Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Essenzfläschchen aus der Tasche gezogen und tupfte,
vorsichtig Tropfen davon auf den Finger gießend,
über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre
Glossen, es waren keine freundliche. Ein Glück für
die Ohnmächtige, daß sie nichts davon hörte. Ihr
Begleiter hörte und verstand sie, aber keine Miene,
kein Blick verrieth eine innere Bewegung.

Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner
ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war,
lüftete er vorsichtig das Tuch, das sie um sich ge¬
schlungen: "In der That ein Prachtwerk der Schöp¬
ferin. Fast zu schön, um es zu verschwenden, setzte
er hinzu. Und doch, wenn wir es nicht verschwen¬
deten, nicht mehr werth als eine Mumie in einer
Raritätensammlung."

Erst die Tropfen aus dem letzten Fläschchen, die
er noch behutsamer anwandte, brachten die Wirkung,
die er beabsichtigt, hervor. Es mußte eine sehr
starke, gefährliche Essenz sein, denn nur, nachdem er
verdrießlich nach der Uhr und der Sonne gesehen,
und die Schläferin ohne daß sie erwachte, stark am
Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkapsel und
den Stöpsel gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre
Augen, ihr Athmen, ihr Lächeln, bald auch ihre
Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Ner¬
ven, die der Retter nicht beabsichtigt hatte. Sie er¬
hob sich und sprach in Extase. Es war das schöne
Metall der Stimme, das vorhin fast berauschend in's
Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein

Eſſenzfläſchchen aus der Taſche gezogen und tupfte,
vorſichtig Tropfen davon auf den Finger gießend,
über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre
Gloſſen, es waren keine freundliche. Ein Glück für
die Ohnmächtige, daß ſie nichts davon hörte. Ihr
Begleiter hörte und verſtand ſie, aber keine Miene,
kein Blick verrieth eine innere Bewegung.

Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner
ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war,
lüftete er vorſichtig das Tuch, das ſie um ſich ge¬
ſchlungen: „In der That ein Prachtwerk der Schöp¬
ferin. Faſt zu ſchön, um es zu verſchwenden, ſetzte
er hinzu. Und doch, wenn wir es nicht verſchwen¬
deten, nicht mehr werth als eine Mumie in einer
Raritätenſammlung.“

Erſt die Tropfen aus dem letzten Fläſchchen, die
er noch behutſamer anwandte, brachten die Wirkung,
die er beabſichtigt, hervor. Es mußte eine ſehr
ſtarke, gefährliche Eſſenz ſein, denn nur, nachdem er
verdrießlich nach der Uhr und der Sonne geſehen,
und die Schläferin ohne daß ſie erwachte, ſtark am
Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkapſel und
den Stöpſel gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre
Augen, ihr Athmen, ihr Lächeln, bald auch ihre
Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Ner¬
ven, die der Retter nicht beabſichtigt hatte. Sie er¬
hob ſich und ſprach in Extaſe. Es war das ſchöne
Metall der Stimme, das vorhin faſt berauſchend in's
Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0324" n="310"/>
E&#x017F;&#x017F;enzflä&#x017F;chchen aus der Ta&#x017F;che gezogen und tupfte,<lb/>
vor&#x017F;ichtig Tropfen davon auf den Finger gießend,<lb/>
über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre<lb/>
Glo&#x017F;&#x017F;en, es waren keine freundliche. Ein Glück für<lb/>
die Ohnmächtige, daß &#x017F;ie nichts davon hörte. Ihr<lb/>
Begleiter hörte und ver&#x017F;tand &#x017F;ie, aber keine Miene,<lb/>
kein Blick verrieth eine innere Bewegung.</p><lb/>
        <p>Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner<lb/>
ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war,<lb/>
lüftete er vor&#x017F;ichtig das Tuch, das &#x017F;ie um &#x017F;ich ge¬<lb/>
&#x017F;chlungen: &#x201E;In der That ein Prachtwerk der Schöp¬<lb/>
ferin. Fa&#x017F;t zu &#x017F;chön, um es zu ver&#x017F;chwenden, &#x017F;etzte<lb/>
er hinzu. Und doch, wenn wir es nicht ver&#x017F;chwen¬<lb/>
deten, nicht mehr werth als eine Mumie in einer<lb/>
Raritäten&#x017F;ammlung.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Er&#x017F;t die Tropfen aus dem letzten Flä&#x017F;chchen, die<lb/>
er noch behut&#x017F;amer anwandte, brachten die Wirkung,<lb/>
die er beab&#x017F;ichtigt, hervor. Es mußte eine &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;tarke, gefährliche E&#x017F;&#x017F;enz &#x017F;ein, denn nur, nachdem er<lb/>
verdrießlich nach der Uhr und der Sonne ge&#x017F;ehen,<lb/>
und die Schläferin ohne daß &#x017F;ie erwachte, &#x017F;tark am<lb/>
Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkap&#x017F;el und<lb/>
den Stöp&#x017F;el gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre<lb/>
Augen, ihr Athmen, ihr Lächeln, bald auch ihre<lb/>
Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Ner¬<lb/>
ven, die der Retter nicht beab&#x017F;ichtigt hatte. Sie er¬<lb/>
hob &#x017F;ich und &#x017F;prach in Exta&#x017F;e. Es war das &#x017F;chöne<lb/>
Metall der Stimme, das vorhin fa&#x017F;t berau&#x017F;chend in's<lb/>
Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[310/0324] Eſſenzfläſchchen aus der Taſche gezogen und tupfte, vorſichtig Tropfen davon auf den Finger gießend, über ihre Stirn. Die Vorübergehenden machten ihre Gloſſen, es waren keine freundliche. Ein Glück für die Ohnmächtige, daß ſie nichts davon hörte. Ihr Begleiter hörte und verſtand ſie, aber keine Miene, kein Blick verrieth eine innere Bewegung. Er betrachtete die Ohnmächtige wie der Kenner ein Bildwerk. Als das Zimmer zufällig leer war, lüftete er vorſichtig das Tuch, das ſie um ſich ge¬ ſchlungen: „In der That ein Prachtwerk der Schöp¬ ferin. Faſt zu ſchön, um es zu verſchwenden, ſetzte er hinzu. Und doch, wenn wir es nicht verſchwen¬ deten, nicht mehr werth als eine Mumie in einer Raritätenſammlung.“ Erſt die Tropfen aus dem letzten Fläſchchen, die er noch behutſamer anwandte, brachten die Wirkung, die er beabſichtigt, hervor. Es mußte eine ſehr ſtarke, gefährliche Eſſenz ſein, denn nur, nachdem er verdrießlich nach der Uhr und der Sonne geſehen, und die Schläferin ohne daß ſie erwachte, ſtark am Arm gerüttelt, hatte er die doppelte Metallkapſel und den Stöpſel gelüftet. Sie war erwacht, aber ihre Augen, ihr Athmen, ihr Lächeln, bald auch ihre Sprache, zeugten von einer Einwirkung auf die Ner¬ ven, die der Retter nicht beabſichtigt hatte. Sie er¬ hob ſich und ſprach in Extaſe. Es war das ſchöne Metall der Stimme, das vorhin faſt berauſchend in's Ohr der Zuhörer geklungen; aber hier nicht ein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/324
Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/324>, abgerufen am 24.05.2024.