Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb¬ kosende Hand ihres Onkels, als der alte Herr so einfach und vornehm zu ihr sprach. Aber in ihre ruhige Stirn grub sich die erste kleine Falte bei seinen guten Worten ein. Offenbar empfand sie es nur peinlich, daß irgend jemand für sie einstehen, verantworten, schützende oder verteidigende Maßregeln ergreifen wollte. Sie begehrte nicht nach dem Schutz der Familie, und erschien ihr vermutlich ebenso lächerlich wie unbehaglich, mit einem¬ mal wie zerbrechliches Glaszeug behandelt zu werden.
Unwillkürlich versetzten Max Werners Gedanken Irm¬ gard in die gleiche Lage, und er sah, wie sie schon bei der bloßen Vorstellung um vernichteten Mädchenruf litt und blutete. Besaß sie wirklich so viel mehr Menschen¬ furcht, so viel weniger Seelenkraft als Fenia? Nein! dafür kannte er sie zu gut. Aber was die öffentliche Moral tadelte und lobte, das tadelte und lobte sie selbst bis zu gewissem Grade auch. Wenn sie in Zwiespalt mit der vorgeschriebenen Lebensführung geriet, dann geriet sie auch mit sich selbst in Zwiespalt. Daher mitten im Rausch eines Kusses das Erzittern geheimer Angst, als besäßen die Wände Ohren, -- daher das Gefühl, daß die Liebe sowohl der Genius ihres Lebens, als auch der allmächtige Dämon und Versucher sei, dem Gewalt gegeben ist, den Engel zu verscheuchen. -- Irmgard er¬ wartete von der Liebe nicht -- Fenias "Frieden".
Während alle in der Plauderecke verstummt waren, und Max Werner seine Gedanken so weit forttrugen aus dem Kreise, worin er sich befand, stand Fenia auf und trat, begleitet von der Russalka, an eines der hohen Fenster ihm grade gegenüber.
Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb¬ koſende Hand ihres Onkels, als der alte Herr ſo einfach und vornehm zu ihr ſprach. Aber in ihre ruhige Stirn grub ſich die erſte kleine Falte bei ſeinen guten Worten ein. Offenbar empfand ſie es nur peinlich, daß irgend jemand für ſie einſtehen, verantworten, ſchützende oder verteidigende Maßregeln ergreifen wollte. Sie begehrte nicht nach dem Schutz der Familie, und erſchien ihr vermutlich ebenſo lächerlich wie unbehaglich, mit einem¬ mal wie zerbrechliches Glaszeug behandelt zu werden.
Unwillkürlich verſetzten Max Werners Gedanken Irm¬ gard in die gleiche Lage, und er ſah, wie ſie ſchon bei der bloßen Vorſtellung um vernichteten Mädchenruf litt und blutete. Beſaß ſie wirklich ſo viel mehr Menſchen¬ furcht, ſo viel weniger Seelenkraft als Fenia? Nein! dafür kannte er ſie zu gut. Aber was die öffentliche Moral tadelte und lobte, das tadelte und lobte ſie ſelbſt bis zu gewiſſem Grade auch. Wenn ſie in Zwieſpalt mit der vorgeſchriebenen Lebensführung geriet, dann geriet ſie auch mit ſich ſelbſt in Zwieſpalt. Daher mitten im Rauſch eines Kuſſes das Erzittern geheimer Angſt, als beſäßen die Wände Ohren, — daher das Gefühl, daß die Liebe ſowohl der Genius ihres Lebens, als auch der allmächtige Dämon und Verſucher ſei, dem Gewalt gegeben iſt, den Engel zu verſcheuchen. — Irmgard er¬ wartete von der Liebe nicht — Fenias „Frieden“.
Während alle in der Plauderecke verſtummt waren, und Max Werner ſeine Gedanken ſo weit forttrugen aus dem Kreiſe, worin er ſich befand, ſtand Fenia auf und trat, begleitet von der Ruſſalka, an eines der hohen Fenſter ihm grade gegenüber.
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Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb¬
koſende Hand ihres Onkels, als der alte Herr ſo einfach
und vornehm zu ihr ſprach. Aber in ihre ruhige Stirn
grub ſich die erſte kleine Falte bei ſeinen guten Worten
ein. Offenbar empfand ſie es nur peinlich, daß irgend
jemand für ſie einſtehen, verantworten, ſchützende oder
verteidigende Maßregeln ergreifen wollte. Sie begehrte
nicht nach dem Schutz der Familie, und erſchien ihr
vermutlich ebenſo lächerlich wie unbehaglich, mit einem¬
mal wie zerbrechliches Glaszeug behandelt zu werden.
Unwillkürlich verſetzten Max Werners Gedanken Irm¬
gard in die gleiche Lage, und er ſah, wie ſie ſchon bei
der bloßen Vorſtellung um vernichteten Mädchenruf litt
und blutete. Beſaß ſie wirklich ſo viel mehr Menſchen¬
furcht, ſo viel weniger Seelenkraft als Fenia? Nein!
dafür kannte er ſie zu gut. Aber was die öffentliche
Moral tadelte und lobte, das tadelte und lobte ſie ſelbſt
bis zu gewiſſem Grade auch. Wenn ſie in Zwieſpalt
mit der vorgeſchriebenen Lebensführung geriet, dann
geriet ſie auch mit ſich ſelbſt in Zwieſpalt. Daher mitten
im Rauſch eines Kuſſes das Erzittern geheimer Angſt,
als beſäßen die Wände Ohren, — daher das Gefühl,
daß die Liebe ſowohl der Genius ihres Lebens, als auch
der allmächtige Dämon und Verſucher ſei, dem Gewalt
gegeben iſt, den Engel zu verſcheuchen. — Irmgard er¬
wartete von der Liebe nicht — Fenias „Frieden“.
Während alle in der Plauderecke verſtummt waren,
und Max Werner ſeine Gedanken ſo weit forttrugen aus
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trat, begleitet von der Ruſſalka, an eines der hohen
Fenſter ihm grade gegenüber.
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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/51>, abgerufen am 26.06.2024.
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