Aber diesen Segen soll sie auch dem verlornen Bruder mittheilen. Der Athem ihrer reinen Brust soll den Wahnsinn auf seiner glühenden Stirne kühlen, die wüsten Bilder aus seiner zerrissenen Brust vertreiben. Er bekennt ihr den ganzen, vollen, entsetzlichen Fluch, der auf ihm lastet, er stürzt vor ihr nieder, als er sie erkennt --"
Walter mußte inne halten. Adelheid hatte plötz¬ lich die Hand zurückgezogen und hielt sich die Brust. Dann fuhr sie sich über die Stirn.
"Ist Ihnen wieder unwohl?"
"Nichts, lieber Walter. -- Fahren Sie nur fort, Sie erzählen so schön."
"Es ist doch wohl besser, wir setzen heut noch die Stunde aus."
"Nein, um Gottes Willen nein, heute muß es sein. Nicht bis Morgen wieder verschoben. Ich werde gewiß Muth bekommen. Es war nur die Vorstellung der Furien -- ich möchte das Stück nie auf dem Theater sehen, so schön es ist."
"Aber Orest wird ja geheilt."
"Wer seine Mutter todt schlug!"
"Lesen Sie, liebe Adelheid, irgend eine heitre Rede der Iphigenia. Sie kann wie Balsam wirken."
Adelheid las, was sie zufällig aufschlug:
"Das ist's, warum mein blutend Herz nicht heilt.
In erster Jugend, da sich kaum die Seele
An Vater, Mutter und Geschwister band;
Die neuen Schößlinge, gesellt und lieblich,
Aber dieſen Segen ſoll ſie auch dem verlornen Bruder mittheilen. Der Athem ihrer reinen Bruſt ſoll den Wahnſinn auf ſeiner glühenden Stirne kühlen, die wüſten Bilder aus ſeiner zerriſſenen Bruſt vertreiben. Er bekennt ihr den ganzen, vollen, entſetzlichen Fluch, der auf ihm laſtet, er ſtürzt vor ihr nieder, als er ſie erkennt —“
Walter mußte inne halten. Adelheid hatte plötz¬ lich die Hand zurückgezogen und hielt ſich die Bruſt. Dann fuhr ſie ſich über die Stirn.
„Iſt Ihnen wieder unwohl?“
„Nichts, lieber Walter. — Fahren Sie nur fort, Sie erzählen ſo ſchön.“
„Es iſt doch wohl beſſer, wir ſetzen heut noch die Stunde aus.“
„Nein, um Gottes Willen nein, heute muß es ſein. Nicht bis Morgen wieder verſchoben. Ich werde gewiß Muth bekommen. Es war nur die Vorſtellung der Furien — ich möchte das Stück nie auf dem Theater ſehen, ſo ſchön es iſt.“
„Aber Oreſt wird ja geheilt.“
„Wer ſeine Mutter todt ſchlug!“
„Leſen Sie, liebe Adelheid, irgend eine heitre Rede der Iphigenia. Sie kann wie Balſam wirken.“
Adelheid las, was ſie zufällig aufſchlug:
„Das iſt's, warum mein blutend Herz nicht heilt.
In erſter Jugend, da ſich kaum die Seele
An Vater, Mutter und Geſchwiſter band;
Die neuen Schößlinge, geſellt und lieblich,
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Aber dieſen Segen ſoll ſie auch dem verlornen Bruder
mittheilen. Der Athem ihrer reinen Bruſt ſoll den
Wahnſinn auf ſeiner glühenden Stirne kühlen, die
wüſten Bilder aus ſeiner zerriſſenen Bruſt vertreiben.
Er bekennt ihr den ganzen, vollen, entſetzlichen Fluch,
der auf ihm laſtet, er ſtürzt vor ihr nieder, als er ſie
erkennt —“
Walter mußte inne halten. Adelheid hatte plötz¬
lich die Hand zurückgezogen und hielt ſich die Bruſt.
Dann fuhr ſie ſich über die Stirn.
„Iſt Ihnen wieder unwohl?“
„Nichts, lieber Walter. — Fahren Sie nur fort,
Sie erzählen ſo ſchön.“
„Es iſt doch wohl beſſer, wir ſetzen heut noch
die Stunde aus.“
„Nein, um Gottes Willen nein, heute muß es
ſein. Nicht bis Morgen wieder verſchoben. Ich werde
gewiß Muth bekommen. Es war nur die Vorſtellung
der Furien — ich möchte das Stück nie auf dem
Theater ſehen, ſo ſchön es iſt.“
„Aber Oreſt wird ja geheilt.“
„Wer ſeine Mutter todt ſchlug!“
„Leſen Sie, liebe Adelheid, irgend eine heitre
Rede der Iphigenia. Sie kann wie Balſam wirken.“
Adelheid las, was ſie zufällig aufſchlug:
„Das iſt's, warum mein blutend Herz nicht heilt.
In erſter Jugend, da ſich kaum die Seele
An Vater, Mutter und Geſchwiſter band;
Die neuen Schößlinge, geſellt und lieblich,
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 2. Berlin, 1852, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe02_1852/232>, abgerufen am 26.06.2024.
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