Bovillard lachte, der Minister glaubte eine Er¬ klärung oder Entschuldigung geben zu müssen. Die Kinder glaubten nur, es den wilden Thieren nachthun zu müssen, wenn ihnen das Fressen vorgeworfen wird; übrigens liebten sie sich als Brüder und wür¬ den nachher schon gerecht theilen.
"Ich lache nicht darüber, mir kam nur eine Scene bei Rietz in den Sinn."
"Bei Rietz," wiederholte der Minister nach¬ sinnend.
Um des Geheimrathes Lippen schwebte ein fau¬ nisches Lächeln: "Excellenz werden sich vielleicht noch der Jenny erinnern. Sie sang uns da die Mar¬ seillaise entzückend schön. Während wir klatschten, rief sie mit einem Mal: ca ira! und mit einem Satz vom Stuhl auf den Tisch. Schenkt ein! rief das delicieuse Wesen, und nur auf einem Zeh schwebend, hob sie das schäumende Glas: Vive la liberte! Ohne einen Tropfen zu vergießen, trank sie's aus. Eine Grazie, wie eine Göttin, wie sie zwischen den Fla¬ schen schwebte, das leichte Mousselinkleid in antiken Falten, der Rosazephyr um ihren Nacken, und ihr Teint von der Freude, vom Wein angeröthet. So tanzte sie, nein es war kein Tanz, es war doch ein Hinsäuseln der ätherischen Freude über die Tafel. Kein Glas fiel um. Die ganze Gesellschaft außer sich, wir mußten ihre Füße küssen." Der Minister hatte unwillkührlich den Kopf gesenkt. Bovillard fuhr fort: "Einer unserer verehrten Freunde, erinnere ich mich
Bovillard lachte, der Miniſter glaubte eine Er¬ klärung oder Entſchuldigung geben zu müſſen. Die Kinder glaubten nur, es den wilden Thieren nachthun zu müſſen, wenn ihnen das Freſſen vorgeworfen wird; übrigens liebten ſie ſich als Brüder und wür¬ den nachher ſchon gerecht theilen.
„Ich lache nicht darüber, mir kam nur eine Scene bei Rietz in den Sinn.“
„Bei Rietz,“ wiederholte der Miniſter nach¬ ſinnend.
Um des Geheimrathes Lippen ſchwebte ein fau¬ niſches Lächeln: „Excellenz werden ſich vielleicht noch der Jenny erinnern. Sie ſang uns da die Mar¬ ſeillaiſe entzückend ſchön. Während wir klatſchten, rief ſie mit einem Mal: ça ira! und mit einem Satz vom Stuhl auf den Tiſch. Schenkt ein! rief das delicieuſe Weſen, und nur auf einem Zeh ſchwebend, hob ſie das ſchäumende Glas: Vive la liberté! Ohne einen Tropfen zu vergießen, trank ſie's aus. Eine Grazie, wie eine Göttin, wie ſie zwiſchen den Fla¬ ſchen ſchwebte, das leichte Mouſſelinkleid in antiken Falten, der Roſazephyr um ihren Nacken, und ihr Teint von der Freude, vom Wein angeröthet. So tanzte ſie, nein es war kein Tanz, es war doch ein Hinſäuſeln der ätheriſchen Freude über die Tafel. Kein Glas fiel um. Die ganze Geſellſchaft außer ſich, wir mußten ihre Füße küſſen.“ Der Miniſter hatte unwillkührlich den Kopf geſenkt. Bovillard fuhr fort: „Einer unſerer verehrten Freunde, erinnere ich mich
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Bovillard lachte, der Miniſter glaubte eine Er¬
klärung oder Entſchuldigung geben zu müſſen. Die
Kinder glaubten nur, es den wilden Thieren nachthun
zu müſſen, wenn ihnen das Freſſen vorgeworfen
wird; übrigens liebten ſie ſich als Brüder und wür¬
den nachher ſchon gerecht theilen.
„Ich lache nicht darüber, mir kam nur eine
Scene bei Rietz in den Sinn.“
„Bei Rietz,“ wiederholte der Miniſter nach¬
ſinnend.
Um des Geheimrathes Lippen ſchwebte ein fau¬
niſches Lächeln: „Excellenz werden ſich vielleicht noch
der Jenny erinnern. Sie ſang uns da die Mar¬
ſeillaiſe entzückend ſchön. Während wir klatſchten,
rief ſie mit einem Mal: ça ira! und mit einem Satz
vom Stuhl auf den Tiſch. Schenkt ein! rief das
delicieuſe Weſen, und nur auf einem Zeh ſchwebend,
hob ſie das ſchäumende Glas: Vive la liberté! Ohne
einen Tropfen zu vergießen, trank ſie's aus. Eine
Grazie, wie eine Göttin, wie ſie zwiſchen den Fla¬
ſchen ſchwebte, das leichte Mouſſelinkleid in antiken
Falten, der Roſazephyr um ihren Nacken, und ihr
Teint von der Freude, vom Wein angeröthet. So
tanzte ſie, nein es war kein Tanz, es war doch ein
Hinſäuſeln der ätheriſchen Freude über die Tafel.
Kein Glas fiel um. Die ganze Geſellſchaft außer
ſich, wir mußten ihre Füße küſſen.“ Der Miniſter
hatte unwillkührlich den Kopf geſenkt. Bovillard fuhr
fort: „Einer unſerer verehrten Freunde, erinnere ich mich
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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 1. Berlin, 1852, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe01_1852/251>, abgerufen am 24.11.2024.
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