Erspare mir, lieber Freund, die schmerzliche Wiederholung alles dessen, was ich erdulden muß- te. Die Frauen bezeugten oft das tiefste Mit- leid, das ich ihnen einflößte; Aeußerungen, die mir die Seele nicht minder durchbohrten, als der Hohn der Jugend und die hochmüthige Verach- tung der Männer, besonders solcher dicken, wohl- beleibten, die selbst einen breiten Schatten war- fen. Ein schönes, holdes Mädchen, die, wie es schien, ihre Eltern begleitete, indem diese bedäch- tig nur vor ihre Füße sahen, wandte von unge- fähr ihr leuchtendes Auge auf mich; sie erschrak sichtbarlich, da sie meine Schattenlosigkeit bemerk- te, verhüllte ihr schönes Antlitz in ihren Schleier, ließ den Kopf sinken, und ging lautlos vorüber.
Ich ertrug es länger nicht. Salzige Ströme brachen aus meinen Augen, und mit durchschnit- tenem Herzen zog ich mich schwankend in's Dun- kel zurück. Ich mußte mich an den Häusern hal- ten, um meine Schritte zu sichern, und erreichte langsam und spät meine Wohnung.
Ich brachte die Nacht schlaflos zu. Am an- dern Tage war meine erste Sorge, nach dem
Erſpare mir, lieber Freund, die ſchmerzliche Wiederholung alles deſſen, was ich erdulden muß- te. Die Frauen bezeugten oft das tiefſte Mit- leid, das ich ihnen einflößte; Aeußerungen, die mir die Seele nicht minder durchbohrten, als der Hohn der Jugend und die hochmüthige Verach- tung der Männer, beſonders ſolcher dicken, wohl- beleibten, die ſelbſt einen breiten Schatten war- fen. Ein ſchönes, holdes Mädchen, die, wie es ſchien, ihre Eltern begleitete, indem dieſe bedäch- tig nur vor ihre Füße ſahen, wandte von unge- fähr ihr leuchtendes Auge auf mich; ſie erſchrak ſichtbarlich, da ſie meine Schattenloſigkeit bemerk- te, verhüllte ihr ſchönes Antlitz in ihren Schleier, ließ den Kopf ſinken, und ging lautlos vorüber.
Ich ertrug es länger nicht. Salzige Ströme brachen aus meinen Augen, und mit durchſchnit- tenem Herzen zog ich mich ſchwankend in’s Dun- kel zurück. Ich mußte mich an den Häuſern hal- ten, um meine Schritte zu ſichern, und erreichte langſam und ſpät meine Wohnung.
Ich brachte die Nacht ſchlaflos zu. Am an- dern Tage war meine erſte Sorge, nach dem
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Erſpare mir, lieber Freund, die ſchmerzliche
Wiederholung alles deſſen, was ich erdulden muß-
te. Die Frauen bezeugten oft das tiefſte Mit-
leid, das ich ihnen einflößte; Aeußerungen, die
mir die Seele nicht minder durchbohrten, als der
Hohn der Jugend und die hochmüthige Verach-
tung der Männer, beſonders ſolcher dicken, wohl-
beleibten, die ſelbſt einen breiten Schatten war-
fen. Ein ſchönes, holdes Mädchen, die, wie es
ſchien, ihre Eltern begleitete, indem dieſe bedäch-
tig nur vor ihre Füße ſahen, wandte von unge-
fähr ihr leuchtendes Auge auf mich; ſie erſchrak
ſichtbarlich, da ſie meine Schattenloſigkeit bemerk-
te, verhüllte ihr ſchönes Antlitz in ihren Schleier,
ließ den Kopf ſinken, und ging lautlos vorüber.
Ich ertrug es länger nicht. Salzige Ströme
brachen aus meinen Augen, und mit durchſchnit-
tenem Herzen zog ich mich ſchwankend in’s Dun-
kel zurück. Ich mußte mich an den Häuſern hal-
ten, um meine Schritte zu ſichern, und erreichte
langſam und ſpät meine Wohnung.
Ich brachte die Nacht ſchlaflos zu. Am an-
dern Tage war meine erſte Sorge, nach dem
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Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg, 1835, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/19_ZZ_2755/47>, abgerufen am 05.12.2023.
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