Den starren, höhnischen Blick, als sie das Tuch wieder sinken ließ, konnte er nie vergessen.
"Meinen Sie, Herr Doctor? -- Er wird ster¬ ben. Wenn auch nur darum, damit die Leute sagen können, ich hätte ihn schlecht gepflegt."
"Gnädige Frau, es ist nur eine Stimme, mit welcher Aufopferung Sie für das Schicksal Ihrer Angehörigen sorgen."
"Sind Sie wirklich noch so jung und harmlos, Herr van Asten? -- Sie haben doch auch schon Er¬ fahrungen hinter sich, setzte sie hinzu, und sollten wissen, was auf diese Stimme zu bauen ist. Oder hörten Sie immer nur den lächelnden Anfang, und schlossen vergnügt ihr Ohr, wenn die herzlich Theil¬ nehmenden von ihrem Lobe sich erholten, zuerst in kühler Betrachtung, die sie unpartheiische Würdigung nennen, dann in leisen Bemerkungen, daß bei dem vielen Guten doch auch Schattenseiten sind; endlich wenn die liebrei¬ chen Seelen erkannt, daß sie unter sich sind, öffnen sich die Schleusen und die ätzende Bitterkeit schießt heraus, bis von dem Lobe nichts bleibt, als eine tödtende Wunde."
"Das Thier im Menschen zu bekämpfen, sind wir auf dieser Erde."
"Meinen Sie, Herr Doctor! Ich meinte nur, die Klauen und die Stachel unter einer glatten Haut zu verbergen. -- Wer leben will, athmen, genießen, rief sie mit einer heiseren Stimme, die nur aus einer zerrissenen Brust kommt, dem rathe ich nicht, die Waffen fortzuwerfen, die ihm die Natur gab."
Den ſtarren, höhniſchen Blick, als ſie das Tuch wieder ſinken ließ, konnte er nie vergeſſen.
„Meinen Sie, Herr Doctor? — Er wird ſter¬ ben. Wenn auch nur darum, damit die Leute ſagen können, ich hätte ihn ſchlecht gepflegt.“
„Gnädige Frau, es iſt nur eine Stimme, mit welcher Aufopferung Sie für das Schickſal Ihrer Angehörigen ſorgen.“
„Sind Sie wirklich noch ſo jung und harmlos, Herr van Aſten? — Sie haben doch auch ſchon Er¬ fahrungen hinter ſich, ſetzte ſie hinzu, und ſollten wiſſen, was auf dieſe Stimme zu bauen iſt. Oder hörten Sie immer nur den lächelnden Anfang, und ſchloſſen vergnügt ihr Ohr, wenn die herzlich Theil¬ nehmenden von ihrem Lobe ſich erholten, zuerſt in kühler Betrachtung, die ſie unpartheiiſche Würdigung nennen, dann in leiſen Bemerkungen, daß bei dem vielen Guten doch auch Schattenſeiten ſind; endlich wenn die liebrei¬ chen Seelen erkannt, daß ſie unter ſich ſind, öffnen ſich die Schleuſen und die ätzende Bitterkeit ſchießt heraus, bis von dem Lobe nichts bleibt, als eine tödtende Wunde.“
„Das Thier im Menſchen zu bekämpfen, ſind wir auf dieſer Erde.“
„Meinen Sie, Herr Doctor! Ich meinte nur, die Klauen und die Stachel unter einer glatten Haut zu verbergen. — Wer leben will, athmen, genießen, rief ſie mit einer heiſeren Stimme, die nur aus einer zerriſſenen Bruſt kommt, dem rathe ich nicht, die Waffen fortzuwerfen, die ihm die Natur gab.“
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Den ſtarren, höhniſchen Blick, als ſie das
Tuch wieder ſinken ließ, konnte er nie vergeſſen.
„Meinen Sie, Herr Doctor? — Er wird ſter¬
ben. Wenn auch nur darum, damit die Leute ſagen
können, ich hätte ihn ſchlecht gepflegt.“
„Gnädige Frau, es iſt nur eine Stimme, mit
welcher Aufopferung Sie für das Schickſal Ihrer
Angehörigen ſorgen.“
„Sind Sie wirklich noch ſo jung und harmlos,
Herr van Aſten? — Sie haben doch auch ſchon Er¬
fahrungen hinter ſich, ſetzte ſie hinzu, und ſollten
wiſſen, was auf dieſe Stimme zu bauen iſt. Oder
hörten Sie immer nur den lächelnden Anfang, und
ſchloſſen vergnügt ihr Ohr, wenn die herzlich Theil¬
nehmenden von ihrem Lobe ſich erholten, zuerſt in kühler
Betrachtung, die ſie unpartheiiſche Würdigung nennen,
dann in leiſen Bemerkungen, daß bei dem vielen Guten
doch auch Schattenſeiten ſind; endlich wenn die liebrei¬
chen Seelen erkannt, daß ſie unter ſich ſind, öffnen ſich
die Schleuſen und die ätzende Bitterkeit ſchießt heraus,
bis von dem Lobe nichts bleibt, als eine tödtende Wunde.“
„Das Thier im Menſchen zu bekämpfen, ſind
wir auf dieſer Erde.“
„Meinen Sie, Herr Doctor! Ich meinte nur,
die Klauen und die Stachel unter einer glatten Haut
zu verbergen. — Wer leben will, athmen, genießen, rief
ſie mit einer heiſeren Stimme, die nur aus einer
zerriſſenen Bruſt kommt, dem rathe ich nicht, die
Waffen fortzuwerfen, die ihm die Natur gab.“
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/67>, abgerufen am 05.12.2024.
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