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Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898.

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widerte er fast gereizt, denn es mißfiel ihm heftig, "ich,
so wie ich hier stehe, bin eben erst der Bücherstudiererei
entlaufen wie dem ärgsten aller Frondienste. Und Sie
-- ein Weib -- spannen sich freiwillig hinein."

"Warum soll denn das ein Frondienst sein?" sie
blickte erstaunt auf -- "das, was unsern Gesichtskreis
erweitert, uns das Leben aufschließt, uns selbständig
macht --? Nein, wenn irgend was in der Welt einer
Befreiung gleicht, so ist es das Geistesstudium."

"Sie ist imstande und benutzt diesen Heimweg, --
mitten auf der Straße, im Morgennebel, -- zu einem
philosophischen Disput über den Wert des Geistes¬
studiums für das Leben!" dachte er fast erbittert, und
entgegnete im Brustton seiner festesten Ueberzeugung:

"Aber, mein Fräulein! da irren Sie sich nun wirk¬
lich! Es ist im Gegenteil das Beschränkendste, Ein¬
schränkendste, was es auf der Welt giebt! Und eigent¬
lich versteht sich das ja von selbst. Die Wissenschaft
führt an der Wirklichkeit des Lebens, mit all seinen
Farben, all seiner Fülle, seiner widerspruchsvollen Man¬
nigfaltigkeit, völlig vorbei, -- sie erhascht von alledem
nur eine ganz blasse, dünne Silhouette. Je reiner, je
strenger und sicherer ihre Erkenntnismethoden sind, desto
bewußter und größer dann auch ihr Verzicht auf das
volle, das wirkliche Erfassen selbst des kleinsten Lebens¬
stückchens. -- -- Deshalb ist der Wissenschafter, der ihr
dient, an so viel Selbstkasteiung gebunden, an so viel
bloße Schreibtischexistenz und geistige Bleichsucht."

Während er redete, überlegte er sich zugleich, daß
der Weg bis zu Fenias Hotel sehr kurz sei, und machte

widerte er faſt gereizt, denn es mißfiel ihm heftig, „ich,
ſo wie ich hier ſtehe, bin eben erſt der Bücherſtudiererei
entlaufen wie dem ärgſten aller Frondienſte. Und Sie
— ein Weib — ſpannen ſich freiwillig hinein.“

„Warum ſoll denn das ein Frondienſt ſein?“ ſie
blickte erſtaunt auf — „das, was unſern Geſichtskreis
erweitert, uns das Leben aufſchließt, uns ſelbſtändig
macht —? Nein, wenn irgend was in der Welt einer
Befreiung gleicht, ſo iſt es das Geiſtesſtudium.“

„Sie iſt imſtande und benutzt dieſen Heimweg, —
mitten auf der Straße, im Morgennebel, — zu einem
philoſophiſchen Disput über den Wert des Geiſtes¬
ſtudiums für das Leben!“ dachte er faſt erbittert, und
entgegnete im Bruſtton ſeiner feſteſten Ueberzeugung:

„Aber, mein Fräulein! da irren Sie ſich nun wirk¬
lich! Es iſt im Gegenteil das Beſchränkendſte, Ein¬
ſchränkendſte, was es auf der Welt giebt! Und eigent¬
lich verſteht ſich das ja von ſelbſt. Die Wiſſenſchaft
führt an der Wirklichkeit des Lebens, mit all ſeinen
Farben, all ſeiner Fülle, ſeiner widerſpruchsvollen Man¬
nigfaltigkeit, völlig vorbei, — ſie erhaſcht von alledem
nur eine ganz blaſſe, dünne Silhouette. Je reiner, je
ſtrenger und ſicherer ihre Erkenntnismethoden ſind, deſto
bewußter und größer dann auch ihr Verzicht auf das
volle, das wirkliche Erfaſſen ſelbſt des kleinſten Lebens¬
ſtückchens. — — Deshalb iſt der Wiſſenſchafter, der ihr
dient, an ſo viel Selbſtkaſteiung gebunden, an ſo viel
bloße Schreibtiſchexiſtenz und geiſtige Bleichſucht.“

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[18/0022] — 18 — widerte er faſt gereizt, denn es mißfiel ihm heftig, „ich, ſo wie ich hier ſtehe, bin eben erſt der Bücherſtudiererei entlaufen wie dem ärgſten aller Frondienſte. Und Sie — ein Weib — ſpannen ſich freiwillig hinein.“ „Warum ſoll denn das ein Frondienſt ſein?“ ſie blickte erſtaunt auf — „das, was unſern Geſichtskreis erweitert, uns das Leben aufſchließt, uns ſelbſtändig macht —? Nein, wenn irgend was in der Welt einer Befreiung gleicht, ſo iſt es das Geiſtesſtudium.“ „Sie iſt imſtande und benutzt dieſen Heimweg, — mitten auf der Straße, im Morgennebel, — zu einem philoſophiſchen Disput über den Wert des Geiſtes¬ ſtudiums für das Leben!“ dachte er faſt erbittert, und entgegnete im Bruſtton ſeiner feſteſten Ueberzeugung: „Aber, mein Fräulein! da irren Sie ſich nun wirk¬ lich! Es iſt im Gegenteil das Beſchränkendſte, Ein¬ ſchränkendſte, was es auf der Welt giebt! Und eigent¬ lich verſteht ſich das ja von ſelbſt. Die Wiſſenſchaft führt an der Wirklichkeit des Lebens, mit all ſeinen Farben, all ſeiner Fülle, ſeiner widerſpruchsvollen Man¬ nigfaltigkeit, völlig vorbei, — ſie erhaſcht von alledem nur eine ganz blaſſe, dünne Silhouette. Je reiner, je ſtrenger und ſicherer ihre Erkenntnismethoden ſind, deſto bewußter und größer dann auch ihr Verzicht auf das volle, das wirkliche Erfaſſen ſelbſt des kleinſten Lebens¬ ſtückchens. — — Deshalb iſt der Wiſſenſchafter, der ihr dient, an ſo viel Selbſtkaſteiung gebunden, an ſo viel bloße Schreibtiſchexiſtenz und geiſtige Bleichſucht.“ Während er redete, überlegte er ſich zugleich, daß der Weg bis zu Fenias Hotel ſehr kurz ſei, und machte

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Zitationshilfe: Andreas-Salome, Lou: Fenitschka. Eine Ausschweifung. Stuttgart, 1898, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andreas_fenitschka_1898/22>, abgerufen am 21.11.2024.