe. Der
Nutzen der Reisen für den Eßkünstler wurde von mir aber be-
reits schon angedeutet.

Wie aber Kunstvereine der Kunst und den Künstlern nicht
anders als günstig sind, so sollten sich auch Eßvereine bilden,
aber in wirklichem, eigentlich artistischem Sinne, denn außerdem
haben wir ohnehin deren schon so viele, als Vereine überhaupt.

Die Kunstkritik nun setzt voraus: gesunde Sinne, gute
Zähne, um sich die Objekte aneignen zu können, eine feine
Zunge, kräftigen Magen, um das Erfaßte zu verdauen, Re-
produktionskraft und Geschick, ein Urtheil von sich zu geben,
guten Appetit, unbefangene Anschauung, Schule, Bewußtsein,
Lust, Neigung, Sinn, Geschmack, Uebung, Kenntniß der Zei-
ten und Völker, der Naturstoffe und ihrer Behandlung und
Wirkung, Kunstphilosophie, Theorie, Technologie, Archäologie,
und wo möglich: Vernunft. Doch steckt in der Kunst mehr
Wissenschaft, als man leider insgemein glaubt.

Der Kunstrichter hat sich besonders zu hüten, das was
ihm selber besonders schmeckt, schlechthin für gut, was ihm nicht
schmeckt, für schlecht zu erklären; er soll seine Subjektivität
überwinden, oder, weil das oft zu viel verlangt, genau ge-
nommen auch gar nicht möglich ist, doch sein Urtheil für nicht
mehr ausgeben, als eben für sein Urtheil. Oft ist's nichts
weiter als eine Interjektion.

"Sie sagen: das spricht mich nicht an,
Und glauben, damit wär's abgethan."

Merkt der Kunstrichter, daß er das nicht versteht, was er beur-
theilen soll, so versire er klug in Generalioribus. Er kann
davon sprechen, daß er selbst über diesen Gegenstand Einiges
unter der Feder habe, womit er die gelehrte Welt zu beschen-
ken gedenke, und um so weniger vorgreifen wolle. Eine hübsche

immer von Gott entferne, und daß man eben doch zu Hauſe
bei der Frau Mutter hinter’m Ofen viel froͤmmer bliebe. Der
Nutzen der Reiſen fuͤr den Eßkuͤnſtler wurde von mir aber be-
reits ſchon angedeutet.

Wie aber Kunſtvereine der Kunſt und den Kuͤnſtlern nicht
anders als guͤnſtig ſind, ſo ſollten ſich auch Eßvereine bilden,
aber in wirklichem, eigentlich artiſtiſchem Sinne, denn außerdem
haben wir ohnehin deren ſchon ſo viele, als Vereine uͤberhaupt.

Die Kunſtkritik nun ſetzt voraus: geſunde Sinne, gute
Zaͤhne, um ſich die Objekte aneignen zu koͤnnen, eine feine
Zunge, kraͤftigen Magen, um das Erfaßte zu verdauen, Re-
produktionskraft und Geſchick, ein Urtheil von ſich zu geben,
guten Appetit, unbefangene Anſchauung, Schule, Bewußtſein,
Luſt, Neigung, Sinn, Geſchmack, Uebung, Kenntniß der Zei-
ten und Voͤlker, der Naturſtoffe und ihrer Behandlung und
Wirkung, Kunſtphiloſophie, Theorie, Technologie, Archaͤologie,
und wo moͤglich: Vernunft. Doch ſteckt in der Kunſt mehr
Wiſſenſchaft, als man leider insgemein glaubt.

Der Kunſtrichter hat ſich beſonders zu huͤten, das was
ihm ſelber beſonders ſchmeckt, ſchlechthin fuͤr gut, was ihm nicht
ſchmeckt, fuͤr ſchlecht zu erklaͤren; er ſoll ſeine Subjektivitaͤt
uͤberwinden, oder, weil das oft zu viel verlangt, genau ge-
nommen auch gar nicht moͤglich iſt, doch ſein Urtheil fuͤr nicht
mehr ausgeben, als eben fuͤr ſein Urtheil. Oft iſt’s nichts
weiter als eine Interjektion.

„Sie ſagen: das ſpricht mich nicht an,
Und glauben, damit waͤr’s abgethan.“

Merkt der Kunſtrichter, daß er das nicht verſteht, was er beur-
theilen ſoll, ſo verſire er klug in Generalioribus. Er kann
davon ſprechen, daß er ſelbſt uͤber dieſen Gegenſtand Einiges
unter der Feder habe, womit er die gelehrte Welt zu beſchen-
ken gedenke, und um ſo weniger vorgreifen wolle. Eine huͤbſche

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[91/0105] immer von Gott entferne, und daß man eben doch zu Hauſe bei der Frau Mutter hinter’m Ofen viel froͤmmer bliebe. Der Nutzen der Reiſen fuͤr den Eßkuͤnſtler wurde von mir aber be- reits ſchon angedeutet. Wie aber Kunſtvereine der Kunſt und den Kuͤnſtlern nicht anders als guͤnſtig ſind, ſo ſollten ſich auch Eßvereine bilden, aber in wirklichem, eigentlich artiſtiſchem Sinne, denn außerdem haben wir ohnehin deren ſchon ſo viele, als Vereine uͤberhaupt. Die Kunſtkritik nun ſetzt voraus: geſunde Sinne, gute Zaͤhne, um ſich die Objekte aneignen zu koͤnnen, eine feine Zunge, kraͤftigen Magen, um das Erfaßte zu verdauen, Re- produktionskraft und Geſchick, ein Urtheil von ſich zu geben, guten Appetit, unbefangene Anſchauung, Schule, Bewußtſein, Luſt, Neigung, Sinn, Geſchmack, Uebung, Kenntniß der Zei- ten und Voͤlker, der Naturſtoffe und ihrer Behandlung und Wirkung, Kunſtphiloſophie, Theorie, Technologie, Archaͤologie, und wo moͤglich: Vernunft. Doch ſteckt in der Kunſt mehr Wiſſenſchaft, als man leider insgemein glaubt. Der Kunſtrichter hat ſich beſonders zu huͤten, das was ihm ſelber beſonders ſchmeckt, ſchlechthin fuͤr gut, was ihm nicht ſchmeckt, fuͤr ſchlecht zu erklaͤren; er ſoll ſeine Subjektivitaͤt uͤberwinden, oder, weil das oft zu viel verlangt, genau ge- nommen auch gar nicht moͤglich iſt, doch ſein Urtheil fuͤr nicht mehr ausgeben, als eben fuͤr ſein Urtheil. Oft iſt’s nichts weiter als eine Interjektion. „Sie ſagen: das ſpricht mich nicht an, Und glauben, damit waͤr’s abgethan.“ Merkt der Kunſtrichter, daß er das nicht verſteht, was er beur- theilen ſoll, ſo verſire er klug in Generalioribus. Er kann davon ſprechen, daß er ſelbſt uͤber dieſen Gegenſtand Einiges unter der Feder habe, womit er die gelehrte Welt zu beſchen- ken gedenke, und um ſo weniger vorgreifen wolle. Eine huͤbſche

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Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/105>, abgerufen am 18.05.2024.