Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb¬ Unwillkürlich versetzten Max Werners Gedanken Irm¬ Während alle in der Plauderecke verstummt waren, Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb¬ Unwillkürlich verſetzten Max Werners Gedanken Irm¬ Während alle in der Plauderecke verſtummt waren, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0051" n="47"/> <fw type="pageNum" place="top">— 47 —<lb/></fw> <p>Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb¬<lb/> koſende Hand ihres Onkels, als der alte Herr ſo einfach<lb/> und vornehm zu ihr ſprach. Aber in ihre ruhige Stirn<lb/> grub ſich die erſte kleine Falte bei ſeinen guten Worten<lb/> ein. Offenbar empfand ſie es nur peinlich, daß irgend<lb/> jemand für ſie einſtehen, verantworten, ſchützende oder<lb/> verteidigende Maßregeln ergreifen wollte. Sie begehrte<lb/> nicht nach dem Schutz der Familie, und erſchien ihr<lb/> vermutlich ebenſo lächerlich wie unbehaglich, mit einem¬<lb/> mal wie zerbrechliches Glaszeug behandelt zu werden.</p><lb/> <p>Unwillkürlich verſetzten Max Werners Gedanken Irm¬<lb/> gard in die gleiche Lage, und er ſah, wie ſie ſchon bei<lb/> der bloßen Vorſtellung um vernichteten Mädchenruf litt<lb/> und blutete. Beſaß ſie wirklich ſo viel mehr Menſchen¬<lb/> furcht, ſo viel weniger Seelenkraft als Fenia? Nein!<lb/> dafür kannte er ſie zu gut. Aber was die öffentliche<lb/> Moral tadelte und lobte, das tadelte und lobte ſie ſelbſt<lb/> bis zu gewiſſem Grade auch. Wenn ſie in Zwieſpalt<lb/> mit der vorgeſchriebenen Lebensführung geriet, dann<lb/> geriet ſie auch mit ſich ſelbſt in Zwieſpalt. Daher mitten<lb/> im Rauſch eines Kuſſes das Erzittern geheimer Angſt,<lb/> als beſäßen die Wände Ohren, — daher das Gefühl,<lb/> daß die Liebe ſowohl der Genius ihres Lebens, als auch<lb/> der allmächtige Dämon und Verſucher ſei, dem Gewalt<lb/> gegeben iſt, den Engel zu verſcheuchen. — Irmgard er¬<lb/> wartete von der Liebe nicht — Fenias „Frieden“.</p><lb/> <p>Während alle in der Plauderecke verſtummt waren,<lb/> und Max Werner ſeine Gedanken ſo weit forttrugen aus<lb/> dem Kreiſe, worin er ſich befand, ſtand Fenia auf und<lb/> trat, begleitet von der Ruſſalka, an eines der hohen<lb/> Fenſter ihm grade gegenüber.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [47/0051]
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Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb¬
koſende Hand ihres Onkels, als der alte Herr ſo einfach
und vornehm zu ihr ſprach. Aber in ihre ruhige Stirn
grub ſich die erſte kleine Falte bei ſeinen guten Worten
ein. Offenbar empfand ſie es nur peinlich, daß irgend
jemand für ſie einſtehen, verantworten, ſchützende oder
verteidigende Maßregeln ergreifen wollte. Sie begehrte
nicht nach dem Schutz der Familie, und erſchien ihr
vermutlich ebenſo lächerlich wie unbehaglich, mit einem¬
mal wie zerbrechliches Glaszeug behandelt zu werden.
Unwillkürlich verſetzten Max Werners Gedanken Irm¬
gard in die gleiche Lage, und er ſah, wie ſie ſchon bei
der bloßen Vorſtellung um vernichteten Mädchenruf litt
und blutete. Beſaß ſie wirklich ſo viel mehr Menſchen¬
furcht, ſo viel weniger Seelenkraft als Fenia? Nein!
dafür kannte er ſie zu gut. Aber was die öffentliche
Moral tadelte und lobte, das tadelte und lobte ſie ſelbſt
bis zu gewiſſem Grade auch. Wenn ſie in Zwieſpalt
mit der vorgeſchriebenen Lebensführung geriet, dann
geriet ſie auch mit ſich ſelbſt in Zwieſpalt. Daher mitten
im Rauſch eines Kuſſes das Erzittern geheimer Angſt,
als beſäßen die Wände Ohren, — daher das Gefühl,
daß die Liebe ſowohl der Genius ihres Lebens, als auch
der allmächtige Dämon und Verſucher ſei, dem Gewalt
gegeben iſt, den Engel zu verſcheuchen. — Irmgard er¬
wartete von der Liebe nicht — Fenias „Frieden“.
Während alle in der Plauderecke verſtummt waren,
und Max Werner ſeine Gedanken ſo weit forttrugen aus
dem Kreiſe, worin er ſich befand, ſtand Fenia auf und
trat, begleitet von der Ruſſalka, an eines der hohen
Fenſter ihm grade gegenüber.
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