einen so langen Umgang mit einem theuren Kranken gehabt haben, um seine Wünsche zu verstehen."
Ihr Blick hatte ihn fortgewiesen, und er ge¬ horcht. Fast machte er sich einen Vorwurf. Hatte ihm der Geheimrath nicht noch etwas sagen wollen? Vielleicht war es das letzte Mal, daß er ihn sah. Aber er hatte schon die Weisung der Geheimräthin überschritten, die aus Vorsorge für den Kranken den Befehl gegeben, Niemand ohne ihr Vorwissen in das Zimmer zu lassen. Er zauderte im Vorzimmer. Der Kranke mußte sich wieder erholt haben, er hörte ihn die vorhin angefangene Ode: Integer vitae, scele¬ risque purus recitiren.
War es sein Sterbegesang? Die Geheimräthin schien betroffen, als sie zurückkehrend Walter noch fand. Der Blick, den sie ihm zuwarf, hatte etwas Befremdendes, es war ihm auffällig, daß sie ein Tuch vor dem Munde hielt, welches sie im Augenblick, wo sie ihn sah, fallen ließ. Er glaubte sich zu entsin¬ nen, daß sie schon im Krankenzimmer es an die Lip¬ pen gehalten. Doch es war nur ein Moment gegen¬ seitiger Befangenheit. Sie setzte sich auf ein Sopha, oder ließ sich fallen, und drückte das Tuch an das Gesicht. Ein Schluchzen hörte er nicht. Er sprach einige Worte der Theilnahme, daß die Gefahr wohl nicht so groß sein werde, als man annehme, daß die Natur des Geheimrathes auch schwerere Krankheiten zu überwinden im Stande sei, daß er unter einer solchen Pflege genesen müsse.
einen ſo langen Umgang mit einem theuren Kranken gehabt haben, um ſeine Wünſche zu verſtehen.“
Ihr Blick hatte ihn fortgewieſen, und er ge¬ horcht. Faſt machte er ſich einen Vorwurf. Hatte ihm der Geheimrath nicht noch etwas ſagen wollen? Vielleicht war es das letzte Mal, daß er ihn ſah. Aber er hatte ſchon die Weiſung der Geheimräthin überſchritten, die aus Vorſorge für den Kranken den Befehl gegeben, Niemand ohne ihr Vorwiſſen in das Zimmer zu laſſen. Er zauderte im Vorzimmer. Der Kranke mußte ſich wieder erholt haben, er hörte ihn die vorhin angefangene Ode: Integer vitae, scele¬ risque purus recitiren.
War es ſein Sterbegeſang? Die Geheimräthin ſchien betroffen, als ſie zurückkehrend Walter noch fand. Der Blick, den ſie ihm zuwarf, hatte etwas Befremdendes, es war ihm auffällig, daß ſie ein Tuch vor dem Munde hielt, welches ſie im Augenblick, wo ſie ihn ſah, fallen ließ. Er glaubte ſich zu entſin¬ nen, daß ſie ſchon im Krankenzimmer es an die Lip¬ pen gehalten. Doch es war nur ein Moment gegen¬ ſeitiger Befangenheit. Sie ſetzte ſich auf ein Sopha, oder ließ ſich fallen, und drückte das Tuch an das Geſicht. Ein Schluchzen hörte er nicht. Er ſprach einige Worte der Theilnahme, daß die Gefahr wohl nicht ſo groß ſein werde, als man annehme, daß die Natur des Geheimrathes auch ſchwerere Krankheiten zu überwinden im Stande ſei, daß er unter einer ſolchen Pflege geneſen müſſe.
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einen ſo langen Umgang mit einem theuren Kranken
gehabt haben, um ſeine Wünſche zu verſtehen.“
Ihr Blick hatte ihn fortgewieſen, und er ge¬
horcht. Faſt machte er ſich einen Vorwurf. Hatte
ihm der Geheimrath nicht noch etwas ſagen wollen?
Vielleicht war es das letzte Mal, daß er ihn ſah.
Aber er hatte ſchon die Weiſung der Geheimräthin
überſchritten, die aus Vorſorge für den Kranken den
Befehl gegeben, Niemand ohne ihr Vorwiſſen in das
Zimmer zu laſſen. Er zauderte im Vorzimmer. Der
Kranke mußte ſich wieder erholt haben, er hörte ihn
die vorhin angefangene Ode: Integer vitae, scele¬
risque purus recitiren.
War es ſein Sterbegeſang? Die Geheimräthin
ſchien betroffen, als ſie zurückkehrend Walter noch
fand. Der Blick, den ſie ihm zuwarf, hatte etwas
Befremdendes, es war ihm auffällig, daß ſie ein Tuch
vor dem Munde hielt, welches ſie im Augenblick, wo
ſie ihn ſah, fallen ließ. Er glaubte ſich zu entſin¬
nen, daß ſie ſchon im Krankenzimmer es an die Lip¬
pen gehalten. Doch es war nur ein Moment gegen¬
ſeitiger Befangenheit. Sie ſetzte ſich auf ein Sopha,
oder ließ ſich fallen, und drückte das Tuch an das
Geſicht. Ein Schluchzen hörte er nicht. Er ſprach
einige Worte der Theilnahme, daß die Gefahr wohl
nicht ſo groß ſein werde, als man annehme, daß die
Natur des Geheimrathes auch ſchwerere Krankheiten
zu überwinden im Stande ſei, daß er unter einer
ſolchen Pflege geneſen müſſe.
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/66>, abgerufen am 05.12.2024.
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