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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852.

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"Und im Leibe des --" Sie hielt zusammen¬
schaudernd inne.

Er spielte ein bedeutungsloses Fingerspiel. Er
hatte sehr wohlgeformte aristokratisch weiße Hände.
Ein sanftes Lächeln spielte um die Augen, die auf
die Hände niedersahen:

"Wenn wir uns nur gewöhnen könnten die Dinge
anzusehen nicht wie die Leute, sondern wie sie sind!
Wir würden viel glücklicher sein, und weit mehr Glück
um uns verbreiten. -- Hätte der große Mann sich
um den Katechismus, und die Morallehrer und Gott
weiß welche Gevattern und Muhmen gekümmert, was
hätte er dann thun sollen? Etwa um die hunderte
oder tausende Kranke nicht zu verlassen, selbst zurück
bleiben, mit seinem schon geschmolzenen Heere, ohne
Vorräthe, der wachsenden Zahl seiner Feinde, der Hitze,
den neuen Krankheiten gegenüber? Er wäre so wahr
zwei mal zwei gleich vier ist als Opfer gefallen.
Dann hätten freilich alle alten Weiber und alle ro¬
mantischen Seelen sein Lob gesungen, als Märtyrer,
der sich selbst geopfert für Nothleidende, und wie
viel Tausende mit, das ist ihnen gleichgültig; es ist
doch eine edle That. Aber daß er alsdann eine andre
Mission vergessen hätte, daß es galt sein großes
Frankreich aus der Anarchie zu retten, die aufs Neue
ihre Polypenarme ausstreckte, daran denken diese senti¬
mentalen Gemüther nicht. Lieber die arme Fliege
retten, die im Netz der Spinnen sich gefangen hat,
als zugreifen, wo die Gardine Feuer fängt, und das

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„Und im Leibe des —“ Sie hielt zuſammen¬
ſchaudernd inne.

Er ſpielte ein bedeutungsloſes Fingerſpiel. Er
hatte ſehr wohlgeformte ariſtokratiſch weiße Hände.
Ein ſanftes Lächeln ſpielte um die Augen, die auf
die Hände niederſahen:

„Wenn wir uns nur gewöhnen könnten die Dinge
anzuſehen nicht wie die Leute, ſondern wie ſie ſind!
Wir würden viel glücklicher ſein, und weit mehr Glück
um uns verbreiten. — Hätte der große Mann ſich
um den Katechismus, und die Morallehrer und Gott
weiß welche Gevattern und Muhmen gekümmert, was
hätte er dann thun ſollen? Etwa um die hunderte
oder tauſende Kranke nicht zu verlaſſen, ſelbſt zurück
bleiben, mit ſeinem ſchon geſchmolzenen Heere, ohne
Vorräthe, der wachſenden Zahl ſeiner Feinde, der Hitze,
den neuen Krankheiten gegenüber? Er wäre ſo wahr
zwei mal zwei gleich vier iſt als Opfer gefallen.
Dann hätten freilich alle alten Weiber und alle ro¬
mantiſchen Seelen ſein Lob geſungen, als Märtyrer,
der ſich ſelbſt geopfert für Nothleidende, und wie
viel Tauſende mit, das iſt ihnen gleichgültig; es iſt
doch eine edle That. Aber daß er alsdann eine andre
Miſſion vergeſſen hätte, daß es galt ſein großes
Frankreich aus der Anarchie zu retten, die aufs Neue
ihre Polypenarme ausſtreckte, daran denken dieſe ſenti¬
mentalen Gemüther nicht. Lieber die arme Fliege
retten, die im Netz der Spinnen ſich gefangen hat,
als zugreifen, wo die Gardine Feuer fängt, und das

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[243/0253] „Und im Leibe des —“ Sie hielt zuſammen¬ ſchaudernd inne. Er ſpielte ein bedeutungsloſes Fingerſpiel. Er hatte ſehr wohlgeformte ariſtokratiſch weiße Hände. Ein ſanftes Lächeln ſpielte um die Augen, die auf die Hände niederſahen: „Wenn wir uns nur gewöhnen könnten die Dinge anzuſehen nicht wie die Leute, ſondern wie ſie ſind! Wir würden viel glücklicher ſein, und weit mehr Glück um uns verbreiten. — Hätte der große Mann ſich um den Katechismus, und die Morallehrer und Gott weiß welche Gevattern und Muhmen gekümmert, was hätte er dann thun ſollen? Etwa um die hunderte oder tauſende Kranke nicht zu verlaſſen, ſelbſt zurück bleiben, mit ſeinem ſchon geſchmolzenen Heere, ohne Vorräthe, der wachſenden Zahl ſeiner Feinde, der Hitze, den neuen Krankheiten gegenüber? Er wäre ſo wahr zwei mal zwei gleich vier iſt als Opfer gefallen. Dann hätten freilich alle alten Weiber und alle ro¬ mantiſchen Seelen ſein Lob geſungen, als Märtyrer, der ſich ſelbſt geopfert für Nothleidende, und wie viel Tauſende mit, das iſt ihnen gleichgültig; es iſt doch eine edle That. Aber daß er alsdann eine andre Miſſion vergeſſen hätte, daß es galt ſein großes Frankreich aus der Anarchie zu retten, die aufs Neue ihre Polypenarme ausſtreckte, daran denken dieſe ſenti¬ mentalen Gemüther nicht. Lieber die arme Fliege retten, die im Netz der Spinnen ſich gefangen hat, als zugreifen, wo die Gardine Feuer fängt, und das 16*

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/253>, abgerufen am 27.11.2024.