war schon aufgestanden. Sie hatte die Polizei nur auf dem Markt gesehen, oder wenn sie einen Dieb einbrachte, aber sie wußte doch, daß es etwas Schlim¬ mes war, wo die Polizei kam.
"Gott sei Dank, die kam aber erst, als der Herr fort war. Das war noch ein Glück. Aber der Be¬ diente und der andre konnten kaum den Einen fort¬ schleppen, so war er auf die Hüfte gefallen. Hatte sich was gebrochen. Und der arme Herr trägts heute noch --"
Sie verstummte plötzlich. Im Eifer der Erzäh¬ lungslust hatte sie nicht bemerkt, daß der Kammerherr von St. Real im Zimmer stand.
Er verbeugte sich ehrerbietig vor Adelheid: "Ver¬ zeihen Sie, mein Fräulein, wenn ich auf einige Augenblicke die Frau Obristin Ihrer Unterhaltung entziehe. Nur einige dringende Worte --"
Adelheid erklärte, sie wolle nicht stören, sie müsse nach Hause. Warum sie das mußte, wußte sie selbst nicht, aber sie mußte, das war ihr klar. Den eigent¬ lichen Zusammenhang der Geschichte hatte sie nicht gefaßt; ihre Aufmerksamkeit war bei den armen Kin¬ dern haften geblieben, die mit Stricken am Baume hingen. Sie dachte an die unglücklichen Geschöpfe, welche die Seiltänzer ihren Eltern stehlen und die auf immer verloren gehen. Wie herzergreifend hatte das die Frau Obristin im Dorfe erzählt. Es war der Gedanke des Verlorengehens, die Vorstellung, daß ja ein ganz unschuldiger Mensch zufällig in dem
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war ſchon aufgeſtanden. Sie hatte die Polizei nur auf dem Markt geſehen, oder wenn ſie einen Dieb einbrachte, aber ſie wußte doch, daß es etwas Schlim¬ mes war, wo die Polizei kam.
„Gott ſei Dank, die kam aber erſt, als der Herr fort war. Das war noch ein Glück. Aber der Be¬ diente und der andre konnten kaum den Einen fort¬ ſchleppen, ſo war er auf die Hüfte gefallen. Hatte ſich was gebrochen. Und der arme Herr trägts heute noch —“
Sie verſtummte plötzlich. Im Eifer der Erzäh¬ lungsluſt hatte ſie nicht bemerkt, daß der Kammerherr von St. Real im Zimmer ſtand.
Er verbeugte ſich ehrerbietig vor Adelheid: „Ver¬ zeihen Sie, mein Fräulein, wenn ich auf einige Augenblicke die Frau Obriſtin Ihrer Unterhaltung entziehe. Nur einige dringende Worte —“
Adelheid erklärte, ſie wolle nicht ſtören, ſie müſſe nach Hauſe. Warum ſie das mußte, wußte ſie ſelbſt nicht, aber ſie mußte, das war ihr klar. Den eigent¬ lichen Zuſammenhang der Geſchichte hatte ſie nicht gefaßt; ihre Aufmerkſamkeit war bei den armen Kin¬ dern haften geblieben, die mit Stricken am Baume hingen. Sie dachte an die unglücklichen Geſchöpfe, welche die Seiltänzer ihren Eltern ſtehlen und die auf immer verloren gehen. Wie herzergreifend hatte das die Frau Obriſtin im Dorfe erzählt. Es war der Gedanke des Verlorengehens, die Vorſtellung, daß ja ein ganz unſchuldiger Menſch zufällig in dem
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war ſchon aufgeſtanden. Sie hatte die Polizei nur
auf dem Markt geſehen, oder wenn ſie einen Dieb
einbrachte, aber ſie wußte doch, daß es etwas Schlim¬
mes war, wo die Polizei kam.
„Gott ſei Dank, die kam aber erſt, als der Herr
fort war. Das war noch ein Glück. Aber der Be¬
diente und der andre konnten kaum den Einen fort¬
ſchleppen, ſo war er auf die Hüfte gefallen. Hatte
ſich was gebrochen. Und der arme Herr trägts heute
noch —“
Sie verſtummte plötzlich. Im Eifer der Erzäh¬
lungsluſt hatte ſie nicht bemerkt, daß der Kammerherr
von St. Real im Zimmer ſtand.
Er verbeugte ſich ehrerbietig vor Adelheid: „Ver¬
zeihen Sie, mein Fräulein, wenn ich auf einige
Augenblicke die Frau Obriſtin Ihrer Unterhaltung
entziehe. Nur einige dringende Worte —“
Adelheid erklärte, ſie wolle nicht ſtören, ſie müſſe
nach Hauſe. Warum ſie das mußte, wußte ſie ſelbſt
nicht, aber ſie mußte, das war ihr klar. Den eigent¬
lichen Zuſammenhang der Geſchichte hatte ſie nicht
gefaßt; ihre Aufmerkſamkeit war bei den armen Kin¬
dern haften geblieben, die mit Stricken am Baume
hingen. Sie dachte an die unglücklichen Geſchöpfe,
welche die Seiltänzer ihren Eltern ſtehlen und die
auf immer verloren gehen. Wie herzergreifend hatte
das die Frau Obriſtin im Dorfe erzählt. Es war
der Gedanke des Verlorengehens, die Vorſtellung,
daß ja ein ganz unſchuldiger Menſch zufällig in dem
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/305>, abgerufen am 24.11.2024.
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